SENHEIM. (hpd) In jeder Textsammlung zur Religionskritik findet sich ein Ausschnitt aus einem seiner Werke, und das Zitat “Gott ist tot” formuliert seine Gegnerschaft zum Christentum ebenso radikal wie plakativ. Doch auch hinsichtlich der Religion wirft Friedrich Nietzsches aphoristisch angelegtes Werk mehr Fragen auf, als es Antworten bereithält.
Der Philosoph Hermann Josef Schmidt hat nun einen Aufsatzband vorgelegt, der sich auf die Fährte des Christentumskritikers setzt. Wie in all seinen Arbeiten legt Schmidt besonderen Wert darauf, Entwicklungslinien in Nietzsches Denken aufzuzeigen, und so nimmt er dessen früheste Texte zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Inwiefern dies zu einem besseren Verständnis Nietzsches beiträgt, welche Kontinuitäten und Brüche in dessen Verhältnis zur Religion zu entdecken sind, darüber hat hpd mit Hermann Josef Schmidt gesprochen.
hpd: Nietzsche stellt seit langem den Schwerpunkt Ihrer Veröffentlichungen dar. Warum gerade und immer noch Nietzsche?
Hermann Josef Schmidt: Angesichts all dessen, womit ich mich auseinandersetzen sollte, frage ich mich das auch. Dennoch: schon früh hatte ich Nietzsche als einen immensen Befreier des Geistes schätzen gelernt. Doch nach meinem Eindruck spielte dieser Aspekt in der Nietzscheinterpretation eine nur sehr untergeordnete Rolle. Statt dessen wurden seine Texte eher domestiziert, normalisiert, des für sie Charakteristischen interpretativ entkernt, kurz: “entnietzscht”. Zuweilen sogar mit beeindruckenden Tricks, vor allem, wenn’s ums Re-Christianisieren ging. Teilweise aber auch, weil man Nietzsches Texte um fast jeden Preis in hochgeschätzte philosophische Traditionen integrieren, Nietzsche also “adeln” wollte. Doch auch das passte nur sehr bedingt. Deshalb wollte ich schon früh “gegenhalten”; und muss es leider wohl immer noch.
Bezeichnen Sie deshalb Ihre Nietzscheuntersuchungen als “Sondervoten”?
Ja, und aus sogar vielen Gründen. Um den vielleicht wichtigsten wenigstens zu skizzieren: als größtes Krebsübel philosophischer und sonstiger Interpretationen empfinde auch ich, dass sich viele Autoren kaum dafür zu interessieren schienen, was diejenige Person, über deren Schriften, Gedanken usf. sie sich äußerten, formulierte, was sie sich dabei dachte, welche aus ihren Texten erschließbaren Absichten sie verfolgte usf.
Dieses Krebsübel potenziert sich bei Nietzsche. Um jenseits jeweils gängiger Klischees tiefenschärfer zu erkennen, hätte man sich aber gründlich einlesen müssen: in seine Veröffentlichungen in deren zeitlicher Folge, auch in den älteren Nachlass, in die Korrespondenz, bei einem Hochschullehrer wie bei ihm auch in Vorlesungen. Doch dafür schenkte sich kaum jemand Zeit. Statt dessen lösten sich häufig eher Interpretationsmoden ab. Deren gemeinsamer Nenner: bei in der Regel eher schmaler Lektürebasis ein dominierender hochspezifischer theoretischer Überbau als Interpretationsperspektive.
Manchmal konnte ich mich nur wundern, was so alles auf Nietzsche draufgepappt wurde. So stürzten sich etwa Psychoanalytiker, Ideologen und häufig Theologen gerade auf Nietzsche, von dem sie jedoch meist nur wenig gelesen und dank Kontextausblendung noch weniger verstanden hatten; glücklicherweise wussten sie ja schon vorweg Bescheid. Fast jeder von ihnen freilich anders und noch besser als die Konkurrenz. Bei weniger hochwertigen Untersuchungen ersetzten eher Verbeugungen vor dem jeweiligen Zeitgeist oder mächtigen Cliquen differenziertere Perspektiven.
