BERLIN. (hpd) Vergangene Woche war in Berlin eine Bundespressekonferenz, zu der die Deutsche Kinderhilfe eingeladen hatte. Vertreter verschiedener Organisationen, die sich gegen die Zwangsbeschneidung engagieren, waren geladen. Der hpd interviewte einen von ihnen: Eran Sadeh, Rechtsanwalt und Gründer von Protect the Child, Israel.
hpd: Sie haben uns von der Bewegung gegen die Zwangsbeschneidung in Israel erzählt und wie es dazu kam, dass Sie sich diesbezüglich engagieren. Sie erzählten, dass etwa 97 Prozent ihre Söhne noch beschneiden lassen?
Eran Sadeh: Es gibt keine offiziellen Statistiken über die Anzahl der Menschen, die beschneiden und die Anzahl derer, die nicht beschneiden. Die Beschneidung ist jedoch die Norm in Israel, keine Frage. Aber die Anzahl der Menschen, die die Informationen wahrnehmen über die Schäden, die Verletzung, die Komplikationen und die Schmerzen, die legalen Aspekte und die ethischen Aspekte – die Anzahl wächst zusehends. Die Bewegung, Beschneidung zu beenden, ist global, und viele Organisationen weltweit, einschließlich jüdischer Organisationen, verbreiten die Informationen, wie auch die Notwendigkeit, die Praxis vom Körperlichen zum Spirituellen zu verändern. Solange man nichts über Beschneidung weiß, ist alles in Ordnung. Man sagt, Unwissenheit sei Seligkeit. Wenn aber Menschen einmal darüber informiert sind, ist es viel schwieriger, einfach zu beschneiden. Leider sagen mir Menschen häufig: „Ich will nicht wissen!“
Wenn offizielle Vereinigungen wie die Regierung, wie Gesundheitsvereinigungen, Informationen bereitstellen, werden Menschen wissen und sie werden der Information nicht entfliehen können, sie werden nicht sagen können: „Oh, Sie sind nicht objektiv, Sie sind extremistisch“, oder etwas Ähnliches. Also möchte ich, dass die offizielle Sicht der Regierung dazu sehr klar ist. Dass diese Praxis schädlich ist, dass sie schmerzt, riskant, unethisch und unmoralisch ist. Wenn es solch eine offizielle Stellungnahme gibt, dann werden Menschen der Information nicht entfliehen und noch sagen können: „Ich weiß nicht, ich will nicht wissen.“
hpd: Und kooperieren Sie mit der Regierung oder mit Regierungsvertretern?
Sadeh: Ich versuche, an sie heranzukommen, bislang glücklos. Aber es ist ein laufender Prozess, den ich fortsetzen werde, bis ich die mutige Person oder Vereinigung finde, die gegen die Beschneidung in Israel Stellung bezieht. Bisher habe ich noch keine positive Resonanz, weil Vereinigungen in Israel, die sich für Menschenrechte und Kinderrechte einsetzen, religiöse Vertreter in ihren Vorständen haben und es sich mit denen nicht verderben wollen. Weil sie wissen, es ist ein sensibles Thema. Und im Moment wird auf der offiziellen Ebene nichts getan. Ich werde weiterhin an Gesundheitsbehörden und juristische Experten herantreten und ich glaube fest daran, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis die soziale Norm sich umkehrt. So dass Menschen, die noch beschneiden, den gesellschaftlichen Druck spüren werden, weil sie das Falsche tun, das Unmoralische, sie werden unter Druck stehen, es nicht zu tun – da will ich hin, das ist mein Ziel, diesen Punkt zu erreichen, an dem die soziale Norm sich umkehrt.
hpd: Haben Sie Politiker an Ihrer Seite? Oder politische Parteien?
