Humanismus und Humanisierung

Praktizierte Menschenwürde

(hpd) “Eine humane Gesellschaft, die diesen Namen verdient, kann nur eine herrschaftsfreie Gesellschaft sein, in der nicht einige wenige sich auf Kosten der vielen bereichern. Nur in einer solchen Gesellschaft gäbe es keine soziale Armut.” (S. 94) Mit dieser Schlußfolgerung faßt der Jurist und Philosoph Thomas Heinrichs seine Betrachtungen über die Humanisierung des Staates zusammen. Und damit wohl auch die Debatte um Humanismus und Humanisierung ganz allgemein."

 

Humanisierung definiert Herausgeber Horst Groschopp als “historisch angelegte geistige, sozialkulturelle, politische usw. Bewegung […], die sich der ‘Barmherzigkeit’, ‘Menschenwürde’ und ‘Menschenbildung’ widmet und diese als Leitideen ausformt und anwendet”. (S. 7) Unter dieser Perspektive hat Groschopp im jetzt vorliegenden siebenten Band der Schriftenreihe der Humanistischen Akademie Berlin-Brandenburg mehrere Texte aus verschiedenen Zusammenhängen der Akademie sowie extra angeforderte Beiträge zusammengefasst.

Den Einstieg gibt der Philologe Hubert Cancik mit einer Abhandlung über “Die natürlichen Rechte des Menschen”. Ihm geht es dabei vor allem um das Problem der nichtjuristischen Begründung der Menschenrechte.

Sehr lesenswert und vor allem informativ dürften für die meisten Leser wohl seine Ausführungen zur Menschenrechtserziehung im Mainz des Jahres 1793 sein. Seinerzeit entstand dort die kurzlebige erste bürgerliche demokratische Republik auf deutschem Boden. Bemerkenswert: Religionsfreiheit galt für die damaligen Revolutionäre keinesfalls als das wichtigste und grundlegendste Menschenrecht. Den geistigen Wortführern galt dafür das Privateigentum an Produktionsmitteln als Quelle allen Übels: dieses Privateigentum “ist auch der Grund für Ungleichheit, Sklaverei und Despotie.” (S. 19) Cancik setzt sich mit historischen Befunden seit der Antike und mit theologischen Ansprüchen auseinander. Immer wieder weist er quellenbegründet darauf hin, dass die Menschenrechte keinesfalls kirchenchristlich begründet seien.

Im Gegenteil, gerade der Klerus bekämpfte Menschenrechtserklärungen auf das erbittertste. Er weist aber auch darauf hin, dass nichtjuristische Begründungen durchaus problembelastet sind. Sie können durchaus Gefahr laufen, als “eurozentrisch und damit kolonialistisch” verstanden zu werden. Und damit in großen Teilen der Welt auf Ablehnung zu stoßen. Cancik ist sich aber sicher, dass es nicht nur eine einzige humanistische Perspektive auf die Menschenrechte gibt. Diese anderen aber sollten weniger historisch, sondern mehr philosophisch und juristisch fundiert sein.

Es folgt ein überaus empfehlenswerter Aufsatz des Juristen Eric Hilgendorf mit der Fragestellung “Humanismus und Recht – Humanistisches Recht?” Er schreibt u.a.: “Als ’‘humanistisch’ soll im Folgenden eine solche rechtsphilosophische Position verstanden werden, die den Menschen mit seinen natürlichen Bedürfnissen und Interessen in den Mittelpunkt stellt und alles Recht daran misst, inwieweit es das menschliche Wohlergehen zu fördern geeignet ist.” (S. 41)

Der Jurist belässt es aber nicht mit Betrachtungen zu Strafrecht und Strafvollzug. Er betrachtet die Humanisierung des Rechts umfassender, er bezieht also in Humanisierungsforderungen auch das Zivilrecht, das Arbeitsrecht, den Verbraucherschutz oder das öffentliche Recht mit ein: “Zu einem menschengerechten Recht gehört insbesondere ein Sozialrecht, das Menschen in Not beisteht und extreme soziale Ungleichgewichte in der Gesellschaft verhindert.” (S. 46)

Hilgendorf spricht damit ein ernstes bundesdeutsches Problem an: die weitgehende Missachtung der sozialen Menschenrechte durch die herrschende Politik, die sich auch in den repressiven Hartz-Gesetzen manifestiert. Eine weitere wichtige Fragestellung lautet: “Auf dem Wege zu einem Weltrecht?”. Wichtig deshalb, weil sich USA und EU (und NATO) immer mehr anschicken, unter dem Vorwand der Durchsetzung der Menschenrechte unliebsame Regierungen anderer Länder zu stürzen oder andere Länder mit so begründeten Kriegen zu überziehen.

