Der echte Jesus

(hpd) Gerd Lüdemann, evangelischer Theologe und Professor für Geschichte und Literatur des frühen Christentums, lehrte und forschte bis 2011 an der Universität Göttingen. Bis 1999 hatte er dort den Lehrstuhl für Neues Testament inne, den er allerdings auf Betreiben der Evangelischen Kirche verlor.

Im Rahmen seiner Forschungen war Lüdemann zu dem Ergebnis gekommen, dass nur etwa fünf Prozent der Jesus zugeschriebenen Taten und Worte tatsächlich ihm zuzuordnen seien, alle anderen Texte von ihm bzw. über ihn seien Erfindungen und Fälschungen. Zu den später erdachten und von Jesus handelnden Texten gehören vor allem jene, die die leibliche Auferstehung dokumentieren, seine Rolle als Erlöser der Menschheit, zur Bedeutung des Abendmahls, überhaupt alle Texte, die die göttliche Natur von Jesus belegen sollen und das eigentliche Fundament der christlichen Lehre bilden.

Von den zahlreichen christentumskritischen Schriften Lüdemanns seien hier nur erwähnt "Der große Betrug" und "Jesus nach 2000 Jahren. Was er wirklich sagte und tat". Das letztgenannte Buch ist als sein wissenschaftliches Hauptwerk anzusehen und befasst sich mit dem Wirken dieser zentralen Gestalt des Christentums. Seine neueste Schrift "Der echte Jesus – Seine historischen Taten und Worte" stellt eine Kurzform seines Hauptwerkes dar und präsentiert die – in der Tat überraschend – geringe Zahl echter Taten und Worte von Jesus. Lüdemann analysiert Texte der ersten drei Evangelien, die von Matthäus, Markus und Lukas, wobei das Markus-Evangelium als die ursprünglichste Quelle gilt; ferner eine Redenquelle, die etwa so alt sein dürfte wie das Markus-Evangelium, aber im Original nicht mehr erhalten ist, und das 1945 aufgefundene Thomas-Evangelium. Das Johannes-Evangelium wird außer Acht gelassen, da es keinen historischen Kern enthalte.

Lüdemann bedient sich bei der Frage, welche Worte und Taten, die Jesus im Neuen Testament zugeschrieben werden, als echt oder gefälscht anzusehen seien, der historisch-kritischen Methode. Sie besagt, dass historische Texte aus ihren damaligen Kontexten heraus zu verstehen und zu deuten seien. Die Methode fragt u.a. nach Ort und Zeit der Textentstehung, sucht nach Vorläufern des Textes, richtet ihren Blick auf verdeckte Absichten im Text, prüft die Zuordenbarkeit zu als echt erkannten Taten und Worten. Lüdemann stellt die Methode eingangs ganz knapp vor in Form sechs verschiedener Kriterien, die er an die Texte kritisch anlegt, um deren historische Glaubwürdigkeit zu beurteilen.

Ein wichtiges Kriterium zur Beurteilung der Echtheit von Taten und Worten ist für Lüdemann das sog. Anstößigkeitskriterium. So ist zum Beispiel die Taufe von Jesus durch Johannes den Täufer für Christen immer "anstößig" gewesen, da Jesus eigentlich als sündenfrei galt und daher der Taufe nicht bedurft hätte. Die Taufe von Jesus missfiel Christen daher von Anfang an und wurde in den Texten umgedeutet oder vollständig verschwiegen.

Hinsichtlich der Jesus zugeschriebenen Taten in Form von Wundern bleibt nach Lüdemann wenig als tatsächlich bewirkt und belegt übrig. Weder wurden Gelähmte, Blinde oder Taubstumme geheilt noch bereits Tote auferweckt. Lüdemann hält allenfalls für möglich, dass Jesus kraft seiner Persönlichkeit und Ausstrahlung Menschen beeindruckte und damit heilende Wirkungen entfaltete. So wie auch heute offenbar manche Menschen die Fähigkeit besitzen, kranke Menschen – ob nur eingebildet oder tatsächlich krank – durch Handauflegen oder Hypnose in den – zumindest subjektiv empfundenen – Zustand der Gesundheit zu versetzen.

Die verschiedenen Jesus-Worte beispielsweise in der Bergpredigt, zum "Kommen des Reiches Gottes" oder das damit zusammenhängende Gleichnis vom Senfkorn (vgl. Markus 4,26-29) gelten als echt. Auch die Parabel vom verlorenen Sohn wird Jesus zugeschrieben. Die Worte zur Erhörung von Gebeten: "Bittet, und euch wird gegeben werden; sucht, und ihr werdet finden; klopft an, und euch wird aufgetan werden..." (Mt 7,7 u.f.) seien Jesus-Worte. Das Gebot der Feindesliebe gilt ebenfalls als von Jesus stammend: "Liebt eure Feinde" (Mt 5,44a; Lk 6,27). Dieses Gebot – so Lüdemann – entspricht der radikalen Ethik von Jesus. Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10,30-35) geht sicher auf Jesus zurück, weil – wie Lüdemann argumentiert – er an diesem Beispiel die Feindesliebe demonstrieren wollte. Gerade weil die Samariter den Juden verhasst waren, mache es sehr unwahrscheinlich, dass diese Worte von späteren Autoren erfunden wurden.

