„Wissenschaftler im Religiositäts-Rausch“

MÜNSTER. (exc/hpd) Der Münsteraner Religionssoziologe Detlef Pollack sieht viele seiner Kollegen in einem „Religiositäts-Rausch“. Sein neues Buch „Rückkehr des Religiösen?“ widerspricht der These von der Wiederkehr der Religion.

Zahlreiche Historiker, Theologen und Religionssoziologen seien überzeugt, dass „unsere Gesellschaft voller Religion sei; das Religiöse manifestiere sich nicht mehr nur in den Kirchen, sondern auch an bislang unvermuteten Plätzen“. Dazu gehörten Popsongs, Werbung, TV-Serien, meditative Techniken und Fußballbegeisterung genauso wie Extremsport, Gruppentherapie oder die Selbsttranszendierung in der Sexualität, schreibt der Forscher des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (WWU) in seinem neuen Buch „Rückkehr des Religiösen?“.

Beispielbild
Prof.Dr. Detlef Pollack
„Betrachtet man diesen inflationären Gebrauch des Religionsbegriffs, dann gewinnt man zuweilen den Eindruck, als ob sich alles, was manche Theologen und Religionssoziologen anfassen, wie von Zauberhand in Religion zu verwandeln mag“, so Pollack in seinem Buch aus dem Tübinger Verlag Mohr Siebeck. Tatsächlich aber lasse sich die heraufbeschworene „Wiederkehr der Götter“ empirisch nicht belegen, so der Wissenschaftler. Die Zahl der Konfessionslosen nehme Erhebungen zufolge in allen westeuropäischen Ländern zu. Auch die regelmäßigen Kirchgänger in Westeuropa würden seit 30 Jahren immer weniger. Selbst die Anzahl der Menschen, die an Gott glauben, sei mit Ausnahme der neunziger Jahre seit Jahrzehnten rückläufig.

Die starke Präsenz der Religion in den Medien darf nach Ansicht von Pollack nicht mit der religiösen Praxis und Lebensführung Einzelner verwechselt werden. Hier ließen repräsentative Erhebungen keine Trendumkehr erkennen. Die Säkularisierungsthese, nach der der Stellenwert von Religion und Kirche in modernen Gesellschaften abnimmt, sei also empirisch gut belegt, auch wenn Soziologen und Historiker sie inzwischen gern als veraltet sowie als „eindimensional, deterministisch und fortschrittsgläubig abtun“. Ihre Ablehnung habe weniger mit einem Zuwachs an Religiosität zu tun als mit einer weit verbreiteten Skepsis gegenüber den Versprechungen der Moderne. Auch das Bewusstwerden der politischen Konflikthaftigkeit des Religiösen habe dazu beigetragen, den Bedeutungsrückgang des Religiösen in modernen Gesellschaften zu bezweifeln. Zwischen der politischen Indienstnahme des Religiösen und seiner gesellschaftlichen und persönlichen Akzeptanz müsse jedoch klar unterschieden werden.
 

Viola van Melis
Exzellenzcluster "Religion und Politik" (*)

 

Detlef Pollack, Rückkehr des Religiösen? Studien zum religiösen Wandel in Deutschland und Europa II. Tübingen, Verlag Mohr Siebeck 2009, 34 Euro.

(*) Im Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster forschen gut 150 WissenschaftlerInnen aus 20 geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen und elf Ländern. Sie untersuchen das komplexe Verhältnis zwischen Religion und Politik von der Antike bis zur Gegenwart und von Lateinamerika über Europa bis in die asiatische arabische Welt. Es ist der bundesweit größte Forschungsverbund dieser Art und von den deutschlandweit 37 Exzellenzclustern der einzige zum Thema Religionen. Bund und Länder fördern das Vorhaben im Rahmen der Exzellenzinitiative bis 2012 mit 37 Millionen Euro.