Her mit dem Atheotainment!

DORTMUND. (hpd) Es war gestern auf dieser Seite von „versenkter“ kirchen- und religionskritischer

Literatur zu lesen, die versteckt in Buchläden liegt und nur direkt danach suchenden Käufern offenbart wird, wenn sie unmittelbar danach verlangen, weil sie hinter Bibeln, Koranen, Daudedschings, Gesprächen des Konfuzius, buddhistischen Erbauungen, anthroposophischen Nebelschriften, frei-religiösen Lehren über strahlende Steine und hinter allerlei gedruckten Spiritualitätshinweisen verborgen ist.

Die Redaktion zitiert eine Buchhändlerin: „Gebt mir eine Liste der wichtigsten 'Freidenker-Literatur' und ich sorge in meinem Umkreis für Korrekturen, der gute Wille bei Buchhändlern ist da.“ Shakespeares Richard III. mal strapaziert, klingt der Ruf wie (Freidenker entdecken sofort den berühmten Autor) „Einen Mauthner! Einen Mauthner! meinen Katechismus für einen Mauthner!“ Eine Liste wird der Dame nicht weiter helfen. Frage zehn Freidenker nach der wichtigsten „Freidenker-Literatur“ – und Du kriegst zwölf Listen. Die arme Frau würde ganz verwirrt werden.

Neuerdings wird häufiger nach Angeboten wissenschaftlicher Weltanschauungen gefragt. Ich kenne eine Buchhändlerin, hier ganz in der Nähe, die kann in ihrem Laden die beiden Gruppen gut unterscheiden, weil sie so eine pragmatische Art hat, an die Dinge des Lebens und den Verkauf von Schmökern heranzugehen, dass sie selbst die „Kurze Einführung in den Marxismus-Leninismus“ noch los wird. Sie erkennt deren Fans an den vergilbten Lederjacken, dem roten Schal und der Thälmann-Mütze – auch nur stilecht in abgegriffenem 1928er Leder mit 'nem Stern vorn drauf. Für solche Leute, das weiß sie, beginnt das freie Denken mit der Aneignung der wissenschaftlichen Weltanschauung und sie schickt sie ins Antiquariat.
Die andre Gruppe erkennt sie auch am Outfit, gerade weil sie meinen, sie hätten keins. Sie fallen als Studenten dennoch auf, als junge Mathematiker, Physiker, auf der Suche nach Anti-Intelligent-Design, keine angehenden Berufsphilosophen darunter, die würde sie erkennen, denn sie tragen schon ab 5. Semester Schlips, weil ihre Zukunft und erlernte Schulweisheit ihnen sagt, was richtig ist, um Professor für Kant und Heidegger zu werden.
Manchmal sind ganz besonders kluge Buben darunter. Ihr verklärter Blick ins eigene Innere zeigt, dass sie auch beim Stöbern beten, dass sie nicht zufällig im falschen Wälzer blättern, jedenfalls so lange nicht, bis sie zum Jesuiten taugen, den nichts umwirft: kein Weib, kein Deschner, kein Papst.

Unsere sachliche Dame Buchhändlerin hat eine Erkenntnis aus ihrer Biographie gewonnen, die ihren freien Blick auf die freidenkerische Liste etwas eintrübt (andere Freidenker würden eher sagen: ihn kritischer macht). Dieser Schattenwurf kommt aus ihrem Glauben, genauer ihrem früheren Glauben, dem Glauben, dass besseres Wissen den Glauben ersetzt. Sie erkannte schon vor Jahren – gerade durch das Studium freidenkerischer Literatur –, dass Aufklärung und Naturalismus, Vernunft und Rationalismus auch ihre Nachteile haben im persönlichen Lebensvollzug (wie es Soziologen gelegentlich nennen).
Sie war nämlich in einem Anfall von Erkenntnissucht auf den Freidenker Erich Weinert gestoßen, auf dessen Gedicht „zerstörtes Liebesglück“ aus den 1920er Jahren und der darin liegenden tiefen Weisheit für ihr eigenes Streben. In diesem Gedicht begehrt die Jungfrau Irene ihren freidenkerischen Liebhaber sehr sexuell und so schön wie in Liebesromanen beschrieben, die früher nur einen Groschen kosteten und die sie ständig verschlingt trotz anderer gut gemeinter Ratschläge.
Sie vermag ihn einfach nicht so zu lieben, wie dort beschrieben, weil sie dieser Freigeist, bevor er ihr an die Bluse ging, wissenschaftlich über den Befruchtungs- und Gebärvorgang aufklärte. Weinert ließ das Gedicht schließen mit dem schönen Satz: „Man solle die Aufklärung nicht auf die Spitze treiben, dem Volke müsse die Religion erhalten bleiben.“