Ein letztes Beispiel für tatsächlich von Jesus geäußerte Worte sind jene, in denen er feststellt, dass der Mensch wichtiger sei als der Sabbat: "Der Sabbat ist um des Menschen willen geschaffen und nicht der Mensch um des Sabbats willen" (Mk 2,27). Da ein solcher Satz für gesetzestreue Juden höchst "anstößig" war, wurde er in den geschönten Evangelien von Matthäus und Lukas nicht aufgeführt. Für Lüdemann zusätzlich ein Beleg, dass er von Jesus stammen dürfte. (S. 84)

Bemerkenswert ist nun, dass die vergleichsweise wenigen als echt geltenden Taten und die überwiegend weisheitlich geprägten Worte von Jesus nicht die eigentlich heute vertretene Lehre begründen. Für Jesus steht die "Naherwartung des zukünftigen Reiches Gottes im Mittelpunkt, nicht jedoch [seine Rolle] als Heilsbringer" (Lüdemann). Auferstehung, Erlöserrolle, Bedeutung des Abendmahls, die göttliche Natur von Jesus – tragende Pfeiler der christlichen Lehre – werden durch keinerlei glaubwürdige Textstellen belegt. Lüdemann stellt fest, dass der österliche, das heißt, der dem Glauben zugrunde gelegte Jesus, mit dem geschichtlichen Jesus in keiner Weise identisch ist. Ein geschichtliches Fundament für den christlichen Glauben existiert folglich nicht.

Abschließend zeichnet Lüdemann ein Bild vom Wirken Jesus und seinen Jüngern, wie es seiner Auffassung nach dem tatsächlichen Geschehen entspricht. Die Kreuzigung von Jesus sei eine Tatsache, Christen hätten sie nie erfunden, denn als Bestrafung ihres geliebten Herrn war sie höchst anstößig, weil demütigend. Wurde er doch aufgrund einer Verleumdung als politischer Verbrecher hingerichtet. Die behauptete Wiedererweckung von den Toten wird als Halluzination seiner engsten Jünger bezeichnet und eher als eine damals übliche, aus dem jüdischen Glauben folgende Vision und Hoffnung auf das kommende Reiches Gottes gedeutet. (S. 96f) Lüdemann spricht von dem "frommen Betrug der Jünger", mit der die phantasierte und gefälschte Geschichte des Christentums begann. Und nicht Jesus war Begründer des Christentums sondern Paulus, der den Jesus von Nazareth weder gesehen noch gehört, noch mit ihm je gesprochen hatte.

Im Buch heißt es (S. 16): "Jesus war ganz Mensch; er hatte Leib und Seele wie wir und war den gleichen medizinisch-biologischen Gesetzen unterworfen. Er wurde wie alle Menschen von einem Mann gezeugt und von einer Frau geboren. Er starb, ebenso wie alle Menschen starben und sterben werden. ... Diesem ... normalen Sterben Jesu folgte aus medizinisch-biologischen Gründen keine Auferstehung."

Erinnern wir uns an den Religionsunterricht: Die Auferstehung wird vom Apostel Paulus, dem ersten und wichtigsten Theologen des Christentums, ganz wörtlich verstanden und zum alles entscheidenden Kriterium für die Wahrheit dieses Glaubens gemacht: "Ist aber Christus nicht auferweckt worden, dann ist unsere Verkündigung leer und euer Glaube sinnlos." (1. Korinther-Brief, Kap. 15, Vers 12-19)

Wer gläubig ist, müsste durch die historisch-kritische Forschung zumindest zum ernsthaften und aufrichtigen Nachdenken gebracht werden. Wer ohnehin schon seine Zweifel hatte oder sich gar vom christlichen Glauben bereits verabschiedet hat, wird hier weitere, eigentlich die entscheidenden und überzeugenden Argumente finden, weshalb diese Religion im besten Fall auf Wunschdenken gebaut ist, bei realistischer und ehrlicher Betrachtung auf Lug und Trug gründet.

Konfrontierte man einen gläubigen Christen mit diesen Einsichten, wäre wohl die Antwort, dass es auf die geschichtliche Basis gar nicht mehr ankäme, entscheidend sei allein die "Botschaft vom Heil", die es einfach zu glauben und zu leben gelte. Der Glaube hat sich für einen solchen Christen somit längst von seinem Ursprung gelöst. Ob der so zurechtgelegte Glaube stimmig ist, ob er eine reale Grundlage hat, interessiert nicht mehr. Eine solche konstruierte Gläubigkeit funktioniert allerdings nur solange, bis die Wirklichkeit die Illusion wieder einholt.

Uwe Lehnert

Gerd Lüdemann: Der echte Jesus. Seine historischen Taten und Worte. Ein Lesebuch. 2013 zu Klampen Verlag, Springe. 117 S.; 9,80 €.