Rituale – religionsfrei betrachtet

(hpd) Die Ritualforschung hat sich endgültig aus dem Korsett der Religionswissenschaft und der Theologie sowieso befreit.

Wer sich heute dem Thema „Rituale“ widmet, stößt auf eine vielfältige Publizistik, die ein aktuelles Buch kenntnis- und materialreich zusammenfasst und religiöse Riten als vor allem historische einer übergreifenden kulturellen Matrix ein- und zuordnet.

Einordnung in die Diskussionslage

Umfänglich ist die Ratschlagliteratur mit Ritualvorschlägen. Es nehmen die wissenschaftlichen und praktischen Versuche zu, den strukturierten Alltag als Ritualabfolgen zu entschlüsseln. Es gibt einen Trend, Rituale als pädagogische Hilfsmittel zu nehmen (Schule als Ritual; Ritualisierung des Unterrichts). Selbst das Politische und das Soziale wird als Ritual beschrieben, z.B. um durch Rituale Konfliktlösungen zu befördern. Aus psychologischen Analysen und psychoanalytischen Anwendungen kommt die These, die zunehmende Individualisierung bedinge Rituale und erfordere das helfende Eingreifen Dritter. Die neuere Soziobiologie legt Beweise vor, wie sehr menschliche Rituale naturbedingt sind.
Dies alles jedenfalls hat eine breite wissenschaftliche Beschäftigung mit Ritualen hervorgebracht. Galten, nach dem Klassiker der Soziologie Durkheim, Rituale noch vor wenigen Jahrzehnten als „Verhaltensregeln, die dem Menschen vorschreiben, wie er sich den heiligen Dingen gegenüber zu benehmen hat", wobei Riten „das Bedürfnis des Gläubigen [befriedigen], in regelmäßigen Zeitabständen das Band wieder zu knüpfen und zu festigen, das ihn an die heiligen Wesen bindet“ – so ist heute das Wort Religion zur Beschreibung von Ritualen eher nebensächlich geworden. Und wer die Literatur verfolgt, findet Eliades Auffassung, Rituale seien die „Brücke zum Heiligen“ reichlich antiquiert und die Sicht Soeffners viel hilfreicher, der meinte, handle sich bei Ritualen um „Orientierungsvorgaben in unsicherem Gelände“.

Um 1970, so der Autor des vorliegenden Buches, habe sich eine praktische „rituelle Wende“ vollzogen (S. 179ff), die wiederum den Ritualbegriff selbst gründlich wandelte. Das habe die moderne Ritualwissenschaft hervorgebracht (S. 185ff), die nun ihrerseits (S. 202ff) nach ihrer eigenen Vergewisserung suche und die Ritualgeschichte neu schreibe. Dabei habe ein neuer Umgang mit „primitiven Kulturen“ (S.206ff) eine bedeutende Rolle gespielt.
Das von Privatdozent Dr. Burckhard Dücker (Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Neuphilologische Fakultät, Germanistisches Seminar) im letzten Herbst vorgelegte Buch fasst Rituale als Kanonbildung durch Ritualisierung und sieht in der Moderne eine Vielzahl ritueller Handlungsräume, denen sich umfänglich zu widmen der Autor unternimmt, sehr gelehrt mitunter und stark systematisierend und klassifizierend (was auch die Zählweise der Kapitel und Abschnitte bestimmt; s. pdf Inhaltangabe in der Anlage).

Die Ritualdynamik, derer sich der der Verfasser in historischer wie Kulturen vergleichender Perspektive widmet, versucht er einzufangen und textlich zu bannen. Da dem Leser nichts von dem entgehen soll, was der Autor selbst gelesen, rubriziert und die Befunde erörternd in den PC getippt hat, hat er dem Verlag ein umfassendes Sachbuch übergeben, das dieser (auch preislich hoch) sicher gern gedruckt hat, denn an diesem Werk kann niemand vorbei, den das Thema wissenschaftlich interessiert.
Zudem ist das Werk mit allem ausgestattet, was ein Sachbuch erfordert, inclusive eine umfängliche Bibliographie, ein Personen- und ein Sachregister. Der viele Stoff ist allerdings wenig leserfreundlich aufbereitet, auch vom Stil her, aber besonders hinsichtlich der winzigen Schrift und der Bleiwüste des Satzes. Wer darüber hinwegsieht bzw. Dank guter Brille lesen kann und sich durcharbeitet, der wird belohnt.

