Schachmatt und quicklebendig

Intellektuell ist es nicht gut bestellt um die Glaubwürdigkeit der Religionen. Ihre Attraktivität

scheint trotz dieser geistigen Ödnis in manchen Teilen der Welt ungebrochen zu sein.

Wenn es darum geht, die Welt zu erklären, stehen sämtliche Religionen heute schlechter da als je zuvor. Seit Jahrhunderten befinden sie sich in diesem Bereich auf dem Rückzug vor säkularen Erklärungssystemen. Vor allem an die Wissenschaft hat die Religion ein Gebiet nach dem anderen abtreten müssen. Was früher ausschließlich unter der Deutungshoheit der Religionen stand, kann heute weitgehend naturalistisch erklärt werden.

Die Astronomie erschütterte die religiösen Weltanschauungen, indem sie feststellte, dass die Erde nicht der Mittelpunkt der Welt ist, sondern nur ein winziger Bestandteil eines riesigen Universums. Von der Biologie wissen wir, dass der Mensch nicht die „Krone der Schöpfung“ und nicht das „Ebenbild Gottes“ darstellt, sondern wie alle anderen Lebewesen das Zwischenergebnis einer Millionen von Jahren andauernden Evolution. Die moderne Hirnforschung bringt die Vorstellung vom freien Willen ins Wanken, die für das christliche Menschenbild grundlegend ist.

Doch nicht nur die Wissenschaft, sondern auch die Philosophie fügte den religiösen Weltbildern erhebliche Schäden zu. Die Religionskritik zeigte, dass die religiösen Quelltexte wie die Bibel auch ethisch insgesamt unter heute weithin akzeptierten Mindeststandards liegen. Die Gebots- und Naturrechtslehren, die im Christentum zur Moralbegründung herangezogen werden, haben sich als unhaltbar erwiesen und können mit tragfähigeren säkularen Ethiken kaum noch konkurrieren.

Die Theologie befindet sich also heute in der bemitleidenswerten Situation, weder zur Erklärung der Realität, noch zur Entwicklung von Regeln für ein vernünftiges Zusammenleben substanzielle Beiträge leisten zu können. Selbst Belege für die bloße Existenz der den Religionen zugrunde liegenden Gott- oder Wesenheiten sind ihre Anhänger seit Jahrhunderten schuldig geblieben.

In der jüngsten Vergangenheit blieb der Theologie damit kaum etwas anderes übrig, als sich immer mehr auf die „symbolische“ Deutung ihrer vermeintlich heiligen Quellen zurückzuziehen oder zentrale Glaubensinhalte gleich völlig aufzugeben, da die Unvereinbarkeit der wörtlichen Inhalte mit modernen Erkenntnissen immer offensichtlicher wurde. Es dürfte in der Tat ein schwieriges Unterfangen darstellen, religiöse Mythen wie die „Auferstehung“ einem aufgeklärten Publikum zu vermitteln, ohne dabei vollends der Unredlichkeit anheimzufallen.

Wenn man all diese Niederlagen der Theologie in Rechnung stellt, kann man also durchaus davon sprechen, dass die Religionen auf intellektueller Ebene als kaum noch haltbar bezeichnet werden können. Sie stehen im direkten Widerspruch zu den Erkenntnissen der Wissenschaft und sind ethisch mehr als zweifelhaft. Dieser verheerenden Bilanz steht die teilweise immer noch hohe Anziehungskraft der Religionen entgegen. Da sie zumindest für aufgeklärte und wissenschaftlich grundlegend informierte Menschen schwerlich befriedigend sein können, was ihre Erklärungsleistung und die in ihnen vermittelten Moralvorstellungen angeht, muss die Attraktivität der Religionen andere Ursachen haben.

Neben der Befriedigung bestimmter psychischer Bedürfnisse wie dem Streben nach Gewissheit scheint der Erfolg der Religionen oftmals vor allem auf einem Faktor zu beruhen: ihrer sozialen Kompetenz. Zum einen bieten sie den Rahmen für Geselligkeit, für die Ausübung von Ritualen und die Fortführung von Traditionen. Von der Zusammenkunft zum Gebet bis zur Hochzeitfeier kommen die Religionen diesen menschlichen Bedürfnissen in vielfältiger Weise nach. Darüber hinaus stellen sie in zahlreichen Regionen der Erde ganz konkrete materielle Sozialleistungen bereit.

Diese sozialen Funktionen der Religionen werden aus westlicher Perspektive häufig wenig beachtet, da sich in Europa bereits weitgehend säkulare Alternativen herausgebildet haben, die diese sozialen Bedürfnisse erfüllen. Gemeinschaft, Rituale und Traditionen können hier in unzähligen nichtreligiösen Formen praktiziert werden, vom Sportverein bis zu humanistischen Verbänden. Die materiellen Sozialleistungen werden fast vollständig von den Wohlfahrtsstaaten bereitgestellt. Je mehr eine Zivilgesellschaft jenseits der Kirchen entstand und eine allgemeine Sozialpolitik wirksam wurde, desto mehr geriet die Religion ins Hintertreffen.

Weltweit ergibt sich jedoch mitunter ein anderes Bild. Die Religionen sind besonders dort virulent, wo im Gegensatz zu Europa keine säkularen und institutionell gefestigten Alternativen zur religiösen Gemeinschaftlichkeit und keinen funktionierenden Wohlfahrtsstaat gibt. Besonders deutlich wird dies etwa in islamisch oder hinduistisch geprägten Regionen, in denen sich ein Großteil der materiellen Umverteilung auf lokaler Ebene unter dem Dach der Religionen abspielt. Die dortigen Staaten sind bislang daran gescheitert, eine kontinuierlich funktionierende allgemeine Sozialpolitik zu etablieren. Auch auf nicht-materiellem sozialen Gebiet existiert keine säkulare Zivilgesellschaft in Form von Vereinen, Verbänden und anderer Gemeinschaften, die mit den Religionen ernsthaft konkurrieren könnte.

Weil es in Europa nicht mehr in diesem Ausmaß präsent ist, scheinen mache moderne Religionskritiker das soziale Moment der Religion, über das es vor allem in anderen Regionen der Erde verfügt, zu vergessen. Stattdessen zeigen sie immer wieder, dass die Welterklärungen der Religionen falsch und ihre Moralvorstellungen zurückgeblieben sind – womit sie Recht haben. Die Kritik religiöser Glaubensinhalte und die Konstruktion besserer Alternativen sind ein unverzichtbarer Bestandteil der Religionskritik. Es hat nur den Anschein, dass man den Religionen auf dieser rein intellektuellen Ebene nicht beikommen kann. Nur, wenn auch auf der sozialen Ebene tragfähige weltliche Alternativen zur Religion entwickelt werden – wie es in den Wohlfahrtsstaaten Europas bereits in vielerlei Hinsicht geschehen ist – hat der Säkularismus eine Chance.

Klaas Schüller