Paulskirche – Weimar – Grundgesetz

FREIBURG. (ibka/hpd) Am 17. Juni 2009 traf sich der Regionalverband Freiburg des Internationalen Bunds der Konfessionslosen und Atheisten e.V. zu seiner eigenen Verfassungsfeier. Dabei wurde die folgende Rede gehalten.

Ein Beitrag von Michael Rux

„Wir sind heute zu einer etwas anderen Verfassungsfeier zusammengekommen. Landauf, landab hat man in diesem Jahr der sechzigsten Wiederkehr der Verabschiedung des Grundgesetzes gedacht. Gelegentlich hat man dabei auch an das neunzigste Jubiläum der Weimarer Reichsverfassung erinnert. Aber es gibt noch ein drittes Verfassungsjubiläum: Vor 160 Jahren wurde in der Frankfurter Paulskirche die erste demokratische Verfassung des deutschen Reiches verabschiedet.

In diesem Jahr 2009 ist deshalb ein dreifaches Jubiläum zu begehen. Aus diesem Anlass wollen wir heute an die lange Geschichte des Kampfes um die Menschen- und Bürgerrechte in unserem Land erinnern und wir wollen vor allem die verfassungsrechtlich garantierte Religionsfreiheit in Deutschland betrachten – wir wollen würdigen, was erreicht wurde und benennen, was noch aussteht.

Die Paulskirchenverfassung von 1849 markierte eine säkulare Zeitenwende.

Die Paulskirchenverfassung von 1849 markierte eine säkulare Zeitenwende. Mit ihr erhielten die Glaubens- und Gewissensfreiheit in Deutschland erstmals Verfassungsrang. Auf ihren Text gehen die „Kirchenrechtsartikel“ der Weimarer Reichsverfassung zurück. Und unser heutiges Grundgesetz hat diese teilweise wörtlich übernommen. Insofern sind wir alle Kinder der ersten deutschen Revolution von 1848 und 1849.

Das ist einer Feier wert und eines Innehaltens und Besinnens: Denn bis heute sind wir nicht fertig mit dieser Aufgabe, mit der Befreiung der Menschen aus religiöser Bevormundung und Gewalt.

Fast ein Jahrtausend lang lebten die Menschen im christlichen Europa in einer Welt, die von Geistern und Gespenstern bevölkert war, von Engeln und Teufeln und von Heiligen beziehungsweise deren verehrungswürdigen Reliquien – und darüber thronte eine dreieinige Gottheit. Seit Karl der Große anlässlich der gewaltsamen Christianisierung der Sachsen angeordnet hatte, den Versuch, sich der Taufe zu entziehen, die Nichtbeachtung der Fastenzeit oder die Ausübung heidnischer Praktiken mit dem Tod zu bestrafen, war das gesamte Leben unserer Vor-Vorfahren in einer Weise von der christlichen Religion durchdrungen, die sich heutige Menschen nur schwer ausmalen können.

Was wir heute fordern, die Trennung von Religion und Staat war für die damaligen Menschen unvorstellbar. Den Staat im heutigen Sinne gab es früher noch gar nicht, sagen wir also lieber: die Trennung der einen, der alleinigen, der katholischen Kirche von der „weltlichen Macht“. Zwar lieferten sich im Mittelalter, wie wir alle einst im Geschichtsunterricht gelernt haben, die Päpste als Repräsentanten Gottes auf Erden und die Kaiser als gesalbte Verkörperung der weltlichen Macht erbitterte Kämpfe darüber, wer denn nun das Sagen hatte und wer dem anderen die Krone oder die Tiara aufsetzen durfte. Aber die Religion war allgegenwärtig. Mit dem Ausschluss von den heiligen Sakramenten konnte man selbst Kaiser auf die Knie zwingen.

Allerdings: Das waren nicht nur Wortgefechte und die Waffen waren nicht nur die Exkommunizierung des Kaisers oder die Absetzung des Papstes. Die Geschichte Europas ist eine Abfolge von grausamen und blutigen Religionskriegen bis hin zum Völkermord: Man entledigte sich der Ketzer nicht nur durch die Inquisition und blanken Mord, sondern auch durch die Vertreibung. Noch die „ethnischen Säuberungen“ der neueren und neuesten Geschichte Europas sind häufig Erbschaften aus dieser blutrünstigen Tradition des christlichen Abendlandes.

