„Feuchtgebiete"

(hpd) Das Interesse aber auch die Aufregung um den Debütroman „Feuchtgebiete" der ehemaligen Viva Moderatorin Charlotte Roche ist groß

. Die gebürtige Engländerin ist Gast in jeder Talksendung und ihre Lesungen sind Wochen im Voraus ausverkauft.

 

Allerdings ist die Aufnahme von Roches Roman sehr unterschiedlich. Sie bewegt sich zwischen großer Begeisterung und entsetzter Ablehnung. Was für die einen den Anfang eines neuen Selbstbewusstseins junger Frauen markiert, der sich gelungen und mit Witz gegen den Anspruch zur Wehr setzt, immer schön, hygienisch rein, schlank und inzwischen auch frei von jeglicher Körperbehaarung zu sein, ist für die andern einfach nur eklig und provokant.

Wie man sich entscheidet, bleibt letztlich jedem selbst überlassen. Die Probleme und Tabus, die in dem Buch angesprochen werden, verdienen aber unabhängig davon, besprochen bzw. gebrochen zu werden.

Denn es gibt wohl kaum eine junge Frau, die sich nicht irgendwo und irgendwann in Charlotte Roches Roman angesprochen fühlen dürfte und die es als Befreiung erlebt, dass hier jemand mal so vollkommen unverkrampft und offen über alles das plaudert, was jede Frau mehr oder weniger täglich beschäftigt, was aber dennoch mit viel Scham und Tabus besetzt ist. Kurz gesagt, es geht um die Öffnungen und alltäglichen Ausscheidungen des menschlichen Körpers und um die Freuden und Nöte, die man damit hat bzw. haben kann.

Heldin des Romans ist die achtzehnjährige Hellen, die sich bei einer Intimrasur, eine Fissur, d.h. einen kleinen Schnitt im Hintern zugezogen hat und deshalb auf der inneren Abteilung im Krankenhaus liegt.

Neben der Beschäftigung mit ihrem schmerzenden Poloch, ihrer Hämorride, ihren Avocadokernen, aus denen sie Pflänzchen züchtet, und dem Versuch ihre geschiedenen Eltern wieder zusammen zu bringen, gibt Hellen dem Leser Einblicke in ihre zum Teil sehr eigenen sexuellen Experimente und setzt sich mit den Problemen, die eine Frau mit ihrer Körperbehaarung und Hygiene hat, auseinander.

Unerschrocken wie ein kleines Kind

Neugierig, unbedarft und unerschrocken wie ein kleines Kind erforscht sie die Körperöffnungen, Ausscheidungen und Sekrete des menschlichen Körpers, wobei sie nicht nur alles genau sehen und fühlen, sondern auch schmecken will. Dabei geht sie sehr professionell vor: „Ich greife mir immer in die Muschi, wenn ich auf Klo sitze, kurz vorm Pinkeln mach ich den Test. Mit dem Finger darin rumprorkeln, so viel Schleim wie möglich rausbuddeln, dran schnuppern. Riecht meistens gut, wenn ich nicht grad viel Knoblauch gegessen habe oder Indisch. Die Konsistenz ist sehr unterschiedlich, mal wie Hüttenkäse, mal wie Olivenöl, je nachdem, wie lange ich mich nicht gewaschen habe (...) Dann alles vom Finger ablutschen und wie ein Gourmet im Mund hin und her schmecken. Schmeckt meist sehr gut. Außer manchmal, da hat der Schleim so einen säuerlichen Nachgeschmack, bin noch nicht dahinter gekommen, wo das herkommt. Werde ich aber noch rauskriegen."

Auch begutachtet sie sich selbst regelmäßig mit einem Spiegel von unten oder geht zu Prostituierten, um sich bei ihnen eine Scheide aus der Männerperspektive anschauen zu können. Sie macht sich selbst zum lebenden „Muschihygieneselbstexperiment" und stellt dabei allerlei interessante Experimente mit ihrer Scheide an oder sie lässt sich ihr operiertes Poloch von einem Pfleger fotografieren, um sich ihre Wunde im Hintern selbst genau anschauen und erklären lassen zu können.

Erstaunliche Resonanz

Die große positive aber auch negative Resonanz, die Charlotte Roches Roman ausgelöst hat, ist eigentlich erstaunlich. Denn einerseits beinhalten Roches Schilderung keinerlei Gewalt oder schwer zu verkraftende Perversitäten, weder muss sich jemand angegriffen oder beleidigt fühlen noch wird etwas verherrlicht, was nicht zu verherrlichen ist. Andererseits kann man auch nicht sagen, dass die Ausführungen sich durch prickelnde Erotik oder besondere Spannung auszeichnen und über Humor lässt sich sowieso streiten. Die Frage, welches der beiden Bücher möglicherweise „obszöner", „perverser" oder den „guten Geschmack" verletzender sein könnte „Feuchtgebiete" oder „das kleine Arschloch" ist durchaus Ansichtssache. „Das kleine Arschloch" wird problemlos als Kinofilm gezeigt. Keiner regt sich mehr sonderlicht auf. Wer es lustig oder sonst wie ansprechend findet, freut sich daran, wer nicht, lässt es sein.

