Madagaskar – Schatzkammer der Evolution

(hpd) Noch vor hundert Jahren lebten auf Madagaskar Lemuren so riesig wie Gorillas. Erst in diesem Jahrtausend entdeckt wurden die Madame Berthe´s Mausmakis, nicht größer als ein Daumen jener mächtigen Primaten. Nicht nur die Hominiden, auch die Lemuren rücken immer mehr ins Interesse der Verhaltensökologie. Lennart Pyritz hat sie über fünf Jahre auf der afrikanischen Insel erforscht.

Über 600 neue Pflanzen- und Tierarten wurden auf Madagaskar in den letzten zwölf Jahren entdeckt, darunter 28 Lemurenarten. Die seltsame Fächerpalme, die mächtige Blütenstände entwickelt, und das nur einmal in ihrem Leben, und dann stirbt, gibt es, soweit man weiß, nur in drei Exemplaren. Vor tausend Jahren starb der Elefantenvogel, gigantischer als ein Strauß, aus – durch Menschenhand.

Einst bildete Madagaskar das Zentrum des Superkontinents Gondwanaland, vor mehr als 160 Millionen Jahren trennte es sich von Afrika, vor 60 Millionen Jahren von Indien, seither ist es quasi ein Miniaturkontinent. Die Vangas sind gleichsam die Darwinfinken der Insel. 14 Vangaarten passten sich an je eigene ganz spezifische Umweltbedingungen an. Unter den Angehörigen der Inselfauna gibt es Alteingesessene und mit den Fluten auf treibenden Pflanzen Zugewanderte. Auf Madagaskar fand man die ältesten Überreste der modernen Säugetiere. Zu den Nachfahren der Angedrifteten gehören alle bis heute bekannten Lemuren der Insel. Sie müssen sich aus wenigen Individuen einer eher kleinen Art entwickelt haben.

Kein Wunder, dass Madagaskar ein Paradies für Biologen ist. Über dieses – überaus gefährdete - Drehkreuz der Evolution  erzählt der junge Primatenforscher in dem Werk „Madagaskar. Von Makis und Menschen“ in Form eines Tagebuchs, in dem auch deutlich wird, wie gefährdet dieses Refugium ist. Er hielt sich von 2008 bis 2011 zu mehrmonatigen Forschungskampagnen dort auf.

Pyritz erlebte die Folgen eines Regierungsputsches mit, durch den nach mehreren Linksregierungen der pragmatische Marc Ravalomanana gestürzt wurde, und wie wegen bis heute anhaltender Wirren und  undemokratischer Zustände nach Einfrieren der internationalen Unterstützung die verarmende Bevölkerung wieder zunehmend ihre eigenen natürlichen Ressourcen plündert. In Gefahr sind vor allem die Rosenholzwälder, zusammen mit ihren tierischen und pflanzlichen Bewohnern. Und  dies nachdem sich ohnehin schon in den letzten zwei Jahrzehnten die Bevölkerung der Insel verdoppelt hat und der Urwaldbestand halbiert. Das Holz geht zur Weiterverarbeitung zu Konsumgütern für Europa nach Asien. Aber nicht nur. Selbst in den Städten kochen 90 Prozent noch mit Feuerholz, und dies gern mit Edelhölzern, denn die entwickeln weniger Rauch.

Wie und auch unter welchen Bedingungen biologische Feldarbeit heute vor sich geht, das erfährt man bei der Lektüre des Buches sehr anschaulich: Wie die Forscher ihre wissenschaftlichen Fragen entwickeln und zu beantworten suchen. Wie sie gegen die Wilderer kaum ankommen. Standen früher die Hominiden im Zentrum des Interesses der Verhaltensforscher und widmete man sich dann auch Berberaffen und Pavianen und höchstens ein paar ganz Verwegene den überaus schlauen Kapuzineräffchen in der Neuen Welt, so ist das Verhalten der Lemuren, der Halbaffen, ein relativ neuer Forschungsgegenstand. Peter Kappeler, von der Abteilung für Verhaltensökonomie des Göttinger Primatenforschungszentrums, leitet zu diesem Zweck eine Forschungsstation in Madagaskar. Lennart Pyritzs eigenes Forschungsinteresse galt dort der Koordination von Gruppenbewegungen unter den Rotstirnmakis.

