Nach dem Islamismus?

(hpd) Der Kulturanthropologe Werner Schiffauer legt mit „Nach dem Islamismus. Eine Ethnographie der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs“ eine Studie zur Wandlung der islamischen Organisation hin zu einer „postislamistischen Position“ vor. Bei allem Interesse für den postulierten grundsätzlichen Wandel lässt es der Autor doch häufig an einer kritischen Distanz gegenüber seinem Untersuchungsobjekt fehlen.

 

Das politische Denken von Menschen kann sich immer auch ändern, werden doch mitunter selbst Extremisten zu Demokraten. Einen derartigen Prozess meint der Kulturanthropologe Werner Schiffauer auch für die „Islamische Gemeinschaft Milli Görüs“ (IGMG) ausmachen zu können. Die Organisation entstand als Ableger der Milli Görüs-Bewegung um Necmettin Erbakan in der Türkei, welche die Islamisierung des dortigen Staates über den institutionellen Weg der Parteipolitik anstrebte. Auch in Deutschland propagierte man einschlägige Auffassungen und Feindbilder. Regelmäßig taucht daher die IGMG auch in den Verfassungsschutzberichten auf, wo sie als zwar nicht gewaltorientierte, aber sehr wohl islamistisch ausgerichtete Bestrebung eingeschätzt wird. Dieser Bewertung widerspricht Schiffauer in seinem Buch „Nach dem Islamismus. Eine Ethnographie der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs“, das auf Basis einer neunjährigen Langzeitstudie entstand und das Bild einer „postislamistischen Generation“ zeichnen will.

Es gliedert sich in acht Kapitel: Zunächst geht es um das öffentliche Bild von der IGMG und das Verständnis von „Postislamismus“ als Trend in der islamischen Welt. Dem folgt eine Beschreibung des Milieus um die Arbeitermoscheen seit den 1960er Jahren. Danach steht die Geschichte der Milli Görüs-Bewegung in der Türkei, ihre transnationale Dimension für Europa und ihre behauptete Hinwendung zum „Postislamismus“ im Zentrum der Darstellung. Eine Kollektiv-Biographie der jüngeren IGMG-Führungsgruppe mit Ausführungen zu deren gesellschaftlichen und politischen Prägungen schließt sich dem an. Dazu gehöre auch eine „Neo-Orthodoxie“, welche das Verständnis vom Islam nicht mehr an den Vorvätern ausrichte, sondern es inhaltlich weiter entwickele. Um in dieser Hinsicht auch öffentlich wahrgenommen zu werden, ginge man zurecht juristisch gegen anderslautende Darstellungen in Medien und Verfassungsschutzberichten vor. Und schließlich geht es noch um die Rolle der postislamistischen Generation in der Gemeinde und deren Perspektive in Europa.

Für Schiffauer war die Milli Görüs-Bewegung in ihrer ganzen Geschichte bestrebt, eine „islamische Massenbewegung aufzubauen bzw. als Volkspartei die türkischen Muslime in ihrer Gesamtheit zu vertreten“ (S. 136). Heterogenität und Vielfalt seien „kein äußeres und zufälliges Merkmal, sondern sie ist konstitutiv für ihren Charakter“ (S. 137). Heute deute sich aber immer stärker eine Abkehr von den Idealen des Islamismus an, was sich durch eine Krise der damit angesprochenen politischen Bewegung erkläre. Als deren Folge habe sich der „Postislamismus als Geistesverfassung und Projekt“ (S. 15) entwickelt, verbunden mit einer Abkehr vom Ideal des islamischen Staates, einem anderen Verständnis von Säkularität und einem neuen Verhältnis zum Westen. Schiffauer spricht etwa auch von einem aktivistischen Postislamismus, der wie der reflexive Postislamismus Demokratie und Rechtsstaatlichkeit als Wertvorstellungen bejahe. „Er kämpft innerhalb dieser Gesellschaft für das Recht der Muslime, sich einzubringen“ (S. 358).

Apologetische und parteiische Perspektive

Mit „Nach dem Islamismus“ liegt eine beachtenswerte Studie zur Entwicklung innerhalb einer bedeutenden islamischen Organisation vor. Gleichwohl zieht sich durch die gesamte Arbeit doch eine apologetische und parteiische Perspektive, die bei dem Autor eine nötige kritische Distanz zu seinem Forschungsobjekt vermissen lässt. Zwar äußert er sich hier und da auch kritisch zur Vergangenheit der Organisation, hält aber die Hinwendung zu einem demokratischen „Postislamismus“ schon für abgeschlossen. Genau für diese Einschätzung hätte es aber einer differenzierteren und weiteren Erörterung bedurft. Mehrmals betont Schiffauer, die IGMG habe sich wie viele andere Protestbewegung in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland gemäßigt. Dabei kam es aber in ihnen zu grundlegenden Auseinandersetzungen und personellem Wechsel. Beides lässt sich in einer ähnlichen Intensität für die IGMG bislang aber noch nicht ausmachen. Die benannten Veränderungen können Ausdruck eines politischen Lernprozesses sein – aber auch einer neuen Strategie.

Armin Pfahl-Traughber

 

Werner Schiffauer, Nach dem Islamismus. Eine Ethnographie der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs, Frankfurt/M. 2010 (Suhrkamp-Verlag), 394 S., 15 €.


Das Buch ist auch im denkladen erhältlich.