(hpd) In seinem voluminösen Band erweist sich James Webb als ausgezeichneter Kenner der unterschiedlichen Ausdrucksformen des „Irrationalen" in Gesellschaft wie Politik des 20. Jahrhunderts und schildert deren Entwicklung auf breiter Quellengrundlage.
Gegen die Entwicklung hin zu Moderne und Rationalismus standen nicht nur im 20. Jahrhundert immer wieder Bewegungen, die mit esoterischen, mystischen und okkulten Inhalten Einfluss auf Gesellschaft und Politik nehmen wollten. Aufgrund deren hochgradiger Irrationalität fanden sie in der Forschung kaum Aufmerksamkeit, wollte man sich doch mit derartigen „Spinnereien" wissenschaftlich nicht abgeben. Dies hätte in einem kritischen Sinne aber durchaus geschehen sollen, denn die gemeinten Auffassungen und Bestrebungen waren und sind gesellschaftlich relevant. Darauf machte der schottische Historiker James Webb (1946-1980) in den 1970er Jahren in zwei voluminösen Bänden zu obskurantistischen Gegenbewegungen zur Aufklärung aufmerksam. Erst jetzt liegt eines dieser Werke, „The Occult Establishment" von 1976, in einer Übersetzung mit dem Titel „Das Zeitalter des Irrationalen. Politik, Kultur und Okkultismus im 20. Jahrhundert" vor. Darin soll die „Flucht vor der Vernunft" anhand von einschlägigen Phänomenen thematisiert werden.
In acht Kapiteln widmet sich Webb den unterschiedlichsten Ausdrucksformen: Zunächst geht er auf die Entstehung und Verbreitung okkulter und spiritistischer Auffassungen und Organisationen in Deutschland, England, Italien und Österreich zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Danach stehen der Einfluss mystischen Denkens aus Russland nach der Revolution von 1917, die Propagierung von antisemitischen Verschwörungsvorstellungen und die esoterischen Prägungen des frühen Nationalsozialismus im Zentrum des Interesses. Und schließlich behandelt das Buch die okkulten Einflüsse auf die Psychoanalyse, die Hippie- und Protestbewegung der 1960er Jahre und die Science-Fiction-Fangemeinde. Der Autor orientiert seine Darstellung stark an den Auffassungen und Handlungen einzelner Organisationen und Personen. Dabei geht es etwa um die Anthroposophie Rudolf Steiners und die LSD-Religion Timothy Learys, den Rasse-Okkultismus Alfred Rosenbergs und den Satanismus Aleister Crowleys, die Theosophie Helena Blavatskys und die Scientology-Lehre L. Ron Hubbards.
Die erwähnten Beispiele machen deutlich, dass Webb mit einem relativ weiten Verständnis von Okkultismus arbeitet. Er spricht hier von einem „verworfenen Wissen": „Diese Bezeichnung ist so locker und allumfassend, dass sie den Spiritismus, die Theosophie, zahllose östliche (und nicht ganz so östliche) Kulte, unterschiedliche christliche Sekten und die esoterischen Bestrebungen der Magie, Alchemie und Astrologie abdeckt und auch auf Pseudowissenschaften ... anwendbar ist" (S. 42). Entgegen weit verbreiteter Annahmen solle man derartige Auffassungen nicht ignorieren, stellten sie doch eine Reaktion auf gesellschaftliche Krisen- und Umbruchphasen dar. Rein historisch betrachtet handele es sich um den Ausdruck eines dritten Ausbruchs der Unvernunft, der sich gegen die gesellschaftlichen Folgen von Aufklärung und Rationalität richte. So etwas komme immer in Zeiten vor, „in denen der Druck auf das Individuum so stark geworden war, dass er eine breit angelegte Flucht vor der Vernunft auslöste" (S. 560).
Webb erweist sich in seinem voluminösen Band als ausgezeichneter Kenner der unterschiedlichen Ausdrucksformen und schildert deren Entwicklung auf breiter Quellengrundlage. Gerade letzteres macht „Das Zeitalter des Irrationalen" zu einem gut nutzbaren Nachschlagewerk, wozu auch das ausführliche Namens- und Sachregister dienlich ist. Darüber hinaus wirft der Autor ein interessantes Licht auf heute noch bekannte und einflussreiche Denker wie Carl Gustav Jung, Maria Montessori oder Rudolf Steiner. Problematisch ist indessen das doch eher ungenaue und zu weit gefasste Verständnis von Okkultismus, führt dies doch zu nicht nachvollziehbaren Zuordnungen. So kritikwürdig die Gesellschaftstheorie von Herbert Marcuse sein mag, so problematisch ist deren Deutung als Variante des Okkultismus. Derartige Mängel erklären sich durch die stark historisch-beschreibende Anlage des Bandes, der zwar auch analysierende und definitorische Passagen enthält - sie gehören aber nicht zu den Stärken des Autors.
Armin Pfahl-Traughber
James Webb, Das Zeitalter des Irrationalen. Politik, Kultur und Okkultismus im 20. Jahrhundert. Aus dem Amerikanischen von Michael Siefener, Wiesbaden 2008 (marixverlag), 608 S., 19,90 €
Das Buch ist auch im denkladen erhältlich.