STUTTGART. (hpd) Der Bund der Freien Waldorfschulen ist mit seinem Versuch gescheitert, eine kritische Publikation mit juristischen Mitteln zu verhindern. Betroffen ist das „Schwarzbuch Waldorf" des Journalisten Michael Grandt, der seit langem im Bereich Anthroposophie ermittelt und bereits mehrfach ins Visier der Anhänger Steiners geraten ist.
Zwar erließ das Landgericht Stuttgart eine Einstweilige Verfügung, doch dem Verlag gelang es, die geforderten Korrekturen mittels eines Beilageblattes ins Buch zu integrieren, so dass der Titel nach wie vor lieferbar ist. Am 16. Oktober wird der Widerspruch des Verlags gegen die Einstweilige Verfügung vor Gericht verhandelt werden.
Unzulässige selektive Zitierung?
Inhaltlich dreht sich die juristische Auseinandersetzung um die Frage, ob Michael Grandt aus einem für Waldorflehrer empfohlenen Buch unzulässig selektiv zitiert und damit einen falschen Eindruck, was das Verhältnis der Waldorfpädagogik zur körperlichen Züchtigung angeht, erweckt hat. Denn die Richtigkeit der im „Schwarzbuch Waldorf" wiedergegebenen Passage steht außer Frage.
In einem Erziehungsratgeber, der seit 1951 in der Schriftenreihe der Pädagogischen Forschungsstelle beim Bund der Freien Waldorfschulen erscheint, steht zu lesen: „Das Schmerzerlebnis [hat] eine seelisch-reinigende und zugleich eine das Bewusstsein aufweckende und aufhellende Wirkung. Dabei kann solcher Schmerz in der Strafe von der aller verschiedensten Art sein. Er kann rein physischer Schmerz sein, wie bei einem Schlage, einer Ohrfeige."
Allerdings gilt dies nur für ältere Auflagen, seit den 1990er Jahren ist eine überarbeitete Fassung im Einsatz, die zwar an der Verklärung des Schmerzerlebnisses festhält, die Wirkung körperlicher Gewalt jedoch zurückhaltender einschätzt: „Der rein physische Schmerz, wie beim Schlag, bei der Ohrfeige, kommt wohl in den seltensten Fällen wirklich in Betracht."
Das Landgericht Stuttgart monierte in seiner Entscheidung, dass dieser Wandel im „Schwarzbuch" keinen Niederschlag finde und kritikwürdigen Passagen keine Zitate gegenübergestellt werden, die negative Folgen körperlicher Gewalt erörtern (solche finden sich auch in der alten Auflage). Nach Auffassung des Vorstands des Bundes der Freien Waldorfschulen ist Grandts Buch an dieser Stelle besonders perfide, weil Verzicht auf Gewalt in der Erziehung von Anfang an wesentlicher Bestandteil der Waldorfpädagogik gewesen sei und auch die kritisierte Publikation sich gegen die Prügelstrafe ausspreche. Zu dem oben angeführten Zitat wird allerdings nicht konkret Stellung bezogen.
In einer ersten Pressemitteilung hatte der Bund der Freien Waldorfschulen Grandt vorgeworfen, er habe häufig veraltete Quellen verwendet und zeichne ein Bild der Waldorfschulen, das den gegenwärtigen Zuständen nicht entspreche.
Doch gerade wenn es um die Lehrerausbildung geht, greift dieses Argument nicht: von den heute aktiven Waldorflehrern wurde (rein rechnerisch) die Mehrheit zu einem Zeitpunkt ausgebildet, als noch die älteren Auflagen des Buches „Strafe in der Selbsterziehung und in der Erziehung des Kindes" im Umlauf waren (ganz abgesehen von der offenen Frage, in wie vielen Waldorf-Seminaren die alte Auflage heute noch in der Bibliothek steht). Dass es sich bei dem Werk um eine „unverzichtbare Grundlage für die Waldorfpädagogik" handelt, wird auf der Webseite des Verlags Urachhaus mit Verweis auf die „mehreren Auflagen" betont. Dass sich diese Bewertung ausschließlich auf die überarbeitete Neuauflage bezieht, kann aus dem Werbetext nur entnehmen, wer über äußerst eingeschränkte Kenntnisse der deutschen Sprache verfügt.
Das neuerliche juristische Vorgehen gegen eine kritische Veröffentlichung stößt auch in Kreisen, die der Anthroposophie wohlwollend gegenüber stehen, auf Kritik. Auf einer Internetseite kommentiert Christian Grauer aus dem Umfeld der anthroposophischen Zeitschrift info3 das Vorgehen des Bundes der Freien Waldorfschulen als PR-Fehler: „Gibt es denn in Stuttgart keine PR-Berater? (...) Der Enthüllungsanspruch von Grandt, der hinter Waldorf eine rigorose Sekte vermutet, wird dadurch nur bestätigt und die gesellschaftliche Diskussionsunfähigkeit der Waldorfvertreter wird aktenkundig demonstriert. Statt mit einer offenen Debatte voll Esprit und Humor auf die tumbe Agitation von Grandt zu reagieren, begibt man sich noch weit unter dessen eigenes Niveau. Die heren Ansprüche von freiem Geistesleben und Pluralismus, mit dem man sich als Privatschule stets rechtfertigt, weichen einer geradezu spießbürgerlichen Borniertheit."
Beim Bund der Freien Waldorfschulen haben derlei Stellungnahmen noch kein Umdenken ausgelöst. Auf dessen Webseite wird stolz darauf verwiesen, dass durch die Einstweilige Verfügung dem Gütersloher Verlagshaus verboten sei „die Schrift von Michael Grandt Schwarzbuch Waldorf zu veröffentlichen und zu verbreiten". Angesichts dessen, dass das Werk in jeder Buchhandlung bestellt werden kann, ist dies entweder eine bewusste Falschmeldung oder ein Anzeichen für Realitätsverlust. Dass laut Impressum der Bund der Freien Waldorfschulen in der Wagenburgstraße angesiedelt ist, veranlasst da zu einem Schmunzeln.
Gunnar Schedel
Michael Grandt: Schwarzbuch Waldorf. Gütersloh 2008. 224 Seiten, kartoniert, Euro 16,95, ISBN 978-3-579-06995-1