Die Geschichte Europas ist eine Abfolge von grausamen und blutigen Religionskriegen

Mit der Renaissance, dem Humanismus und der Reformation begann ein Wandel in den Köpfen der Menschen und auch in der religiösen und weltlichen Verfassung. Stück um Stück emanzipierten sich die Denkenden. Sie wagten, sich eine Welt ohne Götter und ohne den einen Gott oder zumindest doch ohne eine allein seligmachende Kirche vorzustellen. Und sie begannen auch, über die Freiheit des Einzelnen nachzudenken, über das Recht des Menschen, sein Leben selbst zu gestalten. Aber in der weltlichen Verfassung kam es nach der ersten Serie von Religionskriegen, der im Übrigen danach weitere folgten, zu einem Waffenstillstand der Herrschenden: Unter dem Motto: Cuius regio, eius religio“ – zu Deutsch: Wer die Krone trägt, bestimmt, was seine Untertanen glauben müssen“ – versuchten die Fürsten, die heißen Kriege zu vermeiden.

Mit dieser Formel zimmerten sie das Bündnis von Thron und Altar. Staat und Kirche fielen in eins. In vielen Ländern, gerade auch in Deutschland, einem Konglomerat von Kleinstaaten, hatten die Untertanen zu folgen, wenn der Fürst – zum Beispiel aus dynastischen Gründen oder einer reichen Erbschaft – den Glauben wechselte. Mehr noch: In den nicht-katholischen Ländern wurde der weltliche Herrscher jetzt zugleich zum Kirchenoberhaupt. In Preußen war der König bis zum 9. November 1918 zugleich der oberste Bischof der evangelischen Kirche.

In Baden war das nicht ganz so: Hier vertrat ein Prälat den Großherzog – der erste war übrigens Johann Peter Hebel. Im Südwesten Deutschlands gingen die Uhren schon immer ein wenig anders als in Preußen. Man war hier näher dran an Frankreich, in dem mit der Revolution von 1789 die Menschen- und Bürgerrechte triumphierten, dann in einem Strudel von Gewalt und Tyrannei zunächst wieder untergingen, aber sich als Idee und Wirklichkeit nicht mehr von Tagesordnung entfernen ließen. Frankreich war das Land, in dem zum ersten Mal (1792) der Unterricht dem Staat unterstellt und die bis dahin mit der Erziehung betrauten religiösen Bruderschaften aufgelöst wurden. Auch das Tragen religiöser Kleidung wurde damals untersagt, ausgenommen den Priestern in Wahrnehmung ihrer religiösen Pflichten. Aber die Geschichte der Freiheit ist ein Weg voller Windungen und Rückschläge. In Frankreich dauerte es bis zum Jahr 1905, dass die Laicité, die vollständige Trennung von Kirche und Staat, Gesetz wurde.

Das waren damals revolutionäre Forderungen, für die man ins Gefängnis gesteckt oder als Lehrer aus dem Schuldienst entlassen wurde

Dennoch, es darf nicht wundern, dass sich das Bemühen um die Abschaffung der religiösen und konfessionellen Erziehung und der Ruf nach religiöser Freiheit in Deutschland zuerst im Land Baden Bahn brachen. Von hier aus gibt es eine kontinuierliche Linie bis zu den „Kirchenrechtsartikeln“ im heutigen Grundgesetz. Und deshalb muss heute in Freiburg daran erinnert werden.

 

Am 12. September 1847 trafen sich im Gasthaus Salmen in Offenburg die „Freunde der Verfassung“. Vor knapp 1000 weiteren Teilnehmern verabschiedeten sie die „Forderungen des Volkes in Baden“ und formulierten damit das erste demokratisch geprägte politische Programm Deutschlands. Darin hieß es (Artikel 3): „Wir verlangen Gewissens- und Lehrfreiheit. Die Beziehungen des Menschen zu seinem Gotte gehören seinem innersten Wesen an, und keine äußere Gewalt darf sich anmaßen, sie nach ihrem Gutdünken zu bestimmen. Jedes Glaubensbekenntnis hat daher Anspruch auf gleiche Berechtigung im Staate. Keine Gewalt dränge sich mehr zwischen Lehrer und Lernende. Den Unterricht scheide keine Confession“.

