Am 26. März wurden im Landgericht Moabit die Schlussplädoyers im viel beachteten Strafverfahren gegen Dr. Christoph Turowski (74) gehalten. Die mittelgradig depressive Isabell R. hatte sich mit seiner ärztlichen Hilfe das Leben genommen. Das gestern verkündete Urteil hing ausschließlich von der zu bewertenden Freiverantwortlichkeit der Suizidentin ab.
An der Tagesordnung sind hier ansonsten brutale Morde, organisierte Kriminalität und Sexualverbrechen. Doch diesmal erging vor dem Berliner Strafgericht im Ortsteil Moabit das Urteil gegen einen pensionierten Arzt, der einer Frau (37) im Juli 2021 zu einem medikamentösen Suizid verholfen hatte. Die Kontaktaufnahme zu ihm war von ihr persönlich ausgegangen, sie hatte von ihrem langen Leidensweg, von unzähligen Behandlungen und Therapiestunden berichtet, die alle gegen ihre regelmäßig wiederkehrenden Depressionen nichts gebracht hätten.
Die Plädoyers von Staatsanwaltschaft und Verteidigung sollten sich nunmehr maßgeblich an dem psychiatrisch-forensischen Gutachten von Dr. Stefan Hütter, dem Sachverständigen des Gerichts, orientieren. Doch in seinen Ausführungen am 26. März, dem letzten Verhandlungstag vor der Urteilsverkündung, blieben die entscheidenden Fragestellungen interpretationsbedürftig: Ob die vom Angeklagten in den Tod begleitete Suizidentin Isabell R. hinreichend freiverantwortlich war oder definitiv nicht oder aber – mit Einschränkungen – doch willensfähig?
Spannung bis zuletzt durch gegensätzliche Bewertungen
"Sie war in einer akuten psychischen Ausnahmesituation und nicht sie selbst", so stand es jedenfalls für die Staatsanwältin am 26. März fest, die folglich eine Gefängnisstrafe von drei Jahren und neun Monaten wegen minderschwerem Fall von Totschlag in mittelbarer Täterschaft für Turowski forderte. Dieser sei mit einer Mission gewohnheitsmäßig als ärztlicher Suizidhelfer tätig gewesen – gemäß eigenen Angaben inzwischen nahezu 100 mal, nachdem er seine internistische Praxis altersbedingt aufgegeben hatte. Mittelbarer Täter ist, wer die "Tötungstat durch einen anderen begeht", hier also durch die angeblich selbst nicht willensfähige Suizidentin. Dabei hat Isabell R. ihre Selbsttötung – wie von Turowski, der in anderen Fällen (!) vorwiegend in der vereinsmäßig organisierten Suizidhilfe tätig war, routinemäßig per Video dokumentiert – eigenhändig in Gang gesetzt. Sie war allerdings erst am Vortag (nach einem vorausgegangenen misslungenen Suizidversuch) mit einer als mittelschwer diagnostizierten Depression aus einer angeordneten psychiatrischen Unterbringung entlassen worden.
Turowskis Rechtsanwalt plädierte dagegen auf Freispruch wegen zulässiger, nicht rechtswidriger und somit erlaubter Hilfe zur Selbsttötung einer willensfähigen Person. Das Letzte Wort gehörte dem Angeklagten, hier ein Auszug daraus:
"… Mir ... trat Frau R. in allen Äußerungen und persönlichen Kontakten immer als entscheidungsfähiger Mensch entgegen. Da gab es keinerlei Zweifel von meiner Seite. … In dem hier sehr umfangreich verhandelten Fall geht es um eine Frau mit sechzehnjähriger Depression, die über lange Zeit Ihren Suizidwunsch entwickelt und geplant hatte. Sie war sehr erfahren und kompetent in der Beurteilung der Depression und des Verlaufes dieser Krankheit, in der Kenntnis der therapeutischen Möglichkeiten, die sie schon selbst in Anspruch genommen hatte und weiterer möglicher Therapieverfahren. Diese waren ihr bekannt und wurden von ihr mit guten Gründen abgelehnt …"
Diese Positionierung war von Dr. Matthias Dose, Psychiatrieprofessor aus München, als sachkundigem Zeugen der Verteidigung klar und deutlich gestützt worden. Auch schwer Depressive könnten sagen, "es geht mir um die Gesamtschau meines Lebens und das will ich nicht mehr so haben". Es sei eine Diskriminierung, wenn man ihnen den freien Willen abspreche und sie so von vornherein von der Suizidhilfe ausschlösse.