Nun potenzieren sich jedoch angesichts der vermeintlich so leicht verständlichen Texte Nietzsches zahlreiche Probleme: Nietzsche war nämlich ungemein belesen, interessierte sich für fast alles und äußerte sich in raschem Wechsel, in der Regel voraussetzungskritisch aufarbeitend, zu vielem – da versagen Spezialisten und scheitern auch breiter sortierte Dilettanten. Dazu kommt: Nietzsche war Altphilologe, hatte sein Herz “bei den Griechen”; und bei diesen vor allem in der Archaik, dachte und fühlte aus deren ja nur rekonstruierten Perspektiven mit schon als Kind christentumskritischem Effekt. Doch von “den Griechen” noch vor Platon wissen immer weniger Personen etwas; und mit der bis in die jüngste Vergangenheit aus Überzeugung oder Angst christentumsbejahenden, dominanten Journaille legte sich erst recht kaum jemand an. Das gilt ja noch heute. Ein expliziter Christentumskritiker macht angesichts parteiübergreifender Buckelei und öffentlichen Demutsritualen kaum Hochschullehrerkarriere. All das und vieles andere prägt seit mehr als einhundert Jahren Interpretationen sowie interpretative Traditionen. In besonderer Weise freilich im Blick auf Nietzsche. Deshalb meinerseits seit Jahrzehnten und, je mehr ich mir’s leisten kann, immer deutlichere Sondervoten.
Was ist denn, auf den Punkt gebracht, das Nietzsche-Spezifische an seiner Christentumskritik?
Spezifisch für Nietzsche dürfte sein, dass an Stelle eines einzelnen Punktes eher, seiner Entwicklung folgend, eine nietzschetypische Kette, beginnend in Nietzsches Kindheit, zu skizzieren wäre. So demonstriert schon der 11-Jährige, dass er Theodizeeprobleme für unauflösbar hält. Für welches damalige Kind galt das sonst? Bereits der Jugendliche betont den hypothetischen Charakter christlicher Glaubensinhalte. Der 20-Jährige erkennt, dass die Stärke eines Glaubens unabhängig vom Inhalt oder der Qualität eines Glaubensinhalts ist. Später assimiliert und verschärft Nietzsche jedwedes philosophische, geistes- oder naturwissenschaftliche Argument, das er als intensiver Leser aufzuspüren und kritisch gegen das Christentum einzusetzen vermag. Charakteristisch ist die durchgehaltene Leidenschaftlichkeit, Polyperspektivität, Brillanz und zunehmende Vehemenz, seiner Auseinandersetzung, Argumentation und zuletzt Verurteilung. Dabei scheint er in jeden Winkel und selbst in den Bauch des Christentums gekrochen zu sein. Spät erst wird als Intention deutlich, Christentum in seinen Ansprüchen nicht nur argumentativ destruieren, sondern in einem “Todkrieg” physisch “vernichten” zu wollen, weil es unter anderem durch Verachtung des geschlechtlichen Lebens “die Widernatur” lehre.
Nun aber genauer: Inwiefern liefern gerade Sie “immer deutlichere Sondervoten” zu Nietzsche?
In mehrfacher Hinsicht. Erstens berücksichtige ich die Bedeutung ‘griechisch’-tragischer und belege zweitens die Relevanz genetischer Perspektiven als Schlüssel angemesseneren Nietzscheverständnisses – beides ist kurioserweise leider noch immer ziemlich neu. Drittens betone ich, dass Nietzsches Kritiken oftmals vehemente Selbstkritik – also Kritik eigener, früherer Sichtweisen – beinhalten, genauer, dass Nietzsche sein Denken als permanente, oft schmerzhafte Selbstauseinandersetzung (“Selbstdenker”, “Selbsthenker”) vorantreibt; und ich zeige viertens – ich gestehe: genüsslich – die Unangemessenheit prochristlicher Interpretationen Nietzsches oder seiner Texte bis in manches Detail. Dazu kommt, fünftens, dass ich die Bedeutung der Anregungen durch einen als Trinker diffamierten, zuvor jedoch politisch ruinierten Dichter, Ernst Ortlepp, schon für das Kind Nietzsche betone; und dass die Art von Nietzsches Entwicklung auch unter der Perspektive des erbärmlichen, von Nietzsche aus nächster Nähe verfolgten Scheiterns Ortlepps zu verstehen ist. Sechstens: die ungewöhnliche Kombination dieser fünf ihrerseits bereits unüblichen Gesichtspunkte meist verbunden mit – siebtens – interpretationskritischen Anmerkungen wie ja auch hier und achtens mit weltanschauungs- und ideologiekritischen Einsprengseln belegen und fixieren wohl auch den Sonderstatus meiner Schriften zu Nietzsche. “So etwas” zitiert und bespricht nämlich kaum jemand gern oder gar sachorientiert, der selbst ein anerkannter Autor bleiben und positiv zitiert sein möchte; andere aber verstehen zu wenig davon. So einfach ist das.