Ein Jahr nach dem Urteil

stand_auf_hum_tag.jpg

Stefan Schritt von MOGIS e.V. beim Humanistentag / Foto: Frank Nicolai

KÖLN. (hpd) Am Jahrestag des Urteils des Kölner Landgerichts zur Beschneidung von Jungen findet in Köln am 7. Mai eine Demonstration statt unter dem Motto: Schutz aller Kinder weltweit vor jeglicher Verletzung ihrer körperlichen und sexuelle Integrität! Auf den 7. Mai ist auch ein „Welttag der genitalen Selbstbestimmung“ ausgerufen worden.

Initiator der Aktion ist der Facharbeitskreis Beschneidungsbetroffener im MOGIS e.V. - dem Aufruf haben sich eine Reihe von Organisationen angeschlossen. Sprechen werden auf der vorgesehenen Kundgebung u.a.: Betroffene Männer, Dr. Wolfram Hartmann (Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte e.V – BVKJ) und Irmingard Schewe-Gerigk (Vorstandsvorsitzende von TERRE DES FEMMES)

Der hpd sprach mit Victor Schiering, Koordinator des Facharbeitskreises Beschneidungsbetroffener im MOGIS e.V., über die geplante Aktion.

 

Worum geht beim „Welttag der genitalen Selbstbestimmung“ und wer hat ihn ausgerufen?

Diese Veranstaltung basiert auf einer Idee des Facharbeitskreises Beschneidungsbetroffener im MOGiS e.V. und findet dieses Jahr erstmalig statt. Aus vielen Ländern, wie zum Beispiel den USA, Israel oder auch Australien, erreichen uns Zustimmung und Unterstützung. Das finden wir sehr erfreulich, denn unser Einsatz gilt dem Schutz aller Kinder weltweit vor jeglichen nicht- therapeutischen Eingriffen in ihre körperliche und sexuelle Integrität – unabhängig von Geschlecht, Herkunft und Religion.

 

Wer organisiert sich im Facharbeitskreis Beschneidungsbetroffener und welche Ziele werden verfolgt?

Bei uns organisieren sich Männer, die von ihrer im Kindesalter aufgezwungenen Vorhautamputation negativ betroffen sind und immer noch unter den Folgen dieser Maßnahme leiden. Unser Ziel ist der Schutz des Kindes vor dem, was wir selbst in unterschiedlicher Form erlebt haben, und unser Weg dahin sind Aufklärung und Einflussnahme auf politische Entscheidungsprozesse.

 

Sie rufen zu einer Demonstration in Köln am 7. Mai auf. Warum gerade Köln und warum dieser Termin mitten in der Woche?

Am 7. Mai des vergangenen Jahres bewertete das Kölner Landgericht eine medizinisch nicht indizierte Vorhautamputation an einem Jungen als eine Straftat. Vorausgegangen war ein Fall mit schweren Komplikationen nach einer von einem Arzt nach den Regeln der ärztlichen Kunst vollzogenen Beschneidung. Dieses Urteil erweitert das bestehende Recht aller Kinder auf gewaltfreie Erziehung erstmals auch auf die genitale Integrität von Jungen. Das Urteil war ein wichtiges Signal, nichttherapeutische Vorhautamputationen endlich als das zu sehen, was sie sind: ein schwerer Verstoß gegen das Selbstbestimmungsrecht des Kindes und gegen dessen Recht auf körperliche Unversehrtheit.

Es liegt auf der Hand, diesen Tag an dem Ort zu begehen, an dem die Stärkung der Kinderrechte einen so entscheidenden Impuls erfuhr.

 

Was erwarten Sie von der geplanten Aktion in Köln?

Vor allen Dingen Aufklärung. Viele Menschen wissen noch immer zu wenig über Genitalverstümmelungen - sie waren ja auch seit jeher der Propaganda ausgesetzt, zumindest bei Jungen seien diese harmlos und vor allem folgenlos. Wir wollen erreichen, dass die Menschen erfahren, was negativ von Genitalverstümmelungen betroffene Frauen und Männer berichten.

Außerdem wollen wir mit Hilfe der beteiligten Organisationen den aktuellen medizinisch-wissenschaftlichen Wissensstand öffentlicher machen.

 

Hat sich das Thema Knabenbeschneidungen durch das Gesetz zur Legalisierung von Beschneidungen im Dezember letzten Jahres nicht erledigt? Aus der öffentlichen Debatte jedenfalls ist es verschwunden.

