Der Mythos des Mozart-Effekts

Will Dowd über die Frage, ob Mozart hören wirklich intelligent macht, oder ob das alles nur ein Mythos ist?

Wann immer er vor einem hartnäckigen Problem stand, griff Einstein, so heißt es, zu seiner Geige. Er spielte, um sein Gehirn zu entwirren und um sich das aktuelle Problem zu verdeutlichen. Vor allem Mozart gelang dieses Kunststück. Einstein liebte Mozarts durchorganisierte, intensiv gestaltete Sonaten. Er fühlte, wie viele vor ihm, dass Musik und ein denkender Intellekt verbunden waren. Musik und seine wissenschaftliche Arbeit, so meinte er, „entstammten der selben Quelle“.

Mit dem selben Glauben versammelte Dr. Gordon Shaw, ein Psychologe der kalifornischen Universität Irvine, 36 Studenten im Februar 1993 für ein Forschungsexperiment. Man gab den Studenten drei Aufgaben zum räumlichen Denken aus den Stanford-Binet Intelligenztests. Vor jeder Aufgabe hörten sie zehn Minuten entweder Stille, ein Entspannungsband, oder Mozarts Sonate für zwei Klaviere in D-Dur. Einer Arbeit zufolge, die später in diesem Jahr in Nature veröffentlicht wurde, steigerte das Hören von Mozart den IQ der Studenten durchschnittlich um acht bis neun Punkte. Die Verbesserung hielt zwischen zehn und fünfzehn Minuten an, so die Forscher. Die Ergebnisse wurden weithin als Belege für das dargestellt, was die Presse den „Mozart Effekt“ nannte. Die International Herald Tribune behauptete zum Beispiel, „Mozarts Noten sind gutes Gehirnfutter“.

Don Campbell, ein Musiker, der klassische Musik spielte und früherer Musikkritiker, erkannte als Erster den kommerziellen Erfolg der Forschung. Campbell erweiterte die Definition des Mozart-Effekts um den Einfluss sämtlicher Musik auf Intelligenz, Gesundheit, Emotionen und Kreativität. 1996 ließ er sich den Begriff markenrechtlich schützen. Heute kann der Mozart Effekt (TM) die tödliche Ausbreitung jeder erfolgreichen Marke vorweisen. Campbell war der Urheber von 18 Büchern, einer Reihe besprochener Bänder und von 16 Alben mit Mozarts Musik. Das kleine kommerzielle Imperium enthält das jüngste Mozart Effekt für Kinder, welches in einem Kapitel namens „Glitzer, Glitzer, Kleines Neuron“ erklärt, dass Mozarts Musik das neurale Netz erweitert, das sich im Gehirn eines Kleinkinds bildet. Seine Aufnahmen, darunter Don Giovanni für den sich entwickelnden Fötus, haben sich über zwei Millionen Mal verkauft.

Seit der Studie von U.C. Irvine hat sich der Mozart-Effekt im Bewusstsein der Öffentlichkeit festgesetzt. Zell Miller, der Präsident von Georgia, nutzte 105 000 US-Dollar des jährlichen Budgets des Bundesstaats dafür, jedes Neugeborene mit einer Kassette oder CD mit klassischer Musik auszustatten. „Niemand bezweifelt, dass Musik hören, vor allem in einem jungen Alter, das raumzeitliche Denken beeinflusst, welches der Mathematik, der Technik und dem Schach zugrunde liegt“, erklärte er der Legislative von Georgia. In Florida wurde ein Gesetz verabschiedet, das von allen staatlichen Bildungsprogrammen und von allen Kinderbetreuungs-Anbietern verlangte, Kindern unter fünf eine tägliche Dosis klassischer Musik zu verabreichen. Vor kurzem fing Eric Mangini, der Trainer der New York Jets an, für seine Football-Spieler klassische Musik zu spielen, damit sie sich bei Übungen im Trainingslager besser konzentrieren konnten. Noch ist nicht klar, ob Mozarts Melodien die Ergebnisse dieser Saison beeinflussen werden.

Was die Wissenschaft wirklich sagt

Während der Mozart-Effekt kommerzielle Erfolge feierte, wurde die Studie von U.C. Irvine vielerorts kritisiert. Die beeindruckenden Ergebnisse der ursprünglichen Arbeit waren irreführend. Zunächst einmal behaupteten die Forscher, dass sich die Studenten in allen drei Tests im räumlichen Denken gebessert hatten. Wie Shaw später klarstellte, gab es nur eine Verbesserung bei einer Aufgabe: Dem Falten und Schneiden von Papier. Außerdem präsentierten die Forscher ihre Daten in Form der Stanford-Binet IQ-Ergebnisse; allerdings maß die Studie das räumliche Denken, ein Drittel eines ganzen IQ-Tests. Um die gesamten Ergebnisse zu erreichen, wurden die Teilergebnisse der Studenten um den Faktor drei aufgepumpt.