Insbesondere aufgrund des abschließenden Gutachtens von Dr. Stefan Hütter, dem psychiatrisch-forensischen Sachverständigen des Gerichts, am 26. März war die Spannung zum Greifen. Welches Urteil würde Richter Mark Sautter nun wohl wie angekündigt verlesen? Doch gehen wir vor der Urteilsverkündung noch einmal zurück zum letzten Verhandlungstag, zum Inhalt des gerichtlich bestellten Gutachtens von Dr. Hütter und den darauffolgenden Schlussplädoyers von Anklage und Verteidigung.
Überraschendes Gutachten des Sachverständigen des Gerichts
Dr. Hütter war an allen neun Prozesstagen anwesend gewesen. Dabei wurden zig Zeugen angehört (darunter Familienangehörige, die Rettungssanitäter, die Isabell R. gegen ihren Willen nach dem zunächst gescheiterten Suizidversuch von zu Hause "abgeholt" hatten, der Ober- und der Stationsarzt, die sie nach zwei Wochen auf ihr Drängen hin wieder aus der psychiatrischen Klinik entlassen hatten). Es wurden Hintergründe beleuchtet, E-Mails zwischen Isabell R. und dem vorher mit ihr bekannt gewordenen Dr. Turowski während ihres Psychiatrieaufenthalts zugänglich gemacht und vieles mehr. Der Gerichtsgutachter Hütter kam am Ende des Tages im Kern zu der Bewertung, dass der Patientin die freie Willensbildung nicht abgesprochen werden kann.
Seine Schlussfolgerung am 26. März lautete sinngemäß: Er könne keine konkreten psychopathischen Kriterien hinreichend identifizieren, um eine Freiverantwortlichkeit auszuschließen. Diese sei zwar sicher eingeschränkt, aber auch nicht aufgehoben gewesen – dafür sprächen etliche Anhaltspunkte seitens Isabell R., wie Hütter ausführte:
- Zum (vorzeitigen) Entlassungszeitpunkt aus der Psychiatrie sei sie ihren dortigen Ärzten zumindest als hinreichend stabil erschienen (ob sie die Abkehr von ihrem Suizidhilfevorhaben nur vorgetäuscht habe, war nicht ermittelbar)
- Es hätten bei ihr keine psychotischen Symptome (wie etwa Wahnvorstellungen) vorgelegen, die Zusatzdiagnose "bipolar" müsse offenbleiben. Sie habe unter keiner maßgeblichen Beeinträchtigung von Entscheidungsfähigkeit, Antrieb oder Wahrnehmung gelitten.
- Sie sei sehr wohl in der Lage gewesen, die Folgen ihres Suizids nachzuvollziehen und ihre Handlungsplanung sei intakt gewesen (etwa hinsichtlich der Sorge um ihre Freundin und auch ihres geliebten Hundes, für dessen Verbleib sie nach dem geplanten Suizid Geldleistungen getätigt hatte)
- Sie sei von keinen starken Stimmungsschwankungen betroffen gewesen – ihre im Prozessverlauf deutlich gewordenen Ambivalenzen dürften nicht als Beleg dafür herhalten, dass ihr Todeswunsch als ungefestigt zu gelten habe.
- Bedeutsam sei dabei auch, dass ihre gelegentliche Ambivalenz ihr bewusst gewesen und von ihr reflektiert worden sei (sie habe bei Turowski in E-Mails dafür auch um Verständnis gebeten), wobei der Suizidwunsch und -wille stets überwogen hätte.
Laut diesem maßgeblichen Gutachten wären die bestehenden Zweifel an der Freiwillensfähigkeit der Suizidentin wohl nicht hinreichend, um ihre ärztlichen Suizidhelfer wegen Totschlags zu verurteilen ("in dubio pro reo" – also: im Zweifel Freispruch).