Das waren damals revolutionäre Forderungen, für die man ins Gefängnis gesteckt oder als Lehrer aus dem Schuldienst entlassen wurde. Sie verbreiteten sich wie ein Lauffeuer durch ganz Deutschland. Was die Verfasser im Jahr 1847 zunächst thesenartig als politisches Programm entwickelt hatten, wurde in den Monaten danach in Gesetzesartikel umformuliert und floss als „Offenburger Forderungen“ in die deutschen Verfassungsentwürfe ein.

Die Paulskirchenverfassung blieb 1849 nur eine Absichtserklärung, denn die zarte Pflanze der Demokratie wurde schon wenige Wochen später von Soldatenstiefeln zertreten.

Ich bin ein wenig stolz darauf, dass es die Gründungsväter des späteren Badischen Lehrervereins waren, die jene Formulierungen entwarfen, mit denen das erste demokratisch gewählte gesamtdeutsche Parlament vor 160 Jahren, am 28. März 1849, den Deutschen zum ersten Mal die volle Glaubens- und Gewissensfreiheit garantierte und die Staatskirche abschaffte. Niemand sollte mehr verpflichtet sein, seine religiöse Überzeugung zu offenbaren, hieß es in der „Paulskirchenverfassung“ und der Genuss der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte sollte durch das religiöse Bekenntnis weder bedingt noch beschränkt sein. Erstmals wurde das Erziehungswesen unter die Oberaufsicht des Staates gestellt.

Die Paulskirchenverfassung blieb 1849 nur eine Absichtserklärung, denn die zarte Pflanze der Demokratie wurde schon wenige Wochen später von Soldatenstiefeln zertreten. Aber, um noch einmal auf das später gern „Musterländle“ genannte Baden zurückzukommen, das diesen Ehrentitel wegen seiner liberalen = freiheitlichen Reformen erhielt: Hier wurden trotz des Scheiterns der ersten Republik bereits knapp dreißig Jahre danach, im Jahr 1876, die konfessionelle Volksschule abgeschafft und durch eine „Simultanschule“ ersetzt, wie das damals hieß, in der alle Kinder, egal ob katholisch, evangelisch oder jüdisch (andere „Bekenntnisse“ gab es damals praktisch nicht in Baden), gemeinsam unterrichtet wurden. In anderen Ländern gab es noch lange Konfessionsschulen, in den süd-württembergischen Landesteilen des heutigen Landes Baden-Württemberg wurden die staatlichen Bekenntnisschulen erst fast 100 Jahre danach, nämlich 1967, abgeschafft. Die Schulaufsicht allerdings blieb auch im liberalen Baden bis 1919 in den Händen der Kirchen.

Die Weimarer Reichsverfassung galt bis zum 23. März 1933, jenem Tag der Schande, als die „bürgerlichen“ Parteien unser Land mit dem Ermächtigungsgesetz einer Horde von Verbrechern überantworteten.

Es dauerte nach dem Scheitern der Paulskirchenverfassung noch 70 Jahre, bis aus dem Verfassungstraum Wirklichkeit wurde: Am 11. August 1919 trat die Weimarer Reichsverfassung in Kraft, die fast 14 Jahre lang das Grundgesetz der deutschen Republik war, bis zum 23. März 1933, jenem Ta g der Schande, als die so genannten „bürgerlichen“ Parteien unser Land mit dem Ermächtigungsgesetz einer Horde von Verbrechern überantworteten.

Im zweiten Hauptteil „Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen“ enthält die Weimarer Reichsverfassung die so genannten „Kirchenrechtsartikel“ (Artikel 135 bis 141) – sie stammen direkt, teilweise wörtlich, von den entsprechenden Paragrafen der Paulskirchenverfassung ab. Drei dieser Artikel finden sich fast wörtlich heute im Grundrechtskatalog des Grundgesetzes wieder. Es ist eine klare Linie, die von Frankfurt nach Weimar und von dort zum Bonner Grundgesetz führt.

