(hpd) Die Frage (und die Antwort darauf) „Wie viele Muslime leben in Deutschland?"
spielt nicht nur für aktuelle politische Diskussionen eine Rolle (Islam-Konferenz, Integrationsgipfel, etc.) sondern hat auch für andere Diskussionen (Religionsunterricht, Moschee-Bauten) eine wesentliche Dimension. Empirische Ergebnisse dazu gibt es. Sie besagen, dass nur eine Minderheit der Migranten als Muslime zu betrachten sind.
Wer auf die Frage, wie viele Muslime in Deutschland leben, eine eindeutige Antwort gibt, hat bereits Falsches gesagt. Die Antwort weiß bisher niemand genau und alle Zahlenangaben dazu beruhen auf Schätzungen - mit eigenartigen Grundannahmen. Dennoch werden an vielen Stellen diese Zahlen mit einer kommentarlosen Absolutheit veröffentlicht, so dass der Eindruck entstehen kann, es seien zuverlässige Zahlen. Das stimmt jedoch nicht.
Die Bundesregierung hat im April 2007 (BT-Drucksache 16/5033) Übliches und Widersprüchliches dazu veröffentlicht. Als Zahlenangabe wird anfangs „rund 3,4 Mio. Muslime in Deutschland" genannt, dann wird von „grober Schätzung" geschrieben und dass die genaue Zahl nicht bekannt sei, da die Ausländerbehörden die Religionszugehörigkeit nicht durch-gehend erfasst hätten. Sie werde „erst seit wenigen Jahren und auch nur als freiwillige Angabe gespeichert". Schließlich heißt es, in „Fortschreibung" der nicht weiter ausgeführten „Herleitung" der Zahlen für 1999/2000 „kann die Anzahl der in Deutschland lebenden Muslime derzeit auf 3,1 bis 3,4 Mio. Menschen geschätzt werden, darunter etwa 1,0 - 1,1 Mio. mit deutscher Staatsangehörigkeit." Schließlich folgt eine Aufstellung des Statistischen Bundesamtes zum 31. Dezember 2005 (Ausländerzentralregister - AZR -, Einbürgerungsstatistik) mit der Anmerkung: Diese Aufstellung „dient als Grundlage, wobei jedoch beachtlich ist, dass nicht bei allen der gezählten Personen von islamischer Glaubenszugehörigkeit ausgegangen werden kann."
Staatliche Herkunft als Religionszugehörigkeit
Dennoch werden in den amtlichen Feststellungen schlicht alle Migranten, die aus einem „mehrheitlich muslimischen" Land kommen, als „Muslime" gezählt. Da wird weder ein Unterschied zwischen - beispielsweise -, Sunniten, Schiiten, Aleviten und Ahmadis gemacht, noch wird reflektiert, dass die 33 % konfessionsfreien Deutschen es sehr eigenartig finden würden, wenn sie - aufgrund der „christlichen Mehrheit" in Deutschland -, pauschal insgesamt dem Christentum zugeordnet werden würden.
Da die Konfessionsfreien und Atheisten in Deutschland im Alltag eher türkische, iranische, libanesische und andere vorgebliche Muslime (als Migranten) kennen, die sich selbst zumindest nicht als religiöse Muslime oder überhaupt nicht als Muslime verstehen, vermerken sie diese vereinfachenden Zuordnungen als doppelt unzutreffend und problematisch.
Auch die Inkonsequenz, dass die ‚Muslime' die eine deutsche Staatsangehörigkeit bekommen haben, eigentlich anschließend als "Christen" gezählt werden müssten, bleibt unbemerkt.
Statistische Ausgangslage
Basis für diese vereinfachenden Zuordnungen sind Ergebnisse der Volkszählung vom Mai 1987. Sie werden als „Statistische Ausgangslage" betrachtet. „Damals bekannten sich 1.650.952 Personen zum Islam, darunter 47.966 deutsche Staatsbürger sowie 1.324.875 türkische Staatsangehörige. Unter den zu diesem Zeitpunkt in Deutschland lebenden 1.422.732 türkischen Staatsangehörigen bekannten sich somit etwa 93 % zum Islam." Anders berechnet waren 1987 von den sich in Deutschland zum Islam Bekennenden rund 80 % Migranten mit türkischer Staatsangehörigkeit.
Die hohen Prozentsätze formaler Merkmale dienen seitdem als Basis für die Verallgemeinerungen (so gut wie) alle Türken sind Muslime und (beinahe) alle Muslime sind Türken. Und weil das bei den Türken so ist - deren Staat nun explizit nicht als „muslimischer Staat" bezeichnet werden sollte - ist das bei allen anderen Migranten aus „muslimischen Staaten" ebenso.