Die Methodologie der Studie ist ebenfalls unter Beschuss geraten. Einigen Kritikern zufolge könnte die Testgruppe von 36 Psychologiestudenten nicht groß oder verschiedenartig genug gewesen sein, um glaubhafte Ergebnisse zu erzielen. Sogar Don Campbell hat den Mangel an Kontrollen bei dem Experiment angegriffen. In den Fußnoten seines Bestsellers von 1997, Der Mozart-Effekt, weist Campbell darauf hin, dass die Forscher von U.C. Irvine „keine Hörtests vor der Studie durchführten, wie es viele Forscher in dem Gebiet empfehlen. Noch überprüften sie, wie Körperhaltung, Nahrungsaufnahme oder die Tageszeit ihr Hören beeinflussten.“ Natürlich glaubte Campbell, dass der Mozart-Effekt noch viel deutlicher geworden wäre, hätte man diese Kontrollen angewandt.

Viele Wissenschaftler haben alternative Erklärungen für die Ergebnisse der Studie vorgeschlagen. Wer sagt denn, dass Mozarts Sonate die Unterschiede in den Ergebnissen hervorrief? Vielleicht verringerte stattdessen das Hören eines nervtötenden Entspannungsbands oder von zehn Minuten tödlicher Stille die Leistungen der Studenten. Vielleicht spürten die Studenten auch eine Veränderung in ihrer Laune und Erregung statt einer Schwankung in ihrer Intelligenz. Eine Studie fand heraus, dass das Hören einer Kurzgeschichte von Stephen King einen vergleichbaren Effekt auf die Ergebnisse beim räumlichen Denken hat, aber nur für diejenigen, die mochten, was sie hörten. Ist es möglich, dass das Hören von Mozarts Sonate die Subjekte der U.C. Irvine Studie einfach stimulierte oder aufheiterte? Schließlich wählte Shaw diese bestimmte Sonate nicht nur aufgrund ihrer organisierten, zelebralen Qualität aus, sondern weil sie „fesselnd“ und „nie langweilig“ ist.

Der größte Schaden wurde dem Mozart-Effekt jedoch zugefügt, weil andere Forscher die Ergebnisse der Irvine Studie nicht reproduzieren konnten. Der Psychologe Kenneth Steele und seine Kollegen kopierten das Experiment im Jahre 1999 und entdeckten keine Spur des Mozart-Effekts. „Ein Requiem wäre darum angemessen“, schrieb Steele in Nature. Dr. Frances Rauscher, die Co-Autorin der Irvine Studie, antwortete, dass der Mozart-Effekt nicht unter allen Laborbedingungen gefunden werden kann. „Nur weil nicht alle Menschen Brot zum aufschäumen bringen können“, schrieb sie, „negiert das nicht die Existenz eines 'Hefe-Effekts'“.

Allerdings analysierte im selben Jahr ein Harvard-Psychologe 16 Studien rund um den Mozart Effekt, darunter das Originalexperiment, und folgerte, dass jede kognitive Verbesserung gering war und sich innerhalb der durchschnittlichen Schwankung der IQ-Testergebnisse einer Einzelperson bewegten. 2007 führte das deutsche Bundesministerium für Bildung und Forschung eine ähnliche Metaanalyse durch. Seine Ergebnisse waren eindeutig: Das passive Hören irgendeiner Art von Musik, sei es Mozart oder Madonna, erhöht die Intelligenz nicht.

Der deutsche Bericht verwies allerdings auf eine Verbindung zwischen musikalischer Übung und der Entwicklung des IQs. Jüngsten Studien zufolge könnten die motorischen und auditorischen Fähigkeiten, die man bei der Einübung von Musik erlernt, einen Langzeiteffekt auf die Intelligenz haben. Tatsächlich haben Gehirnaufnahmen gezeigt, dass professionelle Musiker mehr graue Substanz in ihrem rechten auditiven Kortex haben als Nichtmusiker, als würde das Üben eines Instruments einen Gehirnmuskel trainieren. Es ist zunehmend wahrscheinlich, dass die Langzeit-Einübung von Musik spielen, statt nur Musik hören, die Art von Wirkung haben kann, die man vom Mozart-Effekt annahm. Einstein ordnete seine Gedanken schließlich, indem er Geige spielte, und nicht, indem er einer Aufnahme zuhörte.