Artikel 135 der WRV besagt auszugsweise: „Alle Bewohner des Reichs genießen volle Glaubens- und Gewissensfreiheit. Die ungestörte Religionsausübung wird durch die Verfassung gewährleistet und steht unter staatlichem Schutz.“

Anders als noch die Paulskirchenverfassung gestand die WRV diese Glaubens-, Gewissens- und Religionsfreiheit nicht nur den Deutschen zu, sondern allen, die hier wohnen, das Grundgesetz garantiert sie sogar allen Menschen ohne jede Einschränkung. Schritt für Schritt also ging es vorwärts in den vergangenen 160 Jahren.

Nicht mehr der katholische Erzbischof oder der evangelische Oberkirchenrat bestimmten über das Schulwesen, sondern der säkulare Staat.

In Artikel 144 der WRV ist verfügt: „Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates; … . Die Schulaufsicht wird durch hauptamtlich tätige, fachmännisch vorgebildete Beamte ausgeübt.“ Das war das Ende der geistlichen Schulaufsicht. Nicht mehr der katholische Erzbischof oder der evangelische Oberkirchenrat bestimmten über das Schulwesen, sondern der säkulare Staat.

Und in Artikel 149 der WRV findet sich zum Religionsunterricht, der – außer an bekenntnisfreien Schulen – zum „ordentlichen Lehrfach“ erklärt wird, die Bestimmung: „Die Erteilung religiösen Unterrichts und die Vornahme kirchlicher Verrichtungen bleibt der Willenserklärung der Lehrer, die Teilnahme an religiösen Unterrichtsfächern und an kirchlichen Feiern und Handlungen der Willenserklärung desjenigen überlassen, der über die religiöse Erziehung des Kindes zu bestimmen hat.“

Aus den Artikeln 135, 144 und 149 der WRV sind also die Grundgesetzartikel 4 und 7 geworden. Ganze zwei Artikel im Grundrechtsteil des Grundgesetzes beschäftigen sich also dezidiert mit dem Verhältnis von Staat und Religion. Deshalb hören die meis¬ten Menschen dann auch auf, im Grundgesetz nach weiteren Bestimmungen zu diesem Thema zu suchen. Das ist ein Fehler, denn auch die übrigen „Kirchenrechtsartikel“ der WRV sind bis auf einen im Jahr 1949 wörtlich in das Grundgesetz der soeben gegründeten Bundesrepublik Deutschland übernommen worden.

Allerdings verstecken sie sich ganz am Ende unserer heutigen Verfassung in Artikel 140. Dort heißt es lapidar: „Die Bestimmungen der Artikel 136, 137, 138, 139 und 141 der deutschen Verfassung vom 11. August 1919 sind Bestandteil dieses Grundgesetzes.“

Mehr steht da nicht. Leider haben die Mütter und Väter des Grundgesetzes darauf verzichtet, den Wortlaut dieser fünf bedeutsamen Verfassungsbestimmungen direkt zu zitieren, nicht einmal als Fußnote sind sie abgedruckt, obwohl sie doch integraler Bestandteil unserer Verfassung sind. Das ist fatal, denn damit gehen sie regelrecht unter, sie werden oft vergessen oder nicht beachtet.

Dabei wird in ihnen und in Zusammenschau mit den eben genannten Grundgesetzartikeln 4 und 7 das Verhältnis von Staat und Religion in unserer Republik definiert. Ich will hier einige wesentliche Punkte zitieren – wobei ich gerne einräume, dass dies eine subjektive Auswahl ist, aber sie sind mir halt besonders ans Herz gewachsen:

„Artikel 136
(1) Die bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten werden durch die Ausübung der Religionsfreiheit weder bedingt noch beschränkt.
(2) Der Genuss bürgerlicher und staatsbürgerlicher Rechte sowie die Zulassung zu öffentlichen Ämtern sind unabhängig von dem religiösen Bekenntnis.
(3) Niemand ist verpflichtet, seine religiöse Überzeugung zu offenbaren. Die Behörden haben nur soweit das Recht, nach der Zugehörigkeit zu einer Religionsgesellschaft zu fragen, als davon Rechte und Pflichten abhängen oder eine gesetzlich angeordnete statistische Erhebung dies erfordert.
(4) Niemand darf zu einer kirchlichen Handlung oder Feierlichkeit oder zur Teilnahme an religiösen Übungen oder zur Benutzung einer religiösen Eidesformel gezwungen werden.