Ihre Einschätzung können wir nicht bestätigen. 70 Prozent der Bevölkerung lehnen die am 12.12.12 beschlossene Legalisierung von Vorhautamputationen an Jungen ab. Am 7. Mai werden FrauenrechtlerInnen neben KinderrechtlerInnen, Kinder- und JugendärztInnen mit HumanistInnen, konfessionellen und nichtkonfessionellen Menschen gemeinsam für die Umsetzung von Kinderrechten demonstrieren. Nachdem eine offene Debatte im letzten Jahr von Seiten der Politik und Teilen der Medien behindert wurde, hat sie eigentlich erst jetzt richtig begonnen.

 

Im letzten Jahr haben erstmals beschnittene Männer gewagt, sich in der Öffentlichkeit zu outen – war der große Mut, den diese Betroffenen aufgebracht haben, umsonst?

Das Kölner Urteil steht dafür, das Leiden von Kindern durch Genitalverstümmelungen und mögliche Spätfolgen nicht länger zu bagatellisieren. Es stellte eindeutig das betroffene Kind in den Mittelpunkt - und nicht mögliche Interessen seiner Eltern.

In der Tat wagen immer mehr Männer, über ihr Leiden und die zum Teil verdrängten und traumatischen Erinnerungen zu sprechen. Neue Publikationen beispielsweise des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte und pro familia NRW tragen entscheidend zur Entwicklung des Problembewusstseins für dieses Thema bei. Diese Entwicklung ist unseres Erachtens nicht aufzuhalten.

 

Welche Entwicklungen gibt es bei der Organisierung Betroffener?

Die Protestbewegungen vermelden weltweit Zulauf. Besonders in den USA wehren sich zunehmend Menschen gegen absurde Behauptungen, die operative Reduktion von Genitalien habe gesundheitliche Vorteile. Die Raten von bis in die achtziger Jahre selten hinterfragten Babybeschneidungen gehen dort deutlich zurück. Hinzu kommen Berichte über handfeste finanzielle Interessen von Industriezweigen an Säuglingsbeschneidungen ("Vorhautspenden").

 

Dennoch sind es angesichts Milliarden beschnittener Männer noch immer wenige, die öffentlich protestieren.

Das ist in Anbetracht der noch immer weit verbreiteten Verharmlosung und Tabuisierung der Folgen von männlicher Genitalverstümmelung nur zu verständlich. In den USA benutzen immer mehr Männer käuflich zu erwerbende Apparaturen, die beim Er-Dehnen einer „neuen“ Vorhaut behilflich sind. Dieser mühevolle Prozess dauert Jahre, kann aber zumindest einen Teil der Folgen einer Vorhautamputation rückgängig machen. Seit letztem Sommer vermelden amerikanische Hersteller eine deutlich gestiegene Nachfrage dieser Geräte aus Deutschland. Diesen „stillen“ Protest finden wir mindestens so beachtenswert wie den öffentlichen.

Seit der Gesetzesverabschiedung ist aus den im Bundestag vertretenen Parteien zum Thema gar nichts mehr zu hören. Was erwarten Sie von MOGiS e.V. von den Parteien in dieser Angelegenheit?

Dass die Politiker handeln – schließlich geht es um Grundrechte von Kindern.

Für höchst bedenklich halten wir, dass den BefürworterInnen als einzige wissenschaftliche Quelle zur Rechtfertigung einer Legalisierung von Vorhautamputationen nur die amerikanische Kinderarztorganisation American Academy of Pediatrics blieb, die allen Ernstes noch 2010 die Legalisierung einer „milden“ Form weiblicher Genitalverstümmelung diskutieren wollte.

Das momentan gültige Gesetz widerspricht vielen modernen wissenschaftlichen, menschenrechtlichen und ethischen Erkenntnissen und Bedenken.

Und ein Faktum ist doch, dass bei rituellen Beschneidungen zuweilen nicht einmal die windelweichen Vorgaben des Gesetzes eingehalten zu werden scheinen.

Wir werben für eine Neuauflage des Gesetzesverfahrens - diesmal unter Berücksichtigung aller Interessen. Rund hundert Abgeordnete haben am 12.Dezember letzten Jahres gegen die Legalisierung nichttherapeutischer chirurgischer Eingriffe an den Genitalien von Jungen gestimmt. Wir unterstützen sie darin, dieses Thema immer wieder aufzugreifen.

Zusätzlich befürworten wir die aktuelle Initiative zur Verschärfung des Strafrechts gegen alle Formen weiblicher Genitalverstümmelung. Menschenrechte sind für uns unteilbar.

 

Das Interview mit Victor Schiering führte Walter Otte.

weiterführende Links:

Zirkumpendium

Genitale Selbstbestimmung