Erkenntnisse

Zunächst ist hervorzuheben, dass der Autor neue Fragestellungen ein- und eine Reihe von Disziplinen zusammenführt, die den Leser in ein breites Spektrum ritueller Phänomene einführen. Die Veränderung von rituellen Praktiken nach der Säkularisierung (ohne diesen Begriff zu verwenden) wird hinsichtlich der Funktionen des Rituellen im Rahmen eben jener symbolischen Handlungen aufgezeigt, die der gesellschaftlichen kulturellen Gruppenbildung und Zusammenführung von Gemeinschaften dienen. Der säkularisierte Ritualbegriff vermag nahezu jede Alltagshandlung durch „Aufwertung oder Wertsteigerung“ als Ritual zu fassen.
Der Ritualbegriff bezeichnet „einen durch Formung hergestellten Handlungsmodus und einen daraus folgenden Handlungstyp“ (S.31). Bezogen auf die (im Buch ebenfalls nicht erörterte) Debatte über die Religion als eine anthropologische Konstante) werden Rituale als zivilisationsgeschichtliche Universalie beschrieben, die weit über religiöse Kontexte (die durchaus beachtet werden) hinausreichen und auf Formen des „kulturellen Gedächtnisses“ (Assmann) zielen (ausführlich zu Eliade S. 128ff und zu religiösen Kontexten S. 139-176, bezeichnenderweise im Kapitel „historische Rituale“).

Rituelles Handeln ist in allen gesellschaftlichen Bereichen möglich, wobei Rituale gemacht werden und mit den Beteiligten etwas machen (S. 28ff). Sie sind übbar, weil wiederholbar. Sie sind bei Dücker strenger geregelt als in anderer Literatur zum Thema, sehr formalisiert. Sie erfordern den Einsatz gestischer, szenischer und überhaupt dramaturgisch funktionierender Medien und Zeichen. Sie haben einen Raum, finden mit Gegenständen statt, wobei diese vom Autor ebenfalls ihres religiösen Anstrichs beraubt werden. Nahezu jeder Gegenstand ist zum rituellen Gebrauch fähig, jeder Spaten, jeder Helm, jeder Stiefel, jede Maske, usw. usf. Selbst das Internet sei ritualfähig zu gebrauchen (S. 214ff).
Der Autor findet Rituale und rekonstruiert sie sowohl hinsichtlich ihres Verlaufs, ihrer Wirkungsweise, aber besonders der bedeutsamen Situationen, in denen sie stattfinden und den Handlungen – z.B. innerhalb von Migration, Kulturation, Medienwechsel, Informationstransfer u.a. sozialen Vorgängen – , die sie zum Ritual erheben.
Zwar ist es sicher forschungsmäßig gesehen zu früh, bereits eine kulturübergreifende Ritualtypologie formulieren zu wollen (was der Autor zu unternehmen sich allerdings vom Anspruch her anschickt), doch zumindest ungewöhnliche Einblicke in verschiedene traditionelle und moderne Sozialsysteme mittels Vergleich und Bewertungen rituellen Handelns werden reichlich gegeben – wenn sich der Leser, wie gesagt, wahrlich „durcharbeitet“ durch die Komponenten und Funktionen, in denen sich Rituale bilden: Symbole, Ordnungen, Zeitstrukturen, Wiederholungen, Traditionen, Orte, Personal, Präsentation, Außeralltäglichkeit, Wertsichtbarkeit, Kontexte, Motive, Medien und Wirksamkeit (genauer S.32-67; als ausführliches Beispiel die Ersteinschulung, S.67-73).

