Die Ehre ist nicht die der Frau

(hpd) Bislang war Arzu Toker vor allem für ihre religionskritischen und sachlichen Texte bekannt. Nun sind auch die beiden in diesem Buch versammelten Texte islamkritisch, aber sie sind zudem noch Literatur.

 

Schon allein der ersten Text, “Die Balkonmädchen”, ist ein Poem, wie ich es aus ihrer Feder kaum erwartet hätte. Ursprünglich ein Radiofeature für den WDR arbeitete Arzu Toker den Text leicht um und ergänzte ihn zu einem runden, aufregendem Ganzen.

“Namus, die Ehre, ein kleines Wort,/ das besagt,/dass der Mann über den Körper der Frau entscheidet/ um seiner Ehre willen,/ der Mann entscheidet, wen sie zu heiraten hat/ um seiner Ehre willen,/ der Mann entscheidet, ob sie aus dem Haus gehen darf/ um seiner Ehre willen,/ der Mann entscheidet, wann sie zu Haus zu sein hat/ um seiner Ehre willen,/ der Mann entscheidet, wie sie sich zu kleiden hat/ um seiner Ehre willen,/ der Mann entscheidet, ob sie ihre Freunde besuchen kann/ um seiner Ehre willen,/ der Mann entscheidet, ob sie ihre Beine übereinander schlagen darf/ um seiner Ehre willen,/ der Mann entscheidet, ob sie entscheiden darf.” (Seite 10)

Hier setzt sie sich mit der Rolle der Frau auseinander - und zeigt auf, wie verlogen der Begriff der “Ehre” ist, den streng gläubige Muslime - zumeist Männer! - so häufig im Munde führen. Arzu Toker macht klar, dass es um nichts weniger geht als um die Ehre dieser Männer. Sondern um das “Recht” des Mannes, über die Frau zu bestimmen. Das meint sowohl die Ehefrau - die eigene und die anderer Männer - als auch die Hoheit über Wünsche und das Leben der Töchter. Die, falls sie ein eigenes Leben leben wollen, hingerichtet werden oder “von Balkonen stürzen”.

Auch wenn die künstlerische Umsetzung des Textes für dieses Thema eher ungewöhnlich ist: Es lohnt in jedem Falle, sich auf diese ungewohnte Art von Religionskritik einzulassen.

Das gilt noch viel mehr für den zweiten Text des Buches. In einer “Erzählung in Briefen” klagt eine Mutter eine islamische Sekte an, sich ihrer Tochter bemächtigt zu haben. In der gesamten Geschichte nennt Arzu Toker nur einmal den Namen der Gruppierung; doch dass es sich um die Gülen-Bewegung handelt, wird dem Leser schnell klar. Schon allein deshalb ist das Buch brandaktuell: In der Türkei hat sich diese Gruppierung tief in die Reihen von Militär und Polizei eingenistet und auch die Justiz des Landes ist wohl nicht ganz frei vom Einfluss der Gülen-Leute.

Die Briefe erzählen von dem Versuch einer aus der Türkei stammenden Mutter, ihre Tochter als freies Mädchen selbstbestimmt aufwachsen zu lassen. Das scheint auch zu gelingen. Bis die Tochter ein Kopftuch aufsetzt und die Mutter sie daraufhin wutentbrannt aus der Wohnung wirft. Das ist der Auslöser fūr die Briefe, in denen die Mutter verzweifelt um ihre Tochter kämpft.

Die Mutter hat sich aus allen Zwängen der patriarchischen Gemeinschaft in der Türkei befreit und zog nach Deutschland. Nach dem Tod des geliebten und freiwillig geheirateten Mannes bleibt sie mit ihrer Tochter hier. Denn hier kann sie die Freiheit leben, nach der sie sich bereits als Kind sehnte.

Es ist nicht falsch, zu sagen, dass die “Verschenkte Freiheit” das Thema des Poems, des Klagelieds von den “Balkonmädchen” wiederholt. Denn heißt es dort “Ich will sie nicht haben/ diese Kultur/ diese Religion/ diese Nation./ In Europa, in Deutschland/ habe ich die Freiheit gerochen/ wie frisch gebackenes Brot,/ die Freiheit genossen wie die Liebe” (Seite 40) so klagt die Mutter ihre Tochter in der “Verschenkten Freiheit” an, diese so schwer erreichbare und erkämpfte Freiheit einfach wegzuwerfen. “Deine Verschleierung ist Ausdruck männlichen Leidens, mein Kind. Denn Mann sein allein reicht nicht mehr aus, um hierzulande in der modernen Gesellschaft zu bestehen. Wir, die Frauen, sind die einzigen Wesen, über die sie noch herrschen können.” (Seite 60)

Und indem sich die Autorin mit dem Begriff der Ehre und dem Islam in Deutschland auseinandersetzt, schreibt sie auch ein Hohelied auf die deutsche Demokratie und die gesellschaftlichen Veränderungen, die sich aus dem Aufbegehren der 68er Generation ergaben.

“Die gläubigen Frauen können nicht gegen ihre Unterdrückung protestieren. Denn das bedeutet Protest gegen Gottes Befehle. Die Frauen in Europa gingen in den 1970ern auf die Straßen, und in Deutschland schrieen sie: ‘Hätte Maria abgetrieben, wäre uns Jesus erspart geblieben.’ Könnte ich, könnten Frauen in muslimischen Ländern schreien: ‘Hätte Amina abgetrieben, wäre uns Mohammed erspart geblieben.’? Was würde ihnen passieren? Bitte probiere es nicht aus, du wirst keine Minute überleben.” (Seite 137)

Die briefeschreibende Mutter sowie die geflohene Tochter leben in Berlin. Und wenn man liest, wie die Mutter in den Briefen die Suche nach ihrer Tochter beschreibt, geht man mit anderen Augen durch diese Stadt und sieht Dinge, die man zuvor nicht wahrnahm. Das wird auch anderenorts ähnlich sein. Es werden Orte beschrieben, die auch ich kenne und an denen ich bislang unaufmerksam vorüber ging. Das wird sich von jetzt an vermutlich ändern. Das Buch von Arzu Toker schärft den Blick. Und nicht allein auf Orte.

Als Abschluss der Erzählung schreibt die Mutter in einem letzten Brief an ihre Tochter: “Menschen werden oft gläubig, weil sie sich nicht wehren. Oft, zu oft liegt dem Glauben Selbstverachtung zugrunde.” (Seite 142) Und die daraus folgende Schlussfolgerung gilt ganz sicher nicht nur für die Tochter: “Das hast Du nicht nötig. Du kannst dich auflehnen!”

 

 

siehe auch unser Interview mit der Autorin.