Im Spannungsfeld von Tradition und Moderne

(hpd) Der Publizist Gerhard Schweizer, ausgewiesener Kenner der islamischen Welt, nimmt in seinem „Türkei"-Buch eine auf Geschichte und Gegenwart bezogene Analyse des tiefgreifenden Umbruchs im türkischen Islam vor. Trotz mancher etwas unkritischer Kommentare zur aktuellen AKP-Regierung liefert er ein kenntnisreiches und lesenswertes Buch zum Thema.

 

Nicht nur aufgrund der Diskussion um einen möglichen EU-Beitritt verdient die gesellschaftliche und politische Entwicklung der Türkei Interesse. Weitaus bedeutsamer ist die Tatsache, dass mittlerweile große Teile der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland von ebendort stammen. Viele Bestandteile der politischen Kultur dieses Landes zwischen Islam und Kemalismus finden sich als Mentalitäten und Orientierungen auch bei den hiesigen türkischstämmigen Bewohnern und Bürgern. Um sie besser verstehen zu können, bedarf es kritischer Kenntnisse über Geschichte und Gegenwart der Türkei - fern von negativen und positiven Klischees. Dazu will der Publizist Gerhard Schweizer, der durch zahlreiche kompetente Bücher zur Entwicklung in der islamischen Welt als ausgezeichneter Kenner ausgewiesen ist, in seinem neuesten Werk beitragen. Es trägt den Titel „Die Türkei. Zerreißprobe zwischen Islam und Nationalismus" und will mit Verweis auf die Vielfalt des Landes alten Ängsten und neuen Vorurteile entgegen wirken.

Die drei unterschiedlich langen Teile des Buchs widmen sich folgenden Gesichtspunkten: Zunächst lenkt Schweizer seine Aufmerksamkeit auf die von Missverständnissen und Stereotypen geprägte Wahrnehmung, die mit der Fixierung auf den „aggressiven Islam" die sozialen Probleme des Landes ignoriert. Danach skizziert er die Geschichte der Türkei von Atatürk bis zur Gegenwart, wobei Person und Politik des Staatsgründers, die Rolle des Militärs im politischen System, der türkische Nationalismus und seine historischen Wurzeln und die Entwicklung des „Kurdenkonfliktes" besondere Aufmerksamkeit finden. Der ausführlichste Teil widmet sich danach dem gegenwärtigen Spannungsfeld von Tradition und Moderne: Hierbei stehen die Fehlentwicklungen des Laizismus, die Besonderheiten des türkischen Islam, die „Islamisierung" der Politik durch entsprechende Parteien, die Wandlung vom radikalen zum gemäßigten politischen Islam, die Rolle der Frau in der türkischen Gesellschaft und die politischen Perspektiven des Landes im Zentrum des Interesses.

Die „Türkische Moderne" ist nur eine halbe Moderne

Bilanzierend bemerkt Schweizer: „ ... die von Atatürk vorgegebene ‚Türkische Moderne' ist, wenn wir sie an unseren westlichen Maßstäben messen, nur eine halbe Moderne. Denn ihr fehlt ein wesentliches Element: der Pluralismus. ... Gerade Parteien, die sich offiziell dem Säkularismus und Laizismus verschrieben haben, müssten die nötigen Reformschritte unternehmen, um diesem Pluralismus die nötige politische Entfaltung zuzubilligen" (S. 311). Nicht der Islam als „anderer Religion" stünde einem Beitritt der Türkei zur EU im Weg, vielmehr sei ein noch nicht ausgereiftes pluralistisches Gesellschaftssystem der entscheidende Hinderungsgrund. Zu den dafür politisch verantwortlichen Kräften heißt es: „Inzwischen plädieren nicht etwa die strikt säkular an Atatürk orientieren Parteien am entschiedensten für eine Erweiterung der demokratischen Rechte. ... Vielmehr setzt sich heute ausgerechnet die islamisch orientierte Partei AKP unter Führung des Ministerpräsidenten Erdogan am stärksten dafür ein, die türkischen Gesetze den EU-Normen anzugleichen ..." (S. 14f.).

Schweizer legt demnach eine Darstellung zur politischen Entwicklung der Türkei mit differenzierten Einschätzungen vor, welche sowohl kritische wie wohlwollende Inhalte präsentieren. Letzteres gilt auch für die Ausführungen zur gegenwärtigen Regierung, werden doch immer wieder ihre positiven Reformen hervorgehoben. Die Schattenseiten und Verzögerungen erklärt sich der Autor dabei allzu sehr durch die innen- und außenpolitischen Rahmenbedingungen. Hierdurch geraten die eigentlichen Ursachen für den durchaus auszumachenden Wandel, der sowohl inhaltlich glaubwürdig wie lediglich taktisch motiviert sein kann, aus dem Blickfeld. Überhaupt unterlässt Schweizer an dieser wie an vielen anderen Stellen eine tiefgründigere Analyse: So wäre doch gerade hier eine genauere Betrachtung des politischen Wandels von Erdogan nötig gewesen. Welche inhaltlichen Beweggründe führten zu den Veränderungen? Handelt es sich um das Ergebnis eines Anpassungsprozesses, eines Lerneffektes oder einer Strategie - oder einer Mischung von allen drei Motiven?

Trotz dieser kritischen Anmerkung verdient das Buch Interesse, präsentiert es doch in gut verständlicher Weise die wichtigsten Fakten zur politischen Entwicklung der Türkei. Dabei widerlegt Schweizer auch weit verbreitete Auffassungen wie etwa die über den Laizismus in der Türkei. So sehr dieser offizielle Staatsdoktrin mit Verfassungsrang ist, so wenig entspricht die gesellschaftliche und politische Realität den damit verbundenen Auffassungen. Er macht auch deutlich, dass der in den westlichen Medien immer wieder artikulierte Dualismus von „kemalistischen"/"säkularen", also guten und „religiösen"/"islamischen", also kritikwürdigen Kräften so falsch ist. Viele bedenklichen Aktivitäten der letzten Jahre gingen von dem nicht-islamisitischen Bereich aus, wobei insbesondere der neu erwachte türkische Nationalismus von Bedeutung war und ist. Darüber hinaus benennt Schweizer auch immer wieder Beispiele für die Fehlentwicklung, die mit dem von Atatürk propagierten Laizismus-Prinzip mit seinem letztendlich doch religiös verbrämten Nationalismus im Verlauf der Jahrzehnte erfolgte.

Armin Pfahl-Traughber

 

Gerhard Schweizer, Die Türkei. Zerreißprobe zwischen Islam und Nationalismus, Stuttgart 2008 (Klett-Cotta-Verlag), 352 S., 19,90 €