Argumente in beiden Plädoyers und das Urteil
Die Staatsanwältin griff in dieser Situation zu einer ungewöhnlichen Argumentationsfigur, worauf sie ihr Plädoyer für die Strafforderung wegen Totschlags aufbaute: Im vorliegenden Fall wäre nicht die medizinische, sondern die juristische Begrifflichkeit von innerer Festigkeit und Dauerhaftigkeit des Sterbewunsches maßgeblich, wie sie vom Bundesverfassungsgericht im Februar 2020 normiert wurde. Demzufolge wäre die Ambivalenz des Todeswunsches (die bekanntlich vor allem bei schwer körperlich Erkrankten auftritt, die eigentlich weiterleben wollen!) auch angesichts noch gegebener weiterer Therapiemöglichkeiten durchaus von Relevanz. Der Angeklagte habe dies auch wissen müssen, aber vorsätzlich missachtet oder zumindest nicht hinreichend geprüft. Juristisch gesehen käme es zudem nicht darauf an, wie erheblich eine nicht vollständig gegebene Freiverantwortlichkeit nun mehr oder weniger eingeschränkt sei.
Der Verteidiger von Turowski konterte daraufhin, dass eine vorliegende medizinische Fragestellung eben auch medizinisch – und das heißt hier nach psychiatrischem Facharztstandard – zu beantworten sei. Er verwies auf die Kernaussage des Gutachtens von Dr. Hütter. An die Laien-Richter gewandt mahnte der Anwalt, man müsse ja nicht von der völligen Unschuld des Angeklagten überzeugt sein, aber beim Urteil die Zweifel an seiner Schuld zugrunde legen. Erstaunlicherweise kam er zudem auf ein aus seiner Sicht "großes Problem" zu sprechen, welches auf keinen Fall zu Lasten seines Mandanten gehen dürfe: Aufgrund der beklagenswerten Untätigkeit des deutschen Gesetzgebers fehle es hierzulande an klaren prozeduralen Regeln für die Abläufe und einzuhaltenden Sorgfaltskriterien bei der Suizidhilfe (wie sie beispielsweise in anderen Ländern bezüglich eines obligatorischen Vieraugenprinzips mit zwei Ärzt*innen oder einer fallbezogenen Wartefrist gesetzlich vorgegeben sind). Solange ein solcher Freiraum bestehe und es entsprechende Regularien gar nicht gäbe, könne im vorliegenden Fall dem Angeklagten auch nicht vorgeworfen werden, dagegen verstoßen zu haben.
Am 8. April ist nun vor der 40. Großen Strafkammer des Berliner Landgerichts erstinstanzlich ein Urteil gefällt worden: Der Sterbehelfer Dr. Christoph Turowski ist wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren Haft verurteilt. Der Mediziner habe "die Grenzen des Zulässigen überschritten", sagte Richter Mark Sautter zur Begründung.
Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Über seinen Anwalt hat Turowski bereits im Vorfeld angekündigt, im Fall einer Verurteilung in Revision zu gehen. Die Tragfähigkeit der Begründung, mit der das Gericht weitgehend dem Antrag der Staatsanwältin meinte folgen zu sollen, wird sich wohl vor dem Bundesgerichtshof erweisen müssen.
Der engagierte Arzt, der zumindest auf ein "in dubio pro reo" hat hoffen dürfen, zeigte sich naturgemäß enttäuscht. Das letzte Wort von ihm vor Gericht endete damit, den spontanen Suizid in einer akuten psychopathologischen Episode von einem bilanzierenden, etwa bei depressiver Erkrankung, abzugrenzen: "Ich war der festen Überzeugung, dass bei Frau R. bei völliger geistiger Klarheit und Freiwillensfähigkeit der Suizidwunsch seit langer Zeit wohlerwogen ist, und sie in Bilanzierung ihrer Lebens- und Krankengeschichte und auch der Krankheitsprognose ihr Leben beenden will."
Siehe dazu auch: "Freiverantwortlichkeit bei assistierten Suiziden auf dem Prüfstand"