Dücker ist nicht nur resistent gegenüber Einflüsterungen religiös oder postmodern frei-religiös motivierter Kulturwissenschaft, die immer irgendwie nach einem höheren Sinn in rituellen Handlungen sucht, den es für den Autor insofern nicht gibt, als er fragt, was stattfindet und was das soziale Ergebnis ist und nicht, was die vorgegebenen Absichten der Organisatoren sind. Der Verfasser verschließt sich aus genau diesem Grund auch den ansonsten auf diesem Gebiet allgegenwärtigen Psychologien. Der Rezensent hat den Eindruck, dass ihm dies zu vage, zu voluntaristisch und einfach zu sehr der Interpretation ausgesetzt ist, um empirisch feststellbar zu sein.

Fazit und praktische Anwendung

Abschließend soll der Autor selbst zu Wort kommen (S. 219):
„Während in indigenen Kulturen das notwendige Ritualwissen im Rahmen der Vorbereitung der Initiation vermittelt wurde, spielt in modernen westlichen Gesellschaften die institutionell geregelte Vermittlung von Ritualwissen allenfalls im schulischen Religionsunterricht als Einführung in die Liturgie und Vorbereitung auf entsprechende gottesdienstliche Praxis eine Rolle, erreicht aber angesichts von massenhaften Kirchenaustritten nur einen begrenzten Kreis, wie [Annegret] Freund (2004 [in: Kirche – Amt – Abendmahl]) in ihrem Forschungsüberblick über Ritual- und Sakramentsdidaktik dargetan hat.
So wie »Erkundungsgänge ins Kirchgebäude« (Freund 2004, 116) Anlass zur Information über rituelle Handlungen sein können, so bieten sich in allen Fächern oder zentriert auf ein zu schaffendes Schul- und Studienfach >Ritualwissenschaft< vielfältige Gegenstände und Anknüpfungspunkte an: Eigene Erfahrungen der Lerner mit Ein- und Umschulungen, Entlassungen, Situationen im jeweiligen Institut (Begrüßung, Entschuldigung, Feste usw., vgl. [Christoph] Wulf u.a. 2004a [in: Bildung im Ritual]).
Familienrituale, auch Weihnachts- und Osterfest, Bestattungen usw., Erkundungsgänge durch die Bildungseinrichtung (Aula, Rednerpult, Fotos berühmter Absolventen, Jubiläen usw.) und den Wohnort (Standesamt, Rathaus, Denkmäler, andere Erinnerungsorte und zugehörige Rituale, Stadtfeste), Besuch von Gerichtsverhandlungen (juristische Rituale), Sitzungen politischer Gremien (politische Rituale), Preisverleihungen.“

Nicht mehr und noch nicht

„Zwischen nicht mehr und noch nicht“ heißt seit 2000 das jährlich an Teilnehmende der Jugendfeiern des HVD ausgegebene Begleitbuch (PDF im Anhang ). Fast genauso („Nicht mehr und noch nicht“) heißt ein Artikel von Burckhard Dücker zum „Handlungstyp Warten“ in dem es um eine „Anthropologie der Übergangsphase“ geht: „Erfahrungen mit Situationen des Wartens gehören zur Alltagsnormalität jedes Menschen, unabhängig von Alter, Geschlecht und gesellschaftlicher Stellung. Warten gilt häufig nicht als Bereicherung des Erfahrungsschatzes, weil es keine neuen Erfahrungen zu vermitteln scheint, sondern nur von der Erledigung der eigentlichen Aufgabe abhält. Wer warten muss, möchte entweder seine Zeit anders verbringen oder schon an einem anderen Ort sein. Warten gehört daher zu den Situationen, die man eher zu vermeiden sucht.“

Wie zu erwarten war, ordnet der Autor die Wartehandlungen in Übergangsrituale ein, worüber hinsichtlich der Zukunft der Jugendweihen tatsächlich nachzudenken wäre, denn worauf wartet da eigentlich, wer die Passage ins Erwachsensein hervorgehoben erwartet? Überall Rituale und Ritualtheoretisches ...

Horst Groschopp