Diese Vorgehensweise begrenzt sich nicht nur auf formale Merkmale, sondern übersieht, dass sich in den seitdem vergangenen zwanzig Jahren einiges geändert hat. Es sind nicht nur andere ‚muslimische' Migranten nach Deutschland gekommen (zum Beispiel aus Ex-Jugoslawien) und es sind gerade die Jüngeren (in Deutschland Geborenen), die ein anderes Verhältnis zur Religion haben (können) wie ihre Eltern, die zudem durch ihr Leben im deutschen Alltag davon (wahrscheinlich) auch nicht unbeeinflusst geblieben sind (Säkularisation).
Formale Zugehörigkeit erklärt keine Inhalte
Aus vielen religionssoziologischen Untersuchungen zur christlichen Religionszugehörigkeit ist hin-länglich bekannt, dass die formale Zugehörigkeit zu einer christlichen Religionsgemeinschaft noch nicht sehr viel über den christlichen Glauben und die tatsächliche Religiosität eines formellen Kirchenmitglieds aussagt.
Beispiele dafür sind für Deutschland die „Atheisten nach Religionszugehörigkeit", wobei sich zeigt, dass 57 % der Atheisten erwartungsgemäß „konfessionsfrei", d.h. ohne eine Kirchenmitgliedschaft, aber auch 29 % der Atheisten evangelische und 12 % katholische Kirchenmitglieder sind.
Gleichermaßen sind rund 4 % der „Konfessionsfreien" als „gottesgläubig" zu betrachten, während nur noch 23 % der Evangelischen und 36 % der Katholiken als „(gottesgläubige) Christen" zu benennen sind, da die anderen Kirchenmitglieder (77 % bzw. 64 %) an eine allgemein transzendentale Macht bzw. Geist glauben oder Zweifelnde, Agnostiker sowie Atheisten sind.
Während in Deutschland derzeit formal insgesamt noch rund 31 % Katholiken und 31 % Evangelische sowie 33 % Konfessionsfreie in der Bevölkerung gezählt werden – also rund 62 % „Amts-Christen" –, so sind es tatsächlich nur noch rund 24 % der Bevölkerung, die als „gläubige Christen" an einen persönlichen Gott glauben.
Für Religionen (wie dem Islam und dem Judentum), die formell keinen Eintritt oder Austritt kennen, werden die Anteile der impliziten „Konfessionsfreien" zudem deutlich höher sein, da sie sich formal nicht als „Nicht zugehörig" erklären können.
Ethnisch-kulturelle Religionszuordnung
Andererseits sagt das eigene religiöse Selbstverständnis noch nichts über die eigene oder fremd-bestimmte kulturelle Zuordnung aus. Die Feststellung einer Religionszugehörigkeit als bloße „ethnisch-kulturelle Herkunftsverortung" besagt noch nichts über die persönliche Religiosität.
So fuhr vor ein paar Jahren ein überzeugter Atheist aus Deutschland nach Indien. Dort plauderte man auch über die Alltagsgewohnheiten und der Atheist erzählte auf Befragen, dass er Schweinefleisch und Rindfleisch esse, Zigarren rauche und Alkohol trinke, woraufhin die Hindus in die Hände klatschten, lachten und feststellten: „Er ist ein Christ!" Der Atheist war sichtlich irritiert.
Da alle Weltreligionen neben ihren transzendentalen Glaubensvorstellungen auch eine Vielzahl von spezifischen Alltagsgeboten im Programm haben - seien es Reinheitsgebote, Essensregeln, Verhaltensanweisungen, Haartrachten, etc. - wird man landläufig einen Menschen, der beispielsweise kein Schweinefleisch ist, keinen Alkohol trinkt, penible Sauberkeit beachtet, eine dunklere Hautfarbe hat und einen schmalen Schnurrbart trägt... als Muslim betrachten - egal ob er im Sinne des Islam als gläubig zu betrachten ist oder nicht.
Gläubige Religionsmitglieder
In den Allgemeinen Bevölkerungsumfragen der Sozialwissenschaften (ALLBUS), die seit 1980 alle zwei Jahre durchgeführt werden, sind auch Fragen zur Religionszugehörigkeit - also auch zum Islam - , zum Gotteshausbesuch und weitere Variablen vorhanden.