Er geht daher ausführlich auf Herausforderungen für das humanistische Rechtsdenken ein. Und er sieht da auch die große Gefahr, “dass konkurrierende Orientierungsmodelle, etwa solche christlicher Provenienz, humanistische Konzepte zu ‘kapern’ versuchen und so dann in ihrem Sinne ausdeuten. So wird aus der ‘Menschenwürde’ leicht unter der Hand eine ‘christliche Würde’, deren Inhalt vom Papst und seinen Bischöfen bestimmt wird. (…) Es gilt, sich diesem Kampf um die Besetzung der Begriffe bewusst zu machen und allen Versuchen, humanistische Konzepte für konkurrierende Weltanschauungen zu vereinnahmen, entschieden entgegenzutreten.” (S. 55/56)

Es ehrt die Humanistischen Akademien, dass sie auch immer wieder Theologen zu Wort kommen lassen. So hier Hartmut Kreß mit einem Aufsatz über den “Streit der Ethiken in unserer Rechtsordnung” am Beispiel von Suizid und Suizidbegleitung. Kreß liefert ein anschauliches Beispiel dafür, wie Theologen Vereinnahmungen und Umdeutungen vornehmen, welche geistigen Pirouetten sie schlagen, um den Primat ihrer Religion in der Gesellschaft immer wieder durchzusetzen: “Ja, aber…”

Den aus Sicht des Rezensenten wichtigsten Beitrag hat der bereits eingangs erwähnte Thomas Heinrichs beigesteuert: “Humanisierung des Staates? Armenhilfe und Sozialstaat”. Allerdings muss zunächst eine sehr kritische Bemerkung angebracht werden. Heinrichs schreibt, dass der Staat vor gut 500 Jahren in Westeuropa entstanden sei. Das aber ist historisch grundfalsch! Erst später wird klar, dass der Autor den Staat meint, der eine “spezielle bürgerlich-kapitalistische Form politischer Herrschaft” ist.

Bezugnehmend auf Artikel 22 der Allgemeinen Charta der Menschenrechte der UNO von 1948 und den darin verankerten Rechten auf Arbeit, existenzsichernden Lohn und staatliche soziale Schutzmaßnahmen zur Sicherung der materiellen Existenz fragt er: “Hat es im Hinblick darauf eine soziale Humanisierung des Staates gegeben?” (S. 71)

Doch zunächst geht Heinrichs auf die Entstehung des bürgerlich-kapitalistischen Staates ein, auf die soziale Lage der nichtbesitzenden Klassen im Feudalismus und im Kapitalismus, die Erscheinungsformen von Armut und die Armenhilfe. Zu Recht stellt er fest, dass sowohl vorstaatliche Armenhilfe als auch moderner Sozialstaat und Sozialpolitik nichts anderes als Herrschaftsinstrumente zur Sicherung der politischen und ökonomischen Macht der besitzenden Klassen sind. Nach wie vor gelte: “Auf Lohnarbeit angewiesen zu sein, war und ist das größte Armutsrisiko.” (S. 74)

Eine Fußnote auf derselben Seite verdeutlicht, was es mit den mildtätigen und barmherzigen christlichen Werten auf sich hat. In England wurden die Klöster bereits in der Tudor-Zeit säkularisiert. Die Forschungen haben anhand der Klosterakten ergeben, “dass der Anteil karitativer Ausgaben der Klöster bei drei bis fünf Prozent der Gesamtausgaben lag.”

Es schließt sich ein historischer Streifzug über die Entwicklung des Sozialstaates in Westeuropa, mit besonderem Schwerpunkt auf Deutschland, an. Heinrichs geht dabei auf die verschiedenen Grundsätze der Armenhilfe in Feudalismus und Kapitalismus ein, also auf die unterschiedlichen Arbeitsethiken. Aber bereits im 16. Jahrhundert gelte schon “das bis heute bestehende Muster, nach dem das Regiment der Armenfürsorge der Sozialisation der Beherrschten dient und ihnen die ihrer Klasse entsprechenden Verhaltensnormen vermitteln soll.” (S. 80)

Heinrichs konstatiert, dass, verglichen mit der feudalen Gesellschaftsordnung, durchaus eine Humanisierung des Staates stattgefunden habe. Aber: “Wenn man jedoch einen weitergehenden Maßstab anlegt und unter Humanisierung in einem normativen Sinne einen Prozess versteht, der darauf abzielt, die soziale Gleichheit der Menschen herzustellen, so muss man sagen, dass eine Humanisierung des Staates nicht stattgefunden hat. Die soziale Ungleichheit der Menschen, die Differenz zwischen Reich und Arm ist heute größer denn je. Relative und absolute Armut nehmen auch in den Staaten des Westens wieder zu.” (S. 93)

Der Soziologe Siegfried Reck unternimmt den Versuch einer Toposanalyse: “Menschenwürde – ein Zauberwort?” und geht dabei auch auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 2010 zum “menschenwürdigen Existenminimum” ein. Mit Blick auf das bundesdeutsche Grundgesetz stellt der Autor fest, dass in diesem “explizit formulierte soziale Grundrechte, wie sie Weimarer Verfassung enthielt, fehlen.” (S. 105)