Schau Mammi - Ich kann uns sehen!

HAMBURG. Der Regionalverband der Humanistischen Union hatte am Mittwochabend

zur Besichtigung des immer perfekteren Überwachungsstaates in Deutschland eingeladen. Die Kriminologin Dr. Kirsten Toepffer sprach zum Thema: „E-Watch und Controltainment. Eine Kleine Kriminologie der Kontrollkultur." Einleitend referierte Prof. Dr.iur. Sebastian Scheerer, Leiter des Instituts für kriminologische Sozialforschung an der Universität Hamburg, Assoziationen über die historischen Veränderungen staatlicher Kontrolle der Bürger.

Beobachtungen habe es immer schon gegeben, nur war das in früheren Zeiten eine recht schwierige Angelegenheit. Nicht nur weil man dazu viele Personen brauchte (personalintensiv), diese konnten zudem auch nur fragmentarisch und vor allem punktuell (zum Beispiel am Stadttor) beobachten, und das wiederum war zeitlich eingeschränkt - während der Dunkelheit war es nicht mehr sinnvoll. Heute geht es technisch-elektronisch, d.h. man hat Apparate, die "totalisiert" eingesetzt werden: an allen Orten (flächendeckend), alle Passanten werden erfasst, rund um die Uhr. Das ist auch ein entscheidender qualitativer Unterschied. Die Frage ist auch, ob man eine andere Individualität bekommt, wenn man weiß, dass man überall beobachtet wird.
Früher wurde Kontrolle über direkten Zwang ausgeübt, sei es durch die Bürokratie oder andere Staatsorgane, heute werden wir geradezu verführt, selbst immer mehr Kontrolle zu wollen. Es ist mittlerweile an vielen Orten in der Gesellschaft eine Situation der Beobachtung und Kontrolle entstanden, wie sie früher nur in Haftanstalten üblich war und als erforderlich angesehen wurde. Insgesamt gibt es heute eine technische Überlegenheit des Staates, der durch Datenerfassung und Datenabgleich dem einfachen Bürger immer mehr die Furcht einflößt, kriminalisiert zu werden. Also gehen alle in Deckung und keiner wagt noch Kritik, denn auch die würde erfasst werden.

 

Dr. Toepffer erläuterte als Einstimmung zu ihrem Vortrag die beiden Wortschöpfungen. „E-Watch" ist in Anlehnung an die populäre Fernsehserie „Bay-Watch" gebildet und meint all jene Kontrolltechnologien, die auf elektronischem, zumeist digitalem Wege, Personen, Räume und/oder Interaktionen akustisch, optisch und/oder taktil durch Datenspeicherung und Datenabgleich überwachen. Damit sind also alle Einrichtungen und Geräte im öffentlichen Raum gemeint, auf Bahnhöfen, Plätzen, Straßen, an Gebäuden und in Geschäften.
„Controltainment" bezeichnet in der Wortzusammensetzung aus „Control" und „Entertainment" die Wechselwirkung aus Kontrolle und Unterhaltung, wobei damit vorwiegend das ‚sich selbst in Szene setzen' gemeint ist.

Als erste These formulierte sie: „E-Watch und Controltainment bieten eine Bühne für das Kontroll-, Sicherheits- und Zurschaustellungsbedürfnis der Gesellschaft. Es entsteht eine Aufmerksamkeits- und Selbstkontrollgesellschaft, auf deren Daten – ergänzt durch eigene Erfassungs- bzw. Kontrollinstrumente – der Staat zur Kontrolle der Bevölkerung zurückgreifen kann. Der Einzelne wird damit zum ‚Kontrolleur seiner selbst', der einen omnipräsenten, kontrollierenden Staat – in Teilen – überflüssig macht. Eine Kontrollkultur erwächst."
Die Implementation vollzieht sich sukzessive in den verschiedenen Gesellschaftsbereichen, die in ihrer Komplexität von dem Einzelnen nicht wahrgenommen wird. Kennzeichnend für diese Situation ist u.a., dass sich beinahe alle daran beteiligen und anstelle der klassischen Kontrolle des Einzelnen, nun eine Kontrolle im Rahmen des Kollektivs erfolgt. Ein normaler Bundesbürger trägt heute wie selbstverständlich eine ganze Reihe von Erfassungsmedien in seiner Kleidung mit sich herum. Das beginnt mit Kreditkarten (Geldbewegungen, Abhebungsorte), setzt sich fort mit diversen Kundenkarten und Bonuskarten (Erfassung von einzelnen Einkäufen und Waren, Konsumprofil, mit Lebensalter, Wohnort, etc. durch ökonomische Anreizsysteme) und endet bei der Handy-Ortung (Bewegungsprofile), die den Einzelnen in Datenbanken katalogisiert und kategorisiert.

