(hpd) Seit ein paar Monaten berichten die Medien immer wieder über Küngs Klage, dass er vielleicht bald sterben werde. Davon aufgeschreckt, hat auch "Der Spiegel" in seiner Nummer 50 vom 9.12.13 ein Interview mit ihm veröffentlicht, das sich wie eine große Hommage auf diesen katholischen Theologen am Ende seines Lebens liest.
Im Grunde zeigt aber die Würdigung seiner Verdienste die ganze Zerrissenheit eines Theologen, ja sogar die Unsicherheit und Widersprüchlichkeit der gesamten kirchlichen Theologie. Die Medien möchten ihn zwar zum Revolutionär und Ketzer machen, aber das lehnt er gleich zu Anfang des Interviews kategorisch ab: "Ich bin kein Ketzer, sondern ein kritischer Reformtheologe". Die Analyse seiner Aussagen in besagtem Interview wird zeigen, dass er nicht einmal das Letztere ist.
Folgen wir also dem Gesprächsduktus des Interviews und prüfen wir nacheinander Küngs Aussagen. Selbstbewusst erklärt er, dass er im Unterschied zu vielen seiner Kritiker "nicht mittelalterliche Theologie, Liturgie und Kirchenrecht als Maßstab hat, sondern das Evangelium". Da erheben sich sofort ein paar Fragen. Welches Evangelium meint er? Es gibt ihrer schließlich vier, und jedes dieser vier ist eine Schöpfung der frühchristlichen Gemeinden und zeichnet, wo es nicht gerade vom vorigen Evangelium abschreibt, ein anderes Bild des Jesus von Nazareth, der ja auch keinen einzigen Evangelienschreiber autorisiert und legitimiert hat, da er zur Zeit der Entstehung der Evangelien längst tot war.
Zwar versuchen Theologen immer wieder von neuem, wenigstens einige Aussagen der Evangelien als originär von Jesus stammend herauszuarbeiten, aber es findet jeder seinem philologischen Geschmack entsprechend eine andere Aussage des Meisters als besonders zu dessen Charakter und Sprechweise passend. Von den trotz aller Abhängigkeit zahlreichen Widersprüchen zwischen den drei ersten Evangelien, den so genannten synoptischen, braucht man hier gar nicht erst zu reden. Sie sind allzu bekannt. Und das vierte Evangelium, das des vermeintlichen Apostels Johannes, ist derart abgehoben, dass es mit dem hypothetisch rekonstruierten jüdischen Wanderprediger Jesus schon fast gar nichts mehr zu tun hat.
Wenn also Hans Küng pathetisch betont, sein Maßstab sei das Evangelium, dann verkündet er eine Leerformel ohne konkreten und relevanten Inhalt. Aber fast noch schlimmer ist, dass dieser als größter Kritiker der Kirche gefeierte Theologe den ungeheuren Betrug derselben, aus dem schlichten jüdischen Wanderprediger Jesus den Christus mit allen Attributen der Gottheit gemacht zu haben, nicht nur nicht entlarvt, sondern vielmehr noch nachhaltiger theologisch begründet und vertieft hat.
Die Kirche ebenso wie Küng machen das Evangelium zum höchsten Maßstab, sozusagen zum Kompendium aller Offenbarungswahrheiten. Vermutlich stets unter der Annahme, dass die Gläubigen ihnen schon nicht so genau auf die Finger schauen und die Evangelien nicht sorgfältig lesen werden. Ununterbrochen verfälschen sie die Aussagen der Evangelien nach ihrem Gusto. Beispiele gefällig? Bitte schön!
"Der Spiegel" fragt "Gibt es die Hölle überhaupt?". Die Evangelien sprechen insgesamt 77 mal von der ewigen Höllenstrafe, in der der nagende Wurm nicht abstirbt und das Feuer nicht erlischt. Was aber sagt der "evangeliumsgetreue" Theologe Küng?: "An eine ewige Hölle glaube ich nicht". Die Rede von der Hölle sei lediglich "eine Warnung, dass ein Mensch seinen Lebenssinn völlig verfehlen kann". Im Bestreben, die Leute unbedingt im Pferch der Kirche festzuhalten, proklamiert Küng ein neues Evangelium, in dem es die Hölle nicht mehr gibt. Modern wie er sein will, hält er sich da lieber an Sartre: "Die Hölle, das sind die anderen", die "sich die Hölle selber bereiten, zum Beispiel in Kriegen wie in Syrien oder auch in einem hemmungslosen Kapitalismus".
Auch zur Frage, was nach dem Tode geschieht, äußert sich Küng keineswegs evangeliumsgemäß, sondern recht schwammig-nebulös: Das Leben nach dem Tod sieht er "als Eingang meiner ganzen endlichen Person in die Unendlichkeit Gottes": Er habe "keine mathematisch-naturwissenschaftlichen Beweise dafür", aber er "vertraue mit guten Gründen auf die Botschaft der Bibel". Allesvernebler Küng identifiziert sich hier schon wieder mit der Botschaft der Bibel, damit auch der Evangelien, aber die sagen etwas ganz anderes als er. Und zwar, dass der Mensch ganz stirbt und erst mit dem Jüngsten Gericht am Ende der Zeiten wieder zum Leben auferweckt wird.