An „Feuchtgebiete" vorbei zu kommen, ist hingegen inzwischen fast unmöglich. Die Engländerin scheint offensichtlich etwas angesprochen zu haben, was selbst für uns, die von den Medien mit Sex in jeder Form und Fassung, mit Bildern grausamster Gewalt, vom Mord bis hin zum Massaker abgehärtet sein müssten, tatsächlich noch Aufmerksamkeit erregende Tabus darstellt.

Das ist bemerkenswert, denn ganz nüchtern betrachtet erforscht hier eine junge Frau den menschlichen Körper und redet einfach nur vollkommen unbefangen und direkt, in einem unmädchenhaft frechen und witzigen, zum Teil kindlichen Ton über Sex.

Der Körper in seiner Natürlichkeit

Die Notwendigkeit des Kampfes gegen Körperhaare, Sekrete und natürliche Gerüche, von dem uns die Medien täglich überzeugen und bei dem uns die Hygieneindustrie tatkräftig unterstützt, wird unzimperlich in Frage gestellt. Gleichzeitig wehrt sich Roche dagegen den Körper in seiner Natürlichkeit, zu der auch die alltäglichen Ausscheidungen gehören, als etwas grundsätzlich Ekliges und Unerwünschtes zu behandeln.

Hellen erzählt zum Beispiel über ihre Probleme auf einer öffentlichen Toilette: „Meine Mutter hat mir ein Riesenkakaproblem angezüchtet. Als ich ein kleines Mädchen war, hat sie mir oft gesagt, sie gehe nie groß auf Toilette. Sie müsse auch nie furzen. Sie behalte alles innen, bis es sich auflöst.
Wegen solcher Erzählungen schäme ich mich total wenn jemand mich auf Klo hören oder riechen kann. Auf einer öffentlichen Toilette, auch wenn ich nur pinkele oder mir beim Untenrum-Muskeln-Loslassen ein Furz entwischt, werde ich um jeden Preis verhindern, dass die Frau in der Kabine neben mir das Gesicht zum Geräusch zu sehen bekommt. Genauso benehme ich mich auch bei meinem Kakageruch. Wenn reges Kommen und Gehen in den Kabinen neben mir herrscht und ich rum gestunken habe, bleib ich so lange ruhig in meiner Kabine, bis kein Zeuge mehr da ist. Dann erst trau ich mich raus. Wie eine Kakakriminelle."

Dazu lässt sich anmerken, dass nicht mal Kinder vor der Kakaphobie vor allem gegenüber menschlichen Ausscheidungen, sicher sind. Während man sich vor Hundehaufen am Wegrand kaum retten kann, soll eine Mutter mal versuchen ihr Kleinkind dort sein Geschäft verrichten zu lassen. Sogar wenn sie das Häufchen bereitwillig vergraben oder sonst wie entsorgen würde, wäre das Entsetzen der Vorbeigehenden mit Sicherheit weit größer als das Verständnis oder einfach nur eine gleichmütige Hinnahme.

Viele Frauen werden sich in Hellens Schilderung, ihrer Ängsten auf einer öffentlichen Toilette wieder finden. Ebenso wenn es um Hellens Probleme mit ihrer Hämorride, den Problemen bei der Körperhygiene oder der Rasur ihrer Körperbehaarung geht. Denn die Ansprüche unserer Gesellschaft an eine Frau bezüglich solcher Dinge sind hoch. Schlank, hygienisch rein, glatt und schön, so muss eine Frau sein. Wer sich dagegen verwehrt, fällt negativ auf und wird ganz schnell zur Außenseiterin.
Ansprüche unserer Gesellschaft an Frauen
So war unter anderem Ausschlag gebend für Charlotte Roches Auseinandersetzung mit solchen Äußerlichkeiten, ihre Erfahrung als unter den Achseln unrasierte Viva Moderatorin. Wie Roche in Interviews erzählt, wurde sie deshalb zum Teil so übel beschimpft und unter Druck gesetzt, dass sie schließlich nachgab und sich ihre Achseln rasierte.

Der Zwang, sich die Schamhaare zu rasieren und der dadurch frei werdende Blick auf die Scheide, ist wohl auch der Grund, dass inzwischen nicht nur an den Körperformen herumoperiert wird, sondern dass eine Frau sich inzwischen sogar ihren Intimbereich operativ so richten lassen kann, dass er irgendeiner, vermutlich von pornographischen Darstellungen und Filme vorgegebener Norm, entspricht.

