1968 - Differenziert betrachtet

(hpd) Die Achtundsechziger Bewegung wird – je nach gewählter Perspektive oder vorhandenen Standpunkten – einseitig gedeutet: Die Einen betonen

den Aufbruch zu neuen Ufern, die Anderen die politisch gefährlichen Allmachtsphantasien. Die Einen stilisieren die Proteste zu einem nachträglichen Gründungsamt der Demokratie, die Anderen sehen darin die Ursache für alle späteren gesellschaftlichen Fehlentwicklungen. Die Einen betrachten die Ereignisse als Ausgangspunkt für Befreiung und Emanzipation, die Anderen halten sie für den Beginn von Gewalt und Terrorismus. Differenzierte Betrachtungen lassen sich nur selten ausmachen - noch dazu von seinerzeit Beteiligten: Hier schwanken die Sichtweisen ebenfalls zwischen Glorifizierung (z.B. Reinhard Mohr) und Verdammung (z.B. Götz Aly) hin und her. Eine Ausnahme bildet das Buch „Achtundsechzig. Eine Bilanz" von Wolfgang Kraushaar, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung mit dem Arbeitsschwerpunkt Protestbewegungen in der Bundesrepublik Deutschland.

 

Am Beginn steht eine kurze Skizze zur Hippiebewegung in den USA Mitte der 1960er Jahre, hätte sie doch schon das vorgenommen, was sich in Deutschland erst später herausbildete. Danach geht Kraushaar auf die unterschiedlichen Deutungen der Achtundsechziger Bewegung ein und arbeitet deren politischen und wissenschaftlichen Hintergrund heraus. Die Ursachen für die Herausbildung der Protestbewegung von der gesellschaftlichen Stagnation über die unbewältigte NS-Vergangenheit bis zum US-amerikanischen Vietnam-Krieg stehen anschließend ebenso im Zentrum wie die Ursprungsmythen von der Gewalt über die Sexualität bis zur Dritten Welt. Auch den kulturrevolutionären Impulsen von Kommunen, Kinderläden und Räten sowie den Kampagnen gegen den Springer-Konzern, die Notstandsgesetze und die NPD widmet der Autor große Aufmerksamkeit. Besonders detailliert thematisiert er auch die unterschiedlichen Folgebewegungen nach dem Zerfall von den K-Gruppen über die Sponti-Bewegung bis zum Linksterrorismus.

Diese Ausführungen sind überwiegend beschreibend gehalten, bringen aber immer wieder auch kurze Bewertungen von beachtenswerter Klarheit und Treffsicherheit. Hierzu gehören die Ausführungen zur Kritik am Rätemodell (vgl. S. 148f.) ebenso wie die Interpretation des Absolutheitsanspruchs der RAF (vgl. S. 212). Beachtens- und diskussionswürdig ist auch die Einschätzung: „Rousseau, die Romantik und die Religion - hier schließt sich die ursprungsmythologisch aufgeladene Form der Radikalität" (S. 284).

Differenziertes Gesamturteil

Das Gesamturteil über die Achtundsechziger Bewegung fällt differenziert aus: „Neben einigen, bislang zumeist verkannten politischen Erfolgen kennzeichnet eine bis ins Extreme gesteigerte Doppeldeutigkeit ihres romantisch gestimmten soziokulturellen Aufbruchs bis heute ihre Bilanz. Wie in einem Zeitraffer hat sie einerseits die Türen zu einer subjektbestimmten Modernität weit geöffnet, andererseits jedoch auch Abgründe wie den Terrorismus sichtbar werden lassen, die seitdem wie ein Schatten auf ihrer Geschichte lasten" (S. 298).

Kraushaar erweist sich auch in diesem Buch als ausgezeichneter Kenner der Protestbewegung von Achtundsechzig. Über weite Strecken liefert er - trotz seiner problemorientierten Strukturierung des Textes - nicht unbedingt neue Erkenntnisse. Gerade die Einbettung der Protestbewegung in die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der damaligen Zeit hätte noch genauer erfolgen können. Gleichwohl handelt es sich um ein bedeutendste Buch zum Thema, was allerdings erst in den letzten beiden Kapiteln deutlich wird. Kraushaars Hinweis, nicht Marx, sondern Rousseau sei der eigentliche geistige Vater der Revolte gewesen, verdient ebenso große Beachtung wie die Interpretation, welche die Bewegung als eine verschobene Form des romantischen Rückfalls deutet. Letzteres hatte seinerzeit schon Richard Löwenthal aus der Perspektive eines linken und rationalen Kritikers betont. Daraus erklären sich eine Reihe bedenklicher Aspekte wie der anmaßende Absolutheitsanspruch und religionsähnliche Erweckungsgeist, der utopische Überschuss und realitätsfremde Voluntarismus.

Transnationale Perspektiven

Kraushaar konzentriere sich in seiner Darstellung auf die deutsche Situation. Wer etwas aus der transnationalen Perspektive über die Achtundsechziger erfahren will, kann zu dem von der Bielefelder Historikerin Ingrid Gilcher-Holtey herausgegebenen Sammelband „1968. Vom Ereignis zum Mythos" greifen. Er enthält 19 Aufsätze von Historikern und Sozialwissenschaftlern, die sich mit Entwicklung und Ursachen, Praxis und Programmatik sowie Macht und Mythos der damaligen Protestbewegungen in den westlichen Ländern beschäftigen. So erfährt man auch viel über die Situation in Frankreich, Italien oder den USA. Zwar wird das Versprechen der Herausgeberin, wonach man eine länderübergreifende systematisch-vergleichende Untersuchung der Achtundsechziger vornehmen wolle, nur von einigen auch komparativ angelegten Aufsätzen erfüllt. Gleichwohl liefert der Band wichtige Erkenntnisse, die einen verengten Blick auf die deutsche Situation überwinden helfen und die Vielfalt der Protestbewegungen in Aktion und Programmatik deutlich machen.

Armin Pfahl-Traughber

 

Wolfgang Kraushaar, Achtundsechzig. Eine Bilanz, Berlin 2008 (Propyläen-Verlag), 334 S., 19,90 €

Ingrid Gilcher-Holtey (Hrsg.), 1968. Vom Ereignis zum Mythos, Frankfurt/M. 2008 (Suhrkamp-Verlag), 414 S., 14 €