Artikel 137
(1) Es besteht keine Staatskirche. …“
Das ist in unserem Land geltendes Verfassungsrecht. Seit neunzig Jahren also – unterbrochen durch die finsteren Jahre der Nazi-Barbarei und wiederaufgelebt seit sechzig Jahren – ist in Deutschland die Religionsfreiheit ein Verfassungsauftrag – und zwar die negative und die positive Bekenntnisfreiheit. Der Staat muss ebenso das Recht schützen, ein Bekenntnis zu haben und danach zu leben, wie er umgekehrt das Recht eines Jeden wahren muss, kein Bekenntnis zu haben und danach zu leben und zu handeln.

Seit neunzig Jahren also – unterbrochen durch die finsteren Jahre der Nazi-Barbarei und wiederaufgelebt seit sechzig Jahren – ist in Deutschland die Religionsfreiheit ein Verfassungsauftrag.

Es ist bisweilen notwendig, hieran zu erinnern. Denn bis heute haben nicht alle begriffen, dass unsere Verfassung beispielsweise verbietet, Schülerinnen und Schüler oder ihre Lehrkräfte zur Teilnahme an Schul- und Schülergottesdiensten zu zwingen.

Dass sich diese fünf Artikel so verstecken, liegt an der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes. Es war schwierig genug, diese Bestimmungen der WRV überhaupt in unsere Verfassung hineinzuretten: Bei den Verhandlungen des Parlamentarischen Rats war es nämlich zunächst überhaupt nicht vorgesehen, das Verhältnis von Staat und Kirche im Grundgesetz zu regeln. Es ist ein Treppenwitz der Verfassungsgeschichte, dass die Aufnahme der Kirchenrechtsartikel der WRV eigentlich den Parteien der Rechten, der CDU sowie der katholischen Zentrumspartei und der Deutschen Partei, die beide längst in der CDU aufgegangen sind, zu verdanken ist.

Die wollten nämlich unbedingt die Religion in die Verfassung aufnehmen und beantragten deshalb, zwar den aus der Paulskirchenverfassung und der WRV tradierten Grundsatz beizubehalten, dass keine Staatskirche besteht, zugleich aber wollten sie den Kirchen und Religionsgesellschaften „in ihrer Bedeutung für die Wahrung und Festigung der religiösen und sittlichen Grundlage des menschlichen Lebens“ eine besondere Stellung zubilligen. Die Weltanschauungsgemeinschaften, die in der WRV den Kirchen gleichgestellt worden waren, fehlten in diesem Antrag der rechten Parteien.

Das rief die SPD und die FDP auf den Plan. Sie brachten den Antrag der Rechtsparteien mit knapper Mehrheit zu Fall. Die CDU und ihre Partner schlugen dann ersatzweise vor, die einschlägigen Bestimmungen der Weimarer Verfassung aufrechtzuerhalten, aber mit zwei Bedingungen:

1.
Erstens sollte Artikel 138 Abs. 1 WRV entfallen. Darin ist bestimmt: „Die auf Gesetz, Vertrag oder besonderen Rechtstiteln beruhenden Staatsleistungen an die Religions¬gesellschaften werden durch die Landesgesetzgebung abgelöst. Die Grundsätze hierfür stellt das Reich auf.“

Aber damit war ein entscheidender Schritt auf dem Weg getan, endlich Schluss zu machen mit der hemmungslosen Subventionierung der Großkirchen.

