Zur Identität Europas

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Europatag / Grafik: EU

HAMBURG. (hpd) Anlässlich des Reformvertrages der Europäischen Union reflektiert Helmut Kramer über die Grundwerte Europas, mit Hinblick auf die Situation in Deutschland und die Grundlagen und Chancen der säkularen Werte in der Tradition und Realität einer Identität Europas.

  I
Am 1. Dezember 2009 trat der Reformvertrag von Lissabon über die Europäische Union in Kraft. Dabei stellt sich die Frage: Welche Identität hat Europa? Die Antwort ist für den inneren Zusammenhalt des Europäischen Staatenbundes, aber auch für seine humanitären und militärischen Einsätze außerhalb der EU Grenzen von Bedeutung. Nach welchen Grundwerten urteilt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte?

Wofür sterben europäische Soldaten am Hindukusch? Die Frage nach der Identität Europas stellt sich aber auch, wenn es um die Erweiterung der EU geht – z. B. bei der der Türkei. Die Solidarität innerhalb der EU lässt sich nicht ausreichend durch seine Geografie oder als Freihandelszone begründen. Solidarität setzt einen Wertekonsens voraus. Aber welche Werte sind es, und wo kommen sie her?

 

                                                     II

Zwei Weltbilder konkurrieren in Europa.

1. Beispiel: Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 3.11.2009 - kein christliches Kreuz in Staatsschulen - wurde die Kluft zwischen diesen beiden Weltbildern der Öffentlichkeit wieder einmal bewusst. Vertreter der christlichen Kirchen reklamierten nach dem Urteil Hoheitsrechte für ihren Glauben, weil er ein Symbol der europäischen Geschichte und identitätsstiftend für einen notwendigen gesellschaftlichen Konsens des Staatsvolkes sei. In Deutschland beruft man sich gern auf den ehemaligen katholischen Richter am Bundesverfassungsgericht Ernst-Wolfgang Böckenförde: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“. Böckenförde folgert daraus, dass der Staat aus jenen Bindungskräften leben muss, die der religiöse Glaube (sprich christlicher Glaube) seiner Bürger vermittelt. Hier manifestiert sich ein Weltbild, das Zusammenleben nur auf kollektiven Werteüberzeugungen zu denken vermag. Demokratie und Menschenrechte gründen dagegen auf einem Weltbild individueller Werteüberzeugungen, die der Staat sehr wohl durch seine Verfassung und Verfassungsorgane garantieren kann. Die jährlichen Verfassungsschutzberichte sind ein Zeichen der „wehrhaften Demokratie“.

2. Beispiel: Der Hessische Kulturpreis wurde am 26.11.2009 im 2. Anlauf vergeben, nachdem der erste wegen massiver öffentlicher Proteste aufgehoben worden war.. Was war geschehen? Dem Publizisten Karmani war der Preis zunächst aberkannt worden, weil seine Veröffentlichung über die christliche Kreuzestheologie von zwei kirchlichen Mitpreisträgern als Herabsetzung ihres Glaubens empfunden wurde. Der Hessische Staat stellte sich auf die Seite der Kirchenvertreter mit dem Argument: Die jahrhundertlange Prägung des christlich-jüdischen Deutschlands und Europas könne gerade bei einem Kulturpreis nicht durch juristische Gleichstellung wegdefiniert werden. Hier manifestiert sich ein Weltbild, das einen Hegemonieanspruch für die christlich-jüdische Religion geltend macht, obwohl nach unserer Verfassung der Staat zur weltanschaulichen Neutralität verpflichtet ist. Die „juristische Gleichstellung“ gründet sich auf ein Weltbild des Religionspluralismus und der Selbstbestimmung des Menschen.

3. Beispiel: Am 1.12.2009 gab das Bundesverfassungsgericht einer Klage der christlichen Kirchen statt, dass die Geschäfte in Berlin an den Advents-Sonntagen nicht geöffnet werden dürfen. Die Frage nach den Öffnungszeiten ist dabei unwichtig. Sie wird kontrovers diskutiert. Die Argumentation der knappen Mehrheit der Richter ist bemerkenswert: Es wird auf den christlichen Ursprung des Sonntagsschutzes verwiesen, obwohl in der Verfassung nur säkulare Gründe angegeben werden. Der Beschluss des Berliner Abgeordnetenhauses wurde also auf Grund einer Forderung der christlichen Kirchen außer Kraft gesetzt, obwohl kein Christ daran gehindert worden wäre, an den Advents-Sonntagen zu Hause zu bleiben.

Zwei Weltbilder – also zwei Überzeugungen – darüber, wie ein tragfähiger gesellschaftlicher Konsens entsteht.
Papst Benedikt bringt es auf den Punkt: Die unhinterfragbare göttliche Wahrheit steht im Kampf gegen die Diktatur des Relativismus.

 

                                                    III

Beide Weltbilder liefern ihre spezifische Begründung für Staatsformen.

1) Im Gottesgnadentum wird der weltliche Herrscher durch göttliche Beauftragung legitimiert. Der Brief des Paulus an die Römer 13,1: „Jeder Mann ist Untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit ohne von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott verordnet.“ Auch Luther hat an diesem Prinzip festgehalten. Der Deutsche Kaiser war gleichzeitig Oberhaupt der evangelisch-lutherischen Kirche. Auf dem Koppelschloss der Soldaten war eingraviert: „Für Gott und Vaterland“. In Deutschland endet das Staatskirchentum im Jahre 1919 nach dem Ende des Kaiserreiches. (Art. 137 Weimarer Verfassung: „Es besteht keine Staatskirche“.) Dennoch bestehen in Deutschland bis heute eine Vielzahl von anachronistischen Verflechtungen der christlichen Kirchen mit dem Staat. Durch die tief verwurzelte obrigkeitsstaatliche Gesinnung der Deutschen haben sich die westlichen Werte wie Demokratie und Menschenrechte nur zögerlich durchgesetzt. Der Einfluss der Alliierten bei der Formulierung der Weimarer Verfassung und des Bonner Grundgesetzes nach den beiden Weltkriegen hat dabei beschleunigend gewirkt. Deutschland gehört zu jenen europäischen Staaten, die bis zuletzt – allerdings vergeblich – versucht haben, einen Gottesbezug in den Reformvertrag von Lissabon aufzunehmen, obwohl 1/3 der Bevölkerung keine Kirchenmitglieder sind. In der Präambel zum Grundgesetz heißt es: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen ..... hat das Deutsche Volk dieses Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland beschlossen.“

2) Die Legitimation der heutigen westlichen Staatsformen geht zurück auf die Gesellschaftsvertragstheorie aus dem Jahre 1762 von Jean-Jacques Rousseau. An die Stelle des Gottesgnadentums tritt der mündige Bürger, der sich freiwillig dem Gemeinschaftswillen unterwirft, ohne seine persönliche Freiheit aufzugeben. Aus der vernunftbezogenen Erkenntnis, dass der Mensch zum eigenen Nutzen ein geordnetes Zusammenleben braucht, überträgt er Aufgaben an den Staat, die in der Verfassung definiert, eingegrenzt und veränderbar sind. Gesellschaftlicher Konsens ist demnach nicht Inhalt göttlicher Offenbarung sondern menschlicher Vereinbarung. An die Stelle einer Verkündigungsethik tritt eine öffentliche Diskursethik. Die von Papst Benedikt gebrandmarkte sog. „Diktatur des Relativismus“ ist unabdingbare Voraussetzung für Demokratie, kulturellen Pluralismus und die individuellen Menschenrechte.