Bekannten sich 1987 noch 93 % der in Deutschland lebenden Migranten aus der Türkei zum ‚Islam', so sind es 2006 nur noch 84 %. Waren 1987 von den ‚Muslimen' in Deutschland rund 80 % ‚Türken', so sind nach den Angaben des Ausländerzentralregisters 2006 für die Migranten, die aus einem ‚muslimischen Land' zugewandert sind, nur noch 72 % mit türkischen Hintergrund – was den ALLBUS Daten von 66 % sehr nahe kommt. Die ALLBUS-Zahl hat dann auch die höhere Plausibilität, da von den ALLBUS-Befragten mit Herkunftsland „Türkei" 16 % nicht den ‚Islam' als Religionszugehörigkeit benennen (9 % der Befragten mit türkischem Migrationshintergrund sind konfessionslos).
Religiosität
Die Frage nach der Häufigkeit des „Gottesdienst-" oder „Gotteshausbesuchs" lässt sich auch deshalb auf muslimische Religionszugehörige übertragen, da - nach Auskunft der Bundesregierung -, die Pro-Kopf-Relation von 2.600 Moscheen und „3,2 Millionen Muslimen" 1: 1.231 beträgt (was den christlichen Relationen von Kirchenmitgliedern zu Kirchengebäuden entspricht: evangelisch = 1 : 1.164, katholisch = 1 : 1.050) und die Muslime (außer auf dem flachen Land) insofern keine allzu großen Probleme haben dürften, eine Moschee in erreichbarer Nähe zu finden.
Für den Gottesdienstbesuch von Befragten mit der eigenen Religionsangabe „islamisch" ergeben sich folgende Verteilungen: Rund ein Fünftel der ‚Muslime' sind als „religiös" zu betrachten (18 %), ein weiteres Fünftel ist eher indifferent (20 %) und drei Fünftel leben keine religiöse Praxis (62 %).
Diese Ergebnisse entsprechen zum einen den Angaben, die in der Bundestagsdrucksache zur Zahl der „Teilnehmer des wöchentlichen Freitagsgebets" genannt werden (493.000) und die (auf 2,7 Mio. sich dem „Islam" zugehörig Bekennende bezogen) einen Anteil von 18,3 „Religiösen" unter den ‚Muslimen' ergeben.
Zum anderen entsprechen diese Verteilungen der Religiosität der Kirchenmitglieder der beiden großen Amtskirchen in Deutschland. Die Grundtendenz - dass die Mehrheit ein distanziertes Verhältnis zu ihrer organisierten Religion hat - ist die gleiche. Bei den ‚muslimischen' Religionszugehörigen scheint jedoch die Kluft zwischen „Religiösen" und „Nicht-Religiösen" deutlicher zu sein, d.h. die „Indifferenten" sind bei den ‚Muslimen' weniger häufig als bei den christlichen Kirchenmitgliedern.
Erstes Fazit
Eine Minderheit von rund einem Fünftel der sich selbst als ‚Muslime' Bezeichnenden ist in religiöser Hinsicht als tatsächlich und praktizierend „religiös" anzusehen, ein weiteres Fünftel hat ein eher distanziertes Verhältnis zur praktizierten Religion und drei Fünftel sind als Nicht-Religiöse anzusehen. Insofern wäre eine Unterscheidung vorzunehmen zwischen einem Fünftel „religiösen ‚Muslimen'" und drei Fünftel vermutlich „ethnisch-kultureller Muslime", für die eine entsprechende religiöse Praxis keine Bedeutung hat.
Insofern ist die Bezeichnung „Muslim" erheblich zu differenzieren. Nicht nur hinsichtlich der verschiedenen Glaubensgemeinschaften des Islam, sondern auch und gerade hinsichtlich der Religiosität, da gerade die religiöse Zuordnung bei mehr als drei Fünftel der ‚Muslime' keinen Sinn ergibt. Insofern ist die Forschung gefragt, diese Zuordnungen inhaltlich genauer zu klären.
Religiosität und sexuelle Selbstbestimmung
Das sexuelle Selbstbestimmungsrecht ist (neben den Rechten der Frauen) zuverlässiger Indikator für die Akzeptanz der Allgemeinen Menschenrechte einer Kultur und von Religionsgemeinschaften.
Sowohl die Bibel wie auch der Koran enthalten sehr präzise Verweigerungen dieses Menschenrechtes, indem die Homosexualität verdammt wird.