Ironischerweise wollten die Forscher der U.C. Irvine ursprünglich testen, ob die Einübung von Musik bei jungen Kindern ihre höheren Gehirnfunktionen steigern würde. Als Shaw, ein Teilchenphysiker, später in seiner Karriere ein Interesse an Neurowissenschaft entwickelte, gab ihm U.C. Irvine die Möglichkeit, das zu untersuchen, was er wollte. Jedoch musste er laut seinem Buch Mozart im Gedächtnis behalten mit „äußerst begrenzten Mitteln“ zurecht kommen. Also verringerte Shaw seinen Ehrgeiz. Er dachte, „wenn die Einübung von Musik eine Langzeitverbesserung des räumlichen und zeitlichen Denkens einbringen könnte, vielleicht könnte sogar das Hören von Musik einen Kurzzeiteffekt hervorrufen!“ 14 Jahre und Dutzende von Studien später ist klar, dass diese Analogie ihr Ziel verfehlte.

Magischer Mozart

Was erklärt die beständige Anwesenheit des Mozart Effekts im öffentlichen Bewusstsein, obwohl es an soliden wissenschaftlichen Belegen mangelt? Kein Kunstliebhaber erwartet ein besseres Erinnerungsvermögen, wenn er ein Gemälde aus der Renaissance anglotzt. Kein Leser erwartet, einem klassischen Roman IQ-Punkte zu entsaugen. Warum werden also Mozart-Effekt (TM) Produkte von Millionen gekauft?

Vielleicht ist es nicht überraschend, dass Mozart, eine in Mythen gehüllte historische Figur, im Zentrum eines weiteren stehen sollte. Der aktuellen Flut von Biographien zufolge, war der echte Mozart ein unablässiger Verbesserer, der von seiner Arbeit besessen war. Die Details der Mozart-Legende jedoch – sein erstaunliches Talent als Wunderkind, seine fehlerlosen ersten Entwürfe – haben den populären Glauben genährt, er sei eine fein abgestimmte Antenne gewesen, die Teile des himmlischen Gesangs empfängt. Einstein hat die Lage nicht verbessert. Er beschrieb Mozarts Musik als „so rein, dass sie schon immer im Universum vorhanden gewesen schien und nur darauf wartete, vom Meister entdeckt zu werden.“

Die Schöpfer des Mozart-Effekts haben die bestehende Mystik um den Komponisten eifrig ausgenutzt. Campbell führt die Quelle von Mozarts Talent auf seine Zeit im Mutterleib zurück: Das Geigespiel seines Vaters „beschleunigte fast mit Gewissheit seine neurologische Entwicklung und erweckte die kosmischen Rhythmen vor der Geburt“. Shaw stellt Mozart auch als übernatürlich begabt dar. Mozart im Gedächtnis behalten wird mit einer CD der Sonate für zwei Pianos in D-Dur ausgeliefert. „Bevor Sie weiterlesen“, schreibt Shaw im Vorwort, „schlage ich vor, dass Sie die CD aus dem Buch nehmen, es sich bequem machen und dem magischen Genius von Wolfgang Amadeus Mozart lauschen.“ Für Shaw ist Mozart kein musikalisches Genie, er ist ein magisches Genie, von dessen Musik kurze Momente erweiterter mentaler Kräfte herab regnen.

Doch Mozart ist nicht das einzige magische Genie. Die Umwandlung einer fragwürdigen psychologischen Studie in eine Multi-Millionen-Dollar-Industrie hat auch einen Hauch von Magie. In Der Mozart Effekt fasst Campbell die Schlussfolgerungen von Shaw und Rauscher zusammen – das wissenschaftliche Rückrat seiner Marke – wenn er schreibt: „Musik hören, folgern sie, wirkt wie 'eine Übung' um symmetrische Operationen zu vereinfachen, die mit höheren Gehirnfunktionen in Verbindung stehen. In einfacher Sprache: Es kann Ihre Konzentration verbessern, Ihre Fähigkeit zu intuitiven Denksprüngen erweitern, und nicht zuletzt ihrem Golfspiel den letzten Schliff verpassen!“

Campbells Übersetzung der U.C. Irvine Studie in „einfache Sprache“ ist ungenau und unehrlich, ein Abrakadabra, das zweifelhafte Forschung durch Fantasie ersetzt. Der Mozart-Effekt (TM) hat lange fortbestanden, als die Originalstudie schon widerlegt war, weil es niemals wirklich um Wissenschaft ging. Wenn uns der Mozart-Effekt irgendetwas lehrt, dann ist es der Umstand, dass eine elegante Metapher immer ein geläufiger Ausdruck werden kann, ein urheberrechtlich geschütztes Produkt, ein populärer, mit Magie angereicherter Glaube, den man nur schwer wieder verbannen kann.

Übersetzung: Andreas Müller
Quelle: Will Dowd. The Myth of the Mozart Effect. Skeptic.com. 8. Februar 2008

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