An den Rabattmarken lässt sich der historische Unterschied zu Bonus- und Kundenkarten verdeutlichen. Rabattmarken gab es anonym und man klebte sie in ein Heft, dass man - wenn es vollgeklebt war - anonym abgab und dafür das „Rabattgeld" bekam. Für eine Bonuskarte von Wirtschaftsunternehmen müsse man normalerweise vorher Name, Geschlecht und Geburtsdatum angeben und je höher die ökonomischen Anreize (Belohnungen, in Aussicht gestellte Gewinne) sind, desto mehr Alltags-Informationen werden vorher abverlangt. Menschen ohne Kreditkarten und ohne Handy gelten mittlerweile in weiten Bevölkerungskreisen als anachronistisch, unmodern und rückständig bzw. zumindest leicht verschroben.

Die zweite These lautete: „So genannte Outsider legitimieren umfassende Kontrollstrategien, die sich auf die gesamte Bevölkerung beziehen."
Unter „Outsidern" sind „nicht erwünschte Personen" zu verstehen, deren Aktivitäten nur dadurch erfasst und kontrolliert werden könnten, dass alle Bürger kontrolliert werden. Das beginnt bei den Beobachtungskameras in Geschäften - die alle Käufer beobachten, um einzelne Ladendiebstähle zu verhindern -, und geht bis zur Videoüberwachung von neuen „Shopping-Malls", aus denen dann alle nicht erwünschten, d.h. nicht konsumierenden Anwesenden umgehend entfernt werden, bis hin zu Videokameras und Videoaufzeichnungen in öffentlichen Bahnen und Verkehrsmitteln. Also wenn sie mit „falschen Leuten" in der U-Bahn fahren oder wenn sie - unwissentlich - neben einer „nicht erwünschten Person" stehen sollten, sind sie möglicherweise bereits mit ‚erfasst'.

Die dritte These betont: „Unterschiedliche Kontrollstrategien oder Formen von E-Watch, die für die Herstellung von Sicherheit eingesetzt werden, lassen sich unterscheiden. Zum einen ist es die Videoüberwachung, die auf eine kollektive (semi-)private und staatliche Kontrolle abzielt." So gibt es bereits beispielsweise Eltern, die als weit entfernte, unsichtbare Beobachter, ständig ihre Kinder im Kindergarten in Echt-Zeit beobachten, aufzeichnen und es wieder abrufen können. Beliebt ist auch die private Nutzung von öffentlichen Web-Cams (Kameras im Internet), mit der sie nach dem Wetter an der Nordsee oder in den Alpen schauen können. Oder sie beobachten die Autobahn, ob ihre Freundin mit dem auffallend gelben Wagen bereits am Autobahnkreuz vorbeifährt - mit hoffentlich keinem ‚falschen' Begleiter auf dem Beifahrersitz. Die Beispiele sind vielfältig. Es ist exakt dieses Wechselspiel aus verfügbaren, öffentlich zugänglichen Kontrolleinrichtungen und ihrer privaten Nutzung als Informations- oder Unterhaltungsmedium, die sowohl die Einführung wie die Ausweitung erleichtert und möglicherweise die Nachfrage sogar steigert.
„Zum anderen handelt es sich um Konzepte (semi-)privater und staatlicher E-Watch von Einzelnen, die darauf abzielen, entweder so genannte ,Outsider' zu kontrollieren oder diese in der großen Massen zu identifizieren." Dazu gehört beispielsweise die „Biometrie" in Ausweispapieren, die bei entsprechend gut auflösenden Kameras einen schnellen Abgleich mit Personen in öffentlichen Räumen erlaubt.