Die Antworten der Befragten, die sich einer bestimmten (oder keiner) Religion zugeordnet haben, zeigen unmissverständlich, dass mit (implizit unterstelltem) Ansteigen der „Schriftgläubigkeit" auch die Intoleranz gegenüber der sexuellen Selbstbestimmung ansteigt. In der Spitzengruppe dieser Intoleranz befinden sich an erster Stelle die Nicht-Christlichen Religionsangehörigen (zu 85 % sich als ‚Muslime' bezeichnend), gefolgt von den Mitgliedern evangelischer Freikirchen: beide Gruppen betrachten Homosexualität mehrheitlich als „schlimm".
Dass von Denjenigen, die Homosexualität als „sehr schlimm" empfinden knapp die Hälfte (47 %) „religiöse" ‚Muslime' sind, überrascht ebenso wenig wie die hohe Akzeptanz des „gar nicht schlimm" (86 %) durch die „nicht-religiösen" ‚Muslime'. Bemerkenswert sind dagegen die hohen Anteile dieser „nicht-religiösen" ‚Muslime' bei denjenigen, die eine negative Haltung zum sexuellen Selbstbestimmungsrecht der Menschen äußern.
Weitergehende Untersuchungen müssen klären, wie stark auch „Nicht-religiöse" ‚Muslime' durch den Islam kulturell geprägt wurden - eine Tatsache, die auch jedem deutschen Atheisten bewusst sein sollte, wie stark er eigentlich von christlichen Tradition kulturell beeinflusst ist.
Zweites Fazit
Unter dem Aspekt der Integration in eine eher aufgeklärte Gesellschaft, die zunehmend lernt, die Allgemeinen Menschenrechte zu respektieren - gezeigt an der Frage der Akzeptanz sexueller Selbstbestimmung -, sind die religiösen Muslime als Integrations-Problem zu betrachten. Sie befinden sich in einer Gruppe mit den Mitgliedern evangelischer Freikirchen und orthodoxer christlicher Religionsgemeinschaften. Allen gemeinsam sind eine ausgeprägte Schriftgläubigkeit und eine entsprechende kulturelle Prägung.
Die Jugendlichen mit Migrationshintergrund aus „überwiegend islamischen Ländern" sind in ihren Haltungen und Einstellungen recht gut erforscht. So zeigte beispielsweise die Studie zu „Junge Muslime in Deutschland", dass auch ‚muslimische' Religiosität mit einer Reihe von problematischen Merkmalen und Einstellungen verbunden ist:
- Mit steigender Religiosität verringert sich die sprachlich-soziale Integration, d.h. je religiöser, desto weniger integriert und integrierbar.
- Gewalt als Mittel der Kindererziehung („Viktimisierung durch Kindesmisshandlung") ist bei stark religiösen Muslimen deutlich stärker verbreitet.
- Bei jungen Migranten ist die Ausprägung der Religiosität umso höher, je niedriger das Bildungsniveau ihrer Eltern ist.
- Entsprechend sind stark religiöse Jugendliche „durch eine Mehrzahl von sozialen Benachteiligungsfaktoren gekennzeichnet".
Diese Feststellungen bedürfen einer generellen Erforschung.
Erst mit weiteren empirischen Forschungen lässt sich beispielsweise begründet klären, ob die Bauten der Großmoscheen nicht nur den Bedürfnissen einer Minderheit (eines Fünftel) der ‚Muslime' dienen, sondern auch, ob und inwiefern diese „Religiösen" Einstellungen und Werthaltungen vertreten, deren Institutionalisierung den Allgemeinen Menschenrechten und den entsprechenden Artikeln des Grundgesetzes widersprechen.
Drittes Fazit
Schließlich ist zu fragen, ob die deutsche Bundesregierung und die Landesregierungen - die religiöse Organisationen und Verbände der „Muslime" als Verhandlungspartner berufen -, nicht sprichwörtlich den „Bock zum Gärtner" im Irrgarten der Integration machen, da diese Organisationen nur rund 20 Prozent dieser Migranten repräsentieren. Religiöse Integrationskonzepte erreichen noch nicht einmal die gelebte Religionszugehörigkeit von 60 Prozent der sich zum Islam bekennenden ‚Muslime' - von den nicht-religiösen Migranten ganz zu schweigen. Die vordergründige Verwechslung einer ethisch-kulturellen Identifikation ‚muslimischer' Alltagsgebräuche mit einer Religion könnte sich als separierende Maßnahme erweisen, die religiöse Parallelwelten in ‚Ghettos' zementiert.
Carsten Frerk
Der Artikel ist eine Zusammenfassung der aktuellen empirischen Skizze „Muslime" in Deutschland - Eine Annäherung im Textarchiv der Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland (fowid.de).