Das war der Versuch, eine ganz wesentliche Vorschrift der WRV wieder zurückzuschrauben. Zwar ist diese Ablösung der Staatsleistungen an die evangelische und die katholische Kirche – wie viele andere gute Vorsätze auch – in der Weimarer Zeit nicht gelungen. Aber damit war ein entscheidender Schritt auf dem Weg getan, endlich Schluss zu machen mit der hemmungslosen Subventionierung der Großkirchen. Denn ein beträchtlicher Teil dieser jährlich hunderte von Millionen Euro umfassenden Zuwendungen geht darauf zurück, dass Anfang des 19. Jahrhunderts bei der Auflösung des alten Kaiserreiches sehr viel Kirchenvermögen an die neuen und alten weltlichen Herrscherhäuser bzw. ihre Staaten ging. Auch der neu gegründete badische Staat von Napoleons Gnaden bzw. sein Großherzog haben damals viel eingesackt. Und seine Erben, die heute noch im damals enteigneten Kloster Salem wohnen, verscherbeln derzeit einiges davon an den Nachfolgestaat Baden-Württemberg.

Für diese Enteignungsmaßnahmen vor 200 Jahren zahlen die Steuerzahler heute noch unermessliche Summen an die früheren Besitzer – das sind die beiden Großkirchen. Dabei gilt in unserer Rechtsordnung doch, dass bei einer Enteignung an den Vorbesitzer eine angemessene Entschädigung zu entrichten ist. Wir tun aber so, als gehörten diese Ländereien und Gebäude den Kirchen immer noch und wir müssten ihnen dafür seit mehr als zweihundert Jahren kräftig Miete zahlen. Das tun wir auch dann noch, wenn die Gebäude längst abgebrochen sind oder ganz anderen Zwecken dienen.

2.
Zum Zweiten versuchte die CDU bei den Beratungen des Parlamentarischen Rats durchzusetzen, dass die am Kriegsende bestehenden Kirchenverträge so lange anerkannt werden, bis sie durch neue, von den Ländern abzuschließende Verträge ersetzt würden. Gemeint waren das Reichskonkordat Hitlers mit dem Vatikan, aber auch das Badische Konkordat von 1932 und der parallele Staatskirchenvertrag mit der Evangelischen Kirche. Auch das hat mit Geld zu tun, mit viel Geld.

Beide Vorhaben der CDU und ihrer rechten Bündnispartner sind gescheitert. Der Parlamentarische Rat beschloss stattdessen, die Kirchenrechtsartikel der WRV mit einer Ausnahme komplett, Wort für Wort ins Grundgesetz aufzunehmen – ohne eine Bezugnahme auf die Konkordate.

Das ist ein wichtiger Schritt gewesen und wir dürfen uns noch heute darüber freuen. Wir feiern es heute. Aber was das Geld angeht, hat sich seitdem nichts geändert. Noch immer ist der fortdauernde Auftrag der WRV unerledigt, die Staatsleistungen an die Kirchen abzulösen.

Ich will sagen, was das für uns hier bedeutet: Das heutige Land Baden-Württemberg hat in seiner Landesverfassung eine Bestimmung eingebaut und sie in den 2007 mit den beiden Großkirchen abgeschlossenen Staatskirchenverträgen noch einmal wiederholt: „Die dauernden Verpflichtungen des Landes zu wiederkehrenden Leistungen an die Kirchen bleiben nach Maßgabe des Artikels 138 der deutschen Verfassung vom 11. August 1919 dem Grunde nach gewährleistet.“

Was das konkret heißt, steht auch in diesen Verträgen, von denen kaum jemand weiß: Das Land zahlt im Jahr 2009 allein „für kirchenregimentliche Zwecke, für Zwecke der Pfarrbesoldung und -versorgung und für andere besondere Rechtstitel“

  • 13.294.200 Euro Staatsleistungen an die Evangelische Landeskirche in Baden;
  • 36.334.400 Euro Staatsleistungen an die Evangelische Landeskirche in Württemberg; sowie „anstelle früher geleisteter Zahlungen für Zwecke des Kirchenregiments, der Pfarrbesoldung und -versorgung sowie anstelle anderer, früher auf Gesetz. Vertrag oder besonderen Rechtstiteln beruhender Zahlungen einen Gesamtzuschuss“ in Höhe von
  • 24.621.500 Euro an die Erzdiözese Freiburg,
  • 24.719.200 Euro an die die Diözese Rottenburg-Stuttgart.