Übrigens, Hellen hat ihre Scheide nicht operieren lassen, sie schminkt sie sich: „Ich fange mit leichtem Rosa- und Pinktönen an, Lipgloss und Lidschatten, und arbeite mich durch die Lappen durch, bis ich ganz innen um den Eingang zum Tunnel rum mit Dunkelrot, Lila und Blau arbeite. Ich betone auch gerne das Braunrosa der Rosette mit ein paar Tupfern rotem Lippenstift, mit dem Finger verrieben. Macht Muschi und Rosette dramatischer, tiefer, betörender, " erklärt sie ihre Arbeit.

Man kann, wenn man „Feuchtgebiete" liest, sicherlich an allem Möglichen herumkritteln. Das meiste ist einfach nur Geschmackssache und eine Frage bestimmter Grenzen, die jeder Einzelne für sich unterschiedlich setzt. Einig werden wird man sich hier nie.

Zu dem Inhalt lässt sich allerdings vielleicht eine kritische Anmerkung bezüglich des Scheidungstraumas, dass Roche ihrer Hellen angedichtet hat, machen.

Hellens kindlicher Wunsch ihre Eltern, zu denen sie im Übrigen kein besonders gutes Verhältnis hat, wieder zusammen zu bringen, ist so groß, dass sie sich selbst beginnt, ihre Wunde wieder aufzureißen. Sie will dadurch ihren Krankenhausaufenthalt verlängern und so die Möglichkeit eines versöhnlichen Aufeinandertreffens ihrer Eltern erhöhen. Hellen vermutet in der Geschichte sogar, dass ihre Mutter versucht hat, sich und ihren kleinen Bruder, wegen ihrer Probleme mit ihrem Mann, umzubringen.

Das, was Charlotte Roche nach eigenen Angaben in keinem Fall will, nämlich, dass Hellens zwar sehr eigene aber dennoch als positiv dargestellte Art mit sich und ihrem Körper umzugehen, mit ihrem Trauma begründet und somit als krankhaft abgetan werden kann, ist nur allzu schnell passiert. Das aber wäre schade.

Menschen sind nicht „giftig"

Denn es geht mehr als „nur" um ein neues Selbstbewusstsein junger Frauen. Es geht auch darum, dass wir Menschen die Scham voreinander abbauen und erkennen, dass wir mehr oder weniger alle gleich und in der Regel nicht „giftig" sind. Natürlich ist Hygiene wichtig und nützlich und natürlich ist es wichtig die Übertragungswege von Krankheiten ernst zu nehmen. Diese Erkenntnis hat vielen Menschen das Leben gerettet. Nur muss das Maß stimmen. Auch der „zivilisierte" Mensch kann und soll sich nicht von seiner biologischen Natur frei machen. Trotz Parfüms, Rasuren und Operationen sind wir alle auch „nur" Tiere und letztlich sollen all diese Hilfsmittel dazu dienen, unsere Urinstinkte entsprechend zu beeinflussen. So ist Hellens Idee sich statt Parfüm Scheidensekret hinters Ohr zu tupfen nur konsequent und möglicherweise tatsächlich weit wirksamer als jedes Parfüm. Untersuchungen, nach denen das gesamte Sexualleben der Menschen zwar unbewusst aber wesentlich über den Geruch bestimmt wird, lassen durchaus diesen Schluss zu.

Es ist tatsächlich einer interessante Frage, warum in unserer Gesellschaft, die zumindest den theoretischen Anspruch stellt, offen zu sein und jedem das seine soweit zu lassen, wie es die Rechte der andern nicht verletzt, Menschen sich und andere so unter Druck setzen bzw. setzten können, dass Frauen und inzwischen auch Männer sogar ihre Gesundheit aufs Spiel setzten, nur um bestimmten Vorgaben zu entsprechen. Vielleicht ist ein Grund die Entfremdung von der Natur und damit auch der eigenen, der die Menschen dazu bringt, derart an sich und andern zu manipulieren und herumzudoktern. Die krampfhaften Versuche der Natur einerseits durch Operationen und alle möglichen Cremes ein Schnippchen zu schlagen, um wiederum andererseits verzweifelt die Kraft und Wirkung zu erzielen, die von einer „natürlichen" Schönheit ausgeht, deuten darauf hin.

Fazit

Unabhängig von ihrem Roman und wie man ihn letztlich findet, ist Charlotte Roche eine selbstbewusste Persönlichkeit, die durch Natürlichkeit, Charme und Authentizität auffällt. Niemand ist daher wohl besser geeignet, insbesondere jungen Frauen ein Selbstbewusstsein zu vermitteln, dass es ihnen ermöglicht sich gegen die Zwänge der Gesellschaft und die Vorstellungen, wie eine Frau auszusehen, zu riechen und sich anzufühlen hat, zu emanzipieren, um so schließlich Frieden mit ihrem Körper und all seinen Ecken und Kanten, Gerüchen und Säften zu finden.

Anna Ignatius

 

Charlotte Roche, Feuchtgebiete. Köln, DuMont Buchverlag, 219 Seiten, ISBN-10: 3-8321-8057-5. EUR 14,90.