Küng ebenso wie seine Kirche sehen natürlich das Groteske und Absurde der biblischen Auferstehungsidee und in ihrem gemeinsamen missionarischen Drang, den modernen Menschen an der Stange zu halten, verfälschen sie die biblische Botschaft bis zur Unkenntlichkeit. Denn auch die Idee der Unsterblichkeit der Seele ist nicht originär und genuin christlich, sondern von antiken "heidnischen" Religionen wie der altpersischen und ägyptischen und vom hellenistischen Synkretismus übernommen (vgl. H. Mynarek, Unsterblichkeit, Essen 2005, Verlag Die Blaue Eule).
Auch mit der Wahrhaftigkeit, die die Evangelien ja fordern ("Deine Rede sei ja, ja, nein, nein. Alles andere ist von Übel"), hat es Küng nicht so sehr. Was er über den Entzug seiner Lehrerlaubnis durch den Vatikan von sich gibt, ist eine Heldenlegende und ein Märtyrermythos, die mit den Tatsachen überhaupt nicht übereinstimmen. Er behauptet, dass "das einschneidendste Erlebnis" seines Lebens der Entzug der kirchlichen Lehrbefugnis im Jahr 1979 gewesen sei. Das habe ihn "psychisch und physisch umgehauen". An einer anderen Stelle des Interviews spricht er vom "Hammer des Lehrverbots". Es gab, so Küng, "einen Tag, da lag ich nur noch auf diesem gelben Sofa hier und konnte nicht in die angekündigte Fakultätssitzung zu meinem Fall gehen". Er wäre damals "untergegangen", wenn er sich in der Auseinandersetzung mit Rom nicht ein Stückchen Selbstbewusstsein bewahrt hätte.
Selbst "Der Spiegel" fragt Küng in diesem Zusammenhang, ob er wegen des Entzugs der kirchlichen Lehrbefugnis depressiv geworden sei. Antwort Küng: "Nicht depressiv, aber erschöpft."
Dabei hatte dieser Entzug für Küng nicht die geringsten negativen Konsequenzen. Er hätte nicht einmal aus der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen ausscheiden müssen. Aufgrund des immer noch in Geltung befindlichen Hitler-Konkordats kann in Deutschland nämlich kein mit der Kirche im Streit befindlicher Theologe seinen Lehrstuhl verlieren. Er muss sogar, wenn er nicht mehr an der theologischen Fakultät bleiben will, einen gleichwertigen Lehrstuhl an einer nichttheologischen Fakultät derselben Uni vom Staat bewilligt bekommen.
Und in der Tat: Küng war so verärgert, weil die Mehrheit seiner Fakultätskollegen nicht auf seiner Seite stand, dass er auf eigenen Wunsch die katholisch-theologische Fakultät verließ. Aber er bekam sofort vom Ministerpräsidenten Baden-Württembergs einen interfakultativen Lehrstuhl für ökumenische Theologie zur Verfügung gestellt, der großzügig ausgestattet war und ihn viel freier und unabhängiger machte, als er vorher war. Schließlich musste er sich jetzt an keinerlei Vorgaben und Beschränkungen seiner theologischen Fakultät oder des zuständigen katholischen Bischofs mehr halten.
Das kirchliche Lehrverbot, über das Küng so klagt, hatte also gar keine praktische Bedeutung. Er konnte sofort weiter lehren, wie gesagt, jetzt viel freier und unabhängiger als vorher. Im Gegenteil, es erflossen ihm aus der ganzen Angelegenheit enorme Vorteile. Denn die Bücher des wegen des kirchlichen Lehrentzugs von den Medien zum Märtyrer Hochgejubelten wurden nunmehr doppelt und dreifach so gut verkauft wie vorher.
Andere Konsequenzen
Ganz anders erging es dem Schreiber dieser Zeilen. Da ich 1972 als erster Universitätsprofessor der katholischen Theologie im 20. Jahrhundert aus der Kirche austrat, entzog mir auf Betreiben der Kirche der österreichische, sich nicht mehr ans Hitlerkonkordat gebunden fühlende Staat den Lehrstuhl (und nicht bloß wie bei Küng die Lehrbefugnis). Und um ein Exempel zu statuieren, damit nicht noch andere Theologieprofessoren aus der Kirche austreten, wurde ich nach Veröffentlichung meines Buches "Herren und Knechte der Kirche" mit fünfzehn Gerichtsprozessen seitens prominenter Kirchenvertreter und -verteidiger überzogen. Mit Recht schrieb Karlheinz Deschner, Autor der zehnbändigen Kriminalgeschichte des Christentums, zum Fall Küng: "Es ist grotesk, ja satirereif, dass dieser Mann, der seit Jahren vermutlich mehr Publizität genießt als jeder andere Theologe unserer Zeit, der weiterhin einen wohldotierten Lehrstuhl, weiterhin ein hohes Ansehen, weiterhin ein Millioneneinkommen aus seinen Büchern hat, ringsum von der Presse zu einem Märtyrer, einem zweiten Galilei hochgejubelt wird, als schrieben unsere Zeitungen Idioten".
Dagegen Deschner in diesem Zusammenhang zu mir: "Er allerdings trat konsequent aus der Kirche aus und konsequent wurde er um seine Professur, sein Haus gebracht und durch fünfzehn Prozesse wirklich eine Art Märtyrer."