Zusammen sind das fast genau 100 Millionen Euro Staatsgeld an die Kirchen, vorrangig für die Besoldung der amtierenden und der zur Ruhe gesetzten „Gottesdiener“. Alle Steuerzahler, auch alle ohne Religion, müssen dafür blechen.

Übrigens: In den baden-württembergischen Staatskirchenverträgen von 2007 finden sich genau jene Worte des damaligen CDU-Antrags wieder, die 1949 im Parlamentarischen Rat von der Mehrheit abgelehnt wurden: Das alles geschehe „in Anerkennung der Bedeutung der Kirchen für die Bewahrung und Festigung der religiösen und sittlichen Grundlagen des menschlichen Lebens“. Wer mag diese Formulierung da wohl hineingeschmuggelt haben? Wichtiger noch als diese eher ironische Frage ist die sachliche Feststellung: Hier zeigt sich, dass man in Religionsfragen ein gutes, langes Gedächtnis und viel Geduld haben muss.

Und damit sind wir bei des Pudels Kern: Trotz dieser Verfassungsbestimmungen gibt es in Deutschland heute beileibe keine vollständige Trennung von Staat und Kirche. Unsere Verfassung ist immer noch unvollendet. Zwar besteht keine „Staatskirche“ mehr, aber Staat und Religion, vor allem der Staat und die beiden Großkirchen, sind nach wie vor vielfach miteinander verflochten, zum Beispiel durch den Religionsunterricht an öffentlichen Schulen, den Einzug der Kirchensteuer durch den Staat, die Bezahlung der oberen Kirchenbeamten und Bischöfe durch den Steuerzahler oder die staatliche Mit-Finanzierung vieler kirchlicher Gebäude und Einrichtungen.

So glauben beispielsweise die meisten Menschen, dass die kirchlichen Krankenhäuser, Altersheime oder Kindergärten von den Kirchen beziehungsweise den Kirchensteuerzahlern finanziert werden.

Das zeigt sich auch an unendlich vielen anderen Stellen – besser gesagt: Eigentlich zeigt es sich zumeist nicht öffentlich, sondern wird gerne eher verschleiert. So glauben beispielsweise die meisten Menschen, dass die kirchlichen Krankenhäuser, Altersheime oder Kindergärten von den Kirchen beziehungsweise den Kirchensteuerzahlern finanziert werden. Das stimmt absolut nicht – den größten Teil der Aufwendungen in diesen Einrichtungen, von den Gebäuden bis zum Personal, finanzieren die öffentliche Hand, also alle Steuerzahler, und die Renten- oder Krankenkassen. Dieses Bündnis von Staat und Kirche wirkt oft im Untergrund, aber dafür umso kräftiger. Wer weiß schon, dass der baden-württembergische Vertrag mit der Evangelischen Kirche einen Artikel 14 mit der Überschrift „Rundfunk“ enthält, in dem es heißt: „Das Land wirkt darauf hin, dass die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten und die privaten Rundfunkveranstalter den Kirchen angemessene Sendezeiten für die Übertragung gottesdienstlicher Handlungen und Feierlichkeiten sowie sonstiger religiöser Sendungen zur Verfügung stellen. Es wird darauf bedacht bleiben, dass in den Programmen die sittlichen und religiösen Überzeugungen der evangelischen Bevölkerung geachtet werden und das Leben der Kirchen in den Eigensendungen der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten angemessen berücksichtigt wird. Das Land wirkt ferner darauf hin, dass in den Aufsichtsgremien des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und in den Programmbeiräten der privaten Rundfunkveranstalter die Kirchen angemessen vertreten sind.“ Für die katholische Seite wird das analog gehandhabt.

Und nur wenigen ist bewusst, dass man in manchen Gegenden unseres Landes seinen Beruf nicht ausüben kann, wenn man keiner Kirche (oder der falschen) angehört, wenn man sich scheiden lässt oder einen Angehörigen einer anderen Konfession heiratet.

