Spiritualität ohne Gott?!

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Karl-Becker-Haus / Foto: DHUW

STUTTGART. (dhuw/hpd) Am 22. Oktober hielt der Philosoph, Religionskritiker und Publizist Dr. Dr. Joachim Kahl im Humanistischen Zentrum Stuttgart (Karl-Becker-Haus) seinen Vortrag „Weltlich-humanistische Spiritualität – Seele des Atheismus“ anlässlich der Humanistischen Hospizinitiative der Humanisten Württemberg in Kooperation mit der Arbeiterwohlfahrt (AWO).

Dass eine Spiritualität ohne Gott nicht nur möglich, sondern für ein erfülltes Leben durchaus von Nöten ist, dies zeigte Joachim Kahl seinem interessierten Publikum in aller Klarheit und Deutlichkeit auf. Und in der Tat bestand Erklärungsbedarf der humanistischen Spiritualität, die sich – gemäß den Leitlinien des Deutschen Hospiz- und Palliativ-Verbandes – auch als grundlegender Bestandteil im theoretischen und praktischen Rahmen der Humanistischen Hospizinitiative wiederfindet.

Zunächst befasste er sich mit dem Begriff der Spiritualität, die für die geistige Einstellung zum Leben stehe, dabei Verstand und Gefühl umfassend, und sprach sich dagegen aus, „jeden Sinnsucher zum Gottsucher zu mystifizieren“. Denn spirituelle Bedürfnisse können sowohl im Rahmen einer Religion, als auch außerhalb der Strukturen einer solchen bedient werden: Es sind die Inhalte, die für eine Unterscheidung zwischen einer weltlich-humanistischen und einer religiösen Spiritualität sorgen, nicht die Formen.

Um diese Argumentation zu unterstreichen, verdeutlichte Kahl am Yin-Yang-Symbol, dass ganzheitliche sowie symbolische Handlungen und Zeichen losgelöst von kirchlichem Kontext nicht unweigerlich für eine esoterische Lebenseinstellung stünden. Aus „unmittelbare[r] Anschauung und Deutung realer Vorgänge in der Natur“ entstanden, stellte dieses Symbol „das Grundgesetz von Polarität und Komplementarität dar“, was im westlichen Diskurs auch als Dialektik bezeichnet wird.

Der hier symbolisch dargestellte Kreislauf der Natur und des Lebens brachte den Referenten nun zur Thematik der menschlichen Sterblichkeit. Er betonte den Tod dabei als Schlusspunkt eines jeden Lebens: „Die Sterberate jeder Population beträgt stets hundert Prozent.“ Die Demokratie des Todes habe daher einerseits selbstverständlich etwas Bedrückendes, andererseits berge diese Einsicht aber gerade auch die Chance in aller Bewusstheit ein freies, selbstbestimmtes und -verantwortliches Leben zu führen. Verbunden mit dem Aspekt der Dankbarkeit sollte dies rückblickend auch bei einer hospizlichen Begleitung ins Bewusstsein gerufen werden.

So schloss Kahl, nach einer diese Gedanken noch veranschaulichenden Analyse des Märchens „Gevatter Tod“ von den Brüdern Grimm, seinen Vortrag mit den Worten: „Die Konsequenz aus alledem lautet: Carpe diem! Nutze den Tag! Nutze dein Leben, denn es ist kurz und dir nur einmal gegeben“. Diesem Credo konnten die zahlreich erschienenen Zuhörer zustimmen. Und auch die Bedeutung einer grundsätzlichen Auseinandersetzung mit Spiritualität für den Humanismus im Allgemeinen konnte Joachim Kahl, der sich schon seit vielen Jahren mit dem Thema befasst, aufzeigen. Seine Gedanken und Ideen hierzu sind nachzulesen in seinem aktuellsten Buch zum weltlichen Humanismus.

Eine weitere wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Humanismus und Spiritualität bleibt in jedem Falle wünschenswert – nicht nur im Hinblick auf eine humanistische Hospizkultur, sondern auch zur Auslotung des Selbstverständnisses eines weltlichen Humanismus. Dass Spiritualität auch außerhalb von Religion als menschliches Bedürfnis vorhanden bleibt und sich in jeder Lebenspraxis wiederfindet, zeigt auch der Frankfurter Soziologe Prof. Dr. Ulrich Oevermann, der ebenfalls hierbei stets die Trennung von Struktur und Inhalt betont (siehe u.a.: Ulrich Oevermann (1995): Ein Modell der Struktur von Religiosität. Zugleich ein Strukturmodell von Lebenspraxis und von sozialer Zeit. In: MONIKA WOHLRAB-SAHR (Hrsg.) Biographie und Religion. Zwischen Ritual und Selbstsuche. Frankfurt am Main/New York: Campus, S. 27–102). Dem Referenten Joachim Kahl ist es gelungen, diesen Inhalt von weltlich-humanistischer Warte aus seinem Publikum näher zu bringen – offen und einfühlsam, nicht nur auf Basis philosophischer Auseinandersetzung, sondern auch ausgehend von gelebter Erfahrung.

Julia von Staden

 

Das aktuellste Buch von Joachim Kahl: Weltlicher Humanismus: Eine Philosophie für unsere Zeit. Band 1 von Philosophische Plädoyers, 4.Auflg., LIT Verlag Berlin-Hamburg-Münster, 2009. Euro 18,90.