Als vierte These dienen „die Möglichkeiten, die die technischen Entwicklungen in dem Bereich von E-Watch bieten, dem Controltainment als eine wichtige Ressource. Gleichzeitig dienen die Entwicklungen auf dem Markt der Unterhaltung für die Implementierung von E-Watch dazu, eine positive Grundstimmung in der Gesellschaft zu erzeugen bzw. zu verstärken."
Haben Sie auch Spaß daran, ihre privaten Fotografien im Internet bei „my space" kostenlos einbringen zu können oder bei „You tube" private Videos zu zeigen - nur weiter so, sie ersparen den Kontrolleuren viel Mühe, da sie ja selber das Material erarbeiten und anliefern, was dann zu ihrer Kontrolle eingesetzt werden kann. Bestärkt werden diese „Harmlosigkeiten" der öffentlichen Vorführung von Privatem von Fernsehformaten wie „Big Brother", in denen Privatpersonen Intimes zur öffentlichen Unterhaltung preisgeben. Bereits Kinder haben ihre Unterhaltung, wenn sie zufällig das Bild von sich selbst auf einem Monitor in einem öffentlichen Raum sehen und sich selbst zuwinken oder fröhlich rufen: „Schau Mama, ich kann uns sehen!"
Es entsteht ein „Fun Factor". Und das macht von Kindesbeinen an soviel Spaß, sich voyeuristisch die Bilder anonymer Menschen oder von Freunden im Fernsehen oder im Internet anschauen zu können, dass jegliche Ängste eines Missbrauchs dieser biometrischen und geographischen Informationen ausgeklammert bleiben.

Die fünfte und letzte These lautete: „Der „Fun-Faktor" des Regierens avanciert zu einer wichtigen Komponente der Kontrollkultur, die dieselbe zugleich ermöglicht und rechtfertigt." Im Gegensatz von der Identität des Einzelnen und der individuellen Identifizierung durch den Staat verschieben sich die Machtverhältnisse des Zugriffs. Technisch möglich sind bereits „Life-Logs" möglich, mit Sensoren, die alles aufzeichnen (können), was ein Mensch ‚macht'.

 

In der Diskussion wurden vielfältige Aspekte angesprochen - u.a. die Frage, wie dem zu begegnen sei und wann eine Datenmenge erreicht sei, die den Einzelnen aufgrund ihrer quantitativen Unauswertbarkeit dann wieder ins Verborgene sinken lässt - Was geschehen wäre, wenn die Nationalsozialisten bereits über diese technischen Möglichkeiten verfügt hätten? - Ob es eine Möglichkeit gibt, sich dem zu entziehen? - Wie kann man darüber aufklären?

Die Frage: „Warum soll ich als gesetzestreuer und sittenstrenger Mensch mich vor solchen Beobachtungen fürchten?" verkennt zum einen, wie weit inzwischen diese Überwachung vonstatten geht - z.B. in öffentlichen Toilettenräumen - zum anderen, dass die Auffassung davon, was „gesetzestreu" oder „sittenstreng" sei, durchaus verschieden ist und nur der Schutz einer Intim- und Privatsphäre den Einzelnen vor Missbrauch bewahren kann.

Zumindest schaue ich die LKW-Maut-Erfassungs-Elektronik-Brücken auf der Autobahn seit diesem Vortrag noch kritischer an, auch mit der Frage, was sich noch alles anders damit erfassen lässt, als nur die LKW-Daten?
Man muss gelassen bleiben, um sich nicht überall bereits beobachtet zu fühlen.

CF