Und nur wenigen ist bewusst, dass man trotz Gleichberechtigung und verfassungsrechtlichem Diskriminierungsverbot, dass man trotz Allgemeinem Gleichstellungsgesetz und Berufswahlfreiheit in manchen Gegenden unseres Landes seinen Beruf schlicht nicht ausüben kann, wenn man keiner Kirche (oder der falschen) angehört, weil es weit und breit nur kirchliche oder kirchlich ge¬bundene Arbeitgeber gibt. Dass man seinen Job in kirchlichen Einrichtungen verliert, wenn man sich scheiden lässt oder einen Angehörigen einer anderen Konfession heiratet. Dass die Kirchen Körperschaften des öffentlichen Rechts sind, bringt diesen Institutionen vielfältige Vorteile, aber es schützt ihre Beschäftigten nicht vor Glaubenswillkür.

Das alles beweist, dass unsere Verfassung schlicht nicht mehr zeitgemäß ist. Denn als die Weimarer Reichsverfassung 1919 entstand, gab es in Deutschland weniger als eine halbe Million Konfessionsfreie. In der Gegenwart sind es aber mehr als dreißig Millionen, mehr als ein Drittel der Bevölkerung. Außerdem sind zu den ehemals dominanten christlichen Volkskirchen muslimische Gemeinschaften und viele andere Glaubensrichtungen hinzugekommen.
Sie alle haben das Recht auf die volle Glaubens-, Gewissens- und Religionsfreiheit. Das geht nicht, wenn den Religionsgemeinschaften (und darunter vor allem und oft sogar allein den Großkirchen) Privilegien eingeräumt sind. Ein modernes, freiheitliches und weltoffenes Gemeinwesen, in dem alle gleiche Rechte haben, kann nur gelingen, wenn sich der Staat endlich aus der Jahrtausendealten Unterwerfung unter überirdische Mächte löst, wenn endlich Schluss ist mit dieser Verklammerung von Staat und Kirche.

Wir müssen uns trennen von dem fast zweitausend Jahre alten Credo der christlichen Kirchen: „Es gibt keine staatliche Gewalt, die nicht von Gott stammt; jede ist von Gott eingesetzt“ (Römer 13.1). Nein, jede staatliche Gewalt ist von Menschen gemacht und kann von Menschen verändert werden. Das ist die Grundlage der Demokratie, die von den Kirchen noch vor hundert Jahren als Teufelswerk angesehen wurde. Heute tun sie so, als hätten sie die Demokratie erfunden!

Glauben mag ein jeder, was er will, solange er damit keinem anderen Schaden zufügt. Aber der Staat muss frei sein davon. Religion muss Privatsache sein.

Dieser laizistische Staat ist gegenwärtig in unserem Land noch eine Utopie. Noch gibt es für die notwendige Fortentwicklung der Freiheitsrechte in unserer Verfassung keine Mehrheiten, weder bei den Abgeordneten noch bei ihren Wählerinnen und Wählern. Noch haben wir – zumindest hier bei uns im deutschen Südwesten – keine Chance, dass endlich der Religionsunterricht zur Privatsache erklärt und aus den staatlichen Schulen entfernt wird.

Vielleicht sollten wir in dieser Frage von der großen, alten und immer noch mächtigen katholischen Kirche lernen: Man braucht Geduld, Zähigkeit und Beharrlichkeit, wenn man etwas erreichen will.

Aber ohne Utopie gibt es keinen Fortschritt. Zwar sei der eine Schnecke, hat Günter Grass gesagt. Langsam, ganz langsam geht es voran. Aber es geht. Vielleicht sollten wir in dieser Frage von der großen, alten und immer noch mächtigen katholischen Kirche lernen: Man braucht Geduld, Zähigkeit und Beharrlichkeit, wenn man etwas erreichen will.

In diesem Sinne wünsche ich uns Zähigkeit und Beharrlichkeit auf dem Weg zur konsequenten Trennung von Staat und Religion – und ein wenig Ungeduld wäre auch nicht falsch, damit es schneller vorangeht.

Und in diesem Sinne erinnern wir heute in Dankbarkeit an alle, die ungeduldig, zäh und beharrlich in den vergangenen160 Jahren – und in den Jahrhunderten davor – Stück um Stück die Freiheitsrechte formuliert und erkämpft haben, die wir in Zukunft weiter ausbauen wollen.“