Offenbar wird, dass das Verhalten der Lemuren genauso differenziert ist wie das der bereits länger untersuchten Primatenarten. Wir bekommen also immer mehr nahe Verwandte. Oder anders gesagt: Die fernen Verwandten sind gar nicht so fern. Wer hätte gedacht, dass unter der Lemuren mehr Arten in fester Paarbindung leben als unter den übrigen Affen - und warum. Weder die Urwälder noch die halbtrockenen Wälder der Westküste, dort, wo Pyritz forschte, sind so nahrungsreich wie es scheint. Innerhalb der meist von weniger Weibchen als Männchen gebildeten Tiergruppen herrscht deshalb oft gnadenlose Konkurrenz der Weibchen. Gleichzeitig beobachtet man bei ihnen eine physiologische Vermännlichug und ihre Dominanz über die Männchen. Selbst die Jüngste dominiert in der Gruppe über jedes Männchen. Liegt in der Summe dieser Konstanten die Ursache der Paarbindung? Manches lässt, so Peter Kappeler in einem der flankierenden Essays von Spezialisten über Fauna Flora und Politik und Kultur der Insel, immerhin mögliche Schlüsse auf menschliches Verhalten zu: „Typische Geschlechterrollen sind kein unvermeidliches Produkt der Evolution.“

Aufgrund der Sprache schied man immer wieder das Vermögen des menschlichen Geistes von den mentalen Fähigkeiten der Tiere. Sprache heißt in Form von Lauten Symbole schaffen für unterschiedliche Klassen von Ereignissen, die umgekehrt von Artgenossen wieder entsprechenden Ereignissen ihrer Wahrnehmung zugeordnet werden. Diese Fähigkeit wiesen Dorothy Cheny und Robert Seyfarth in den Neunzigern schon bei den Meerkatzen nach. Aber auch Makis, die Sifakas, bekannt geworden durch ihre Eigenart, am Boden auf den Hinterbeinen weit springend, aufrecht wie ein Mensch den Abstand zwischen den Bäumen zu überwinden, können das. Sie verfügen über unterschiedliche Signale für Gefahren durch Raubvögel, Schlangen oder Fossas, eine endemische Mungoart von der Gestalt eines kurzbeinigen Pumas. Die Laute selbst sind angeboren, doch wann sie einzusetzen sind und wie sich dann zu verhalten ist, müssen die Jungtiere erst lernen. Und kommt einer der drei Fressfeinde nicht vor, disponieren sie um. Der Bodenalarm wird dann auch bei Raubvögeln eingesetzt. Diese Verhaltensvariante geben sie fortan lokal von Generation zu Generation weiter. Sie verfügen also über eine rudimentäre Form von Kultur!

Auch auf eine weitere Frage, die sich schon mancher gestellt haben wird, geht das Buch ein. Warum werden heute so atemberaubend viele Arten neu entdeckt? Im Fall Madagaskars hängt das damit zusammen, dass die systematische Erforschung der Insel noch relativ jung ist. Damit jedoch nicht allein. Die Genanalyse erlaubt vorher unsichtbare Differenzierungen. Die Diskussion, ob die in jedem Fall gerechtfertigt sind, wird durchaus angesprochen. Wenn Individuengruppen sich genetisch unterscheiden, in unterschiedlichen Regionen vorkommen, aber sich mühelos untereinander verpaaren, wenn die Lebensräume sich überschneiden, sind dann diese Differenzierungen in der Nomenklatura  noch sinnvoll?

So erlaubt das Buch einen tiefen Einblick in wissenschaftliche Fragestellungen. Daheimgebliebene oder diejenigen, die eine Reise nach Madagaskar planen oder bis jetzt noch nur von ihr träumen, können sich aber auch dank der Beobachtungsgabe des Autors, seinem Witz und seinem Blick für die alltäglichen Freuden und Malheurs an einem spannenden und durchaus literarischen sommerlichen Leseabenteuer freuen.

Simone Guski

Lennart Pyritz: „Madagaskar. Von Makis und Menschen.“ Springer Spektrum Verlag, Heidelberg 2013, 153 S., 96 Farbfotografien, 39,95 Euro.