Das traf sie damals hart, denn sie war, wenn auch nur leicht und des ehrenamtlichen Betriebs einer Freidenker-Bibliothek wegen, organisiert. Sie war umgeben von Bekennern einer freigeistigen Erweckungsbewegung, die ihr allerlei Gesetzmäßigkeiten erklärten vom Zusammenhang des Kapitals mit der Religion und der Pfaffen mit dem Staat. Das war ja alles sehr einleuchtend und sie war ganz bei der „Sache“ (und verabscheute das Lied darüber von diesem Degenhardt). Sie blieb fest in diesem Glauben, bis sie, rein literarisch, auf einen anderen Freidenker stieß, von dem ihre damaligen Freunde vor allem „Die Maßnahme“ lasen.
Es handelte sich um Bertold Brecht. Dieser ließ den Ziffel in den „Flüchtlingsgesprächen“ sagen : „Die Religion hat die stärksten Helden und feinsten Gelehrten hervorgebracht, aber sie war immer etwas anstrengend. An ihre Stelle tritt jetzt ein feuriger Atheismus, der fortschriftlich ist, aber zeitraubend.“ Das empfand unsere Dame auch so und wie Kalle, mit dem sich der Ziffel im Exil unterhielt, von Brecht bezeugt, trat sie auch aus der Freidenkerei aus, nicht so sehr, weil sie wie Kalle meinte, dass man uns „bei so viel Inbrunst und Gläubigkeit ... für eine besonders eifrige Sekte“ hielt. Es war vielmehr ihr damaliger Freund der Grund, ein konfessionsfreies Kirchenmitglied evangelischer Getauftheit. Er trat zwar nicht aus seiner Heilsgemeinschaft, sie aber aus der Freidenkerei aus, weil er sie „vor die Entscheidung gestellt hat, entweder ich bin Freidenker oder ich geh mit ... [ihm] am Sonntag“ joggen. „Ich hab lang“, klagte sie wie einst Kalle, „ein sündiges Gefühl gehabt, daß ich nichts mehr gegen die Religion mach.“

Diese Lebenserfahrungen haben sie der freidenkerischen Literatur teilweise entfremdet, teilweise einer anderen Variante nahe gebracht. Letzteres ließ sie nach neuerem Stoff und – leicht resigniert ob der eigenen Erlebnisse – dann doch auch nach einer Liste freidenkerischer Literatur fragen, wie auch von der Kollegin gewünscht, die gestern hier zitiert wurde. Aber tief nachsinnend und an Freidenker denkend, die nicht mit diesem Etikett herumlaufen, es aber dennoch sind, sprach sie zu sich:
„Was mache ich, wenn ich über all die fürchterlichen Kriminalgeschichten des Christentums voll aufgeklärt bin, wo ich doch diese und jene Geschichte bereits von Corvin ähnlich vernahm, sie aber nun bei Deschner gründlich vertieft und erweitert finde; was habe ich, wenn ich mich abgerackert habe in der Kirchenkritik, den Privilegien des Religionsunterrichts und der Konkordate, der unvollständigen Trennung von Staat und Kirche und den vielen Säkularisierungsanekdoten; und was will ich, wenn ich weiß, was ich schon wusste, dass alle Religionen unvernünftig sind und selbst klugen Leuten allerlei Dummheiten glauben machen; und was soll ich tun, wenn ich als Atheistin neben mir Mit-Atheisten sehe, die ganz braun sind im Denken?“

Dann, so redete sie sich tapfer zu, greife ich zum Humanismus, der wahren Kunst zu glauben, wie es aktuell heißt. Sie sprach's und machte sich auf die Suche danach und fand auch Versenkbares für den freien Platz hinter den Bibeln. Da lag es dann aber. Warum fragte niemand danach? Lag es daran, dass schon alle Ungläubigen irgendwie humanistisch waren, wenn auch nur „light" und nicht voll „bright"?

Da geschah ihr eine Erleuchtung: Wenn Theisten und Atheisten sich aneinander reiben, entsteht Wärme und Gemeinschaftsbedarf. Der Humanismus, den sie versteckt hatte, war nicht nur etwas kühl, sondern auf eine Weise schwierig zu rubrizieren, dass sie sich verhedderte und verunsicherte, welchem sie anhängen und was sie klugerweise hinter was versenken sollte, um es überhaupt rechtzeitig wieder zu finden, denn sie fand an Humanismen den evolutionären, weltlichen, modernen, politischen, praktischen, wirklichen, realen ...
Ach, sagte sie sich, wenn dieser Humanismus doch mehr verständlich wäre und so schöne Geschichten hätte wie die vom Erzengel Gabriel oder dem Buddha, bevor er „erwachte“, und solche Verfolgungsjagden aufwiese, wie sie der Paulus erlebt hat. Und wenn dann noch auf spannende Art darin vorkäme, ob ich Fleisch essen, mein neuer Freund sich einen Bart wachsen und meine Schwester bis zur Ehe Jungfrau bleiben soll oder etwas sagte zu dem, was sonst noch so im Leben vorkommt, und zwar ganz alltagsphilosophisch – ehrlich, ich wäre ganz hingerissen von diesem Humanismus. Etwas mehr Atheotainment, so beschloss sie ihre Gedanken, täte der reinen Lehre sicher nicht grundsätzlich ungut.

So kam es, dass die Frau Buchhändlerin der größeren Nachfrage wegen – sie lebte schließlich von Verkäuflichem –, dann doch erst einmal wieder Kirchen- und Religionskritisches versenkte. Denn das wusste sie auch: Verknappungsgerede und der bloße Geruch des Sensationellen erhöhen die Nachfrage.

Fritz Kummer