Sadeh: Nein. Politiker und Parteien sind nicht daran interessiert, ihre diesbezügliche Meinung zu äußern. Das Hauptproblem besteht darin, dass die Kinder und Säuglinge nicht wählen. Die politischen Parteien erhalten keine Anerkennung von Säuglingen und Kindern, wenn sie diese schützen. Also haben sie nicht genügend Motivation, sich gegen diese Praxis einzusetzen. Aber ich bin ein Säugling, der erwachsen wurde, und ich kann für mich selbst sprechen und sagen, dass mir wehgetan wurde, und es gibt viele andere, denen es ergeht wie mir. Je mehr Stimmen wie die meine gehört werden, desto weniger werden sie in der Lage sein, uns zu ignorieren und zu sagen: „Das passiert nicht“. Es passiert, und 200 Säuglinge werden täglich in Israel beschnitten, das sind viele. Zehntausende Säuglinge jedes Jahr. Das kann nicht sein, es kann so nicht weitergehen, als wäre es nie passiert. Es passiert und es muss aufhören. Durch Bildung, durch Information.
hpd: Gibt es andere Organisationen wie die Ihre in Israel?
Sadeh: Es gibt eine Organisation namens Ben Shalem, was intakter Junge bedeutet. Diese Organisation stellte vor 12 oder 13 Jahren einen Antrag an den Hohen Gerichtshof in Israel, der abgewiesen wurde. Der Antrag enthielt sämtliche Argumente für das Recht des Kindes, aber das Gericht ging nicht einmal auf die Argumente ein, wies den Antrag einfach ab, ohne Umschweife. Ich denke, die israelische Öffentlichkeit sollte für diese Art des juristischen Vorgehens bereit sein, bevor ein Antrag eingereicht wird. Ich denke, es muss noch Arbeit geleistet werden, um die öffentliche Meinung zu diesem Thema zu ändern. Ich meine nicht 100 Prozent, ich denke, wenn man einmal den Punkt erreicht hat, an dem 20 oder 30 Prozent gegen Beschneidung sind, wird das eine gute Zeit sein, juristisch vorzugehen und erneut an das Gericht zu appellieren, sich mit dieser Praxis zu befassen.
hpd: Kooperieren Sie mit Organisationen in anderen Ländern, wie etwa in den USA oder Großbritannien?
Sadeh: Ich habe diesbezügliche Kontakte über E-Mail, das Internet und facebook. Unlängst hat die AAP, die American Academy of Pediatrics (Amerikanische Pädiatrische Akademie) einen Standpunkt veröffentlicht, der ungeheuerlich war und die Tatsache ignorierte, dass die Vorhaut ein gesunder Körperteil ist, der amputiert wird. Sie berücksichtigten weder die Menschenrechte des Kindes, noch die ethischen Probleme, diese erfuhren überhaupt keine Berücksichtigung. Dieses Papier der AAP diente als „Bindezement“ der gesamten Bewegung gegen deren Standpunkt. Als das Papier veröffentlicht wurde, bildeten Tausende von Menschen eine Gruppe, um online zu protestieren. Wir fotografierten unsere Hände mit „AAP“ auf der einen Handfläche und „No Ethics“ auf der anderen Handfläche, uploadeten Tausende dieser Fotos und machten daraus einen Internet-Film als Protest gegen den AAP-Bericht. Also auf der ganzen Welt, nicht nur in den USA, auch in Israel und in jedem Land, in dem die Beschneidung durchgeführt wird, gibt es Menschen, die sich zusammentun, um dagegen vorzugehen. Diese Bewegung ist unaufhaltsam.
hpd: Wie schätzen Sie die gegenwärtige Situation in Deutschland ein?
Sadeh: Ich hoffe sehr, dass die Petition der Kinderhilfe, die Gesetzgebung zu verschieben, angenommen wird. Denn jedes Gesetz, das Beschneidung erlaubt, ob durch Ärzte oder Mohelim, steht im Widerspruch zur Verfassung. Die Verfassung schützt die Menschenrechte des Kindes auf körperliche Unversehrtheit sowie vor dem Gesetz gleichermaßen geschützt zu werden. Man kann nicht christliche Kinder oder Mädchen schützen, jüdische oder muslimische Kinder aber nicht. Als Land hat man eine juristische und ethische Pflicht, alle Kinder gleichermaßen zu schützen. Und wenn man jüdische Kinder und muslimische Kinder nicht schützt, handelt man verfassungswidrig. Also wäre es verfassungswidrig, wenn der Bundestag ein solches Gesetz verabschieden würde. Ich glaube fest daran, dass eine Gesetzgebung in diesem Geiste, die die Beschneidung erlauben würde, bis zu einem Zeitpunkt verschoben werden sollte, an dem eine juristische, eine medizinische und eine öffentliche Debatte gründlich durchgeführt wurde und jede Auswirkung bekannt ist. Was der Kölner Richter sagte, war simple Logik: Religionsfreiheit gibt Eltern nicht das Recht, Verletzungen oder Schmerzen zuzufügen oder ihre Kinder einem Risiko auszusetzen. Religionsfreiheit ist ein Recht, aber kein absolutes. Wenn man anfängt, seine Religionsfreiheit zu benutzen, um andere zu verletzen, sollte man gestoppt werden.
hpd: Pro-Kinderrechte in Deutschland sagt, auch Kinder haben Religionsfreiheit.
Sadeh: Genau, wenn man einmal einen Jungen gebrandmarkt hat wie man eine Kuh brandmarkt und sagt, er ist jüdisch, er ist muslimisch, und man einen Teil seines Körpers wegnimmt, um ihn zu brandmarken, dann verhindert man, dass er aufwächst, um der zu sein, der er gerne wäre. Ich bin jetzt jüdisch und ein Israeli, aber ich glaube nicht an Gott und ich glaube nicht, dass mein Körper hätte verletzt und ein Teil meines Penis amputiert werden sollen. Niemand hat mich gefragt. Niemand hat mich damals gefragt und ich kann es nicht rückgängig machen. Das ist der Punkt, dies ist mein Körper, es sollte meine Wahl sein, ob ich meinen Penis beschneide oder nicht. Es ist mein Körper und der sollte mir und nur mir überlassen bleiben.
hpd: Meinen Sie, dass Israel Deutschland im Moment beobachtet?
Sadeh: Ich hoffe sehr, dass die Medien in Israel über diese Pressekonferenz berichten.
hpd: Ob das Gesetz verabschiedet wird oder nicht, es wird in Deutschland eine Diskussion geben – was, glauben Sie, wird in Israel passieren?
Sadeh: Ich kam hierher, damit auch die Menschen in Israel die andere Seite hören. Die Menschen in Israel hören nur eine Seite. Selbst Shimon Perez, der Humanist und Gelehrter und ein sehr weiser Mann ist, selbst er betont in seinen Stellungnahmen nur die Religionsfreiheit als ein Recht der Juden. Selbst er erwähnt nicht den Konflikt zwischen der Religionsfreiheit und den Rechten des Kindes. Also kam ich hierher, um auch dieser Stimme Gehör zu verschaffen. Es gibt einen Konflikt. Man kann nicht Religionsfreiheit sagen und einfach ignorieren, dass es einen anderen Teil der Gleichung gibt. Ich will, dass Menschen in Israel das hören und diesen Konflikt wahrnehmen. Weil die Leute nur hören, dass Deutschland in jüdisches Recht eingreifen will. Aber man muss das Urteil des Kölner Richters hören und das Argument verstehen. Man kann das Argument nicht ignorieren, als sei es nicht da. Als hätte jemand Verrücktes gesagt: „Ah! Ich will in das jüdische Leben in Deutschland eingreifen!“ So ist es überhaupt nicht.
hpd: Ja, es geht um Kinderrechte. - Gibt es etwas, das Sie noch gern mitteilen möchten?
Sadeh: Ich denke, unterm Strich geht es darum: Es ist mein Körper, es sollte meine Wahl sein. Das ist es: Mein Körper, meine Wahl.
hpd: Danke sehr!
Die Fragen stellte Fiona Lorenz; Übersetzung: Fiona Lorenz
Das Interview im Original (pdf)