Fremdkontrolle nur ein Mythos?

WEIMAR. (hpd) Im Zentrum des “westlichen” Menschenbildes stehe die Idee des selbstbestimmt entscheidenden und handelnden Individuums, heißt es von den Herausgebern des Buches “Fremdkontrolle. Ängste – Mythen – Praktiken”. Dennoch würde aber gerade in diesem Zivilisationskreis die Vorstellung einer Bewusstseinskontrolle von außen viele Menschen in den Bann ziehen. Das zeigten nicht nur Kunstwerke, sondern auch wissenschaftliche und philosophische Debatten zwischen Ängsten und Faszination. Herausgebildet habe sich mittlerweile eine schwer zu erhellende Zwischenwelt, in der sich reale wissenschaftliche Experimente mit “Verschwörungstheorien” und alt-neuen Mythen mischen würden.

Sich diesem Phänomen aus wissenschaftlicher Sicht und multidisziplinär zu nähern, es zu analysieren und ggf. auch Erklärungs- und Lösungsvorschläge anzubieten, ist das Anliegen der Autoren des von Michael Schetsche (Soziologe und Politologe) und Renate-Berenike Schmidt (Erziehungswissenschaftlerin) herausgegeben Sammelbandes.

Zielgruppen sind neben Kultur- und Sozialwissenschaftlern sowie Psychologen und Psychiatern in besonderem Maße Journalisten und -trotz des stolzen Preises- auch die politisch und philosophisch interessierte Bürgerschaft. In den einzelnen Beiträgen geht es um Fremdkontrolle im engeren Sinne, also um Bewusstseinskontrolle in Geschichte, Gegenwart und Zukunft sowie daraus resultierende wissenschaftliche und pseudowissenschaftliche Experimente, geht es um mediale Darstellungen, Beeinflussungen und deren Folgen und nicht zuletzt auch um anthropologische und ethische Grundfragen. Die insgesamt 15 Artikel wurden von den Herausgebern in fünf Abschnitte zusammengefasst.

Ein ausführliches Vorwort gibt “eine exemplarische Einführung”. Schetsche und Schmidt sprechen darin dezidiert auch die seit nunmehr fast 70 Jahre grassierende “Staatsparanoia der USA” an, also deren hochoffizielle Wahnvorstellungen von “kommunistischer Gehirnwäsche” und dem “westlichen Mythos”, dass “das Böse stets aus dem Osten komme”. Das alles sei übrigens gar nicht so weit entfernt von christlichen Vorstellungen und Praktiken (Exorzismus).

Sie schreiben: “Kollektive Ängste, aktuelle Mythen und kulturelle Praktiken stellen lediglich ein sehr abstraktes Spannungsfeld bereit, in dem sich die Idee der Fremdkontrolle in der Moderne entfaltet hat und bis heute das Denken und Handeln unserer Kultur bewegt.” (S. 19)

Zu den einzelnen Komplexen, deren jeweilige Artikel leider nicht alle ausführlich reflektiert werden können:


Blicke in die Geschichte

Im ersten Abschnitt “Historische Diskurse und Praktiken” wird einerseits nach den geschichtlichen Wurzeln des Fremdbestimmungsdiskurses gefragt und werden andererseits zentrale Debatten und Praktiken des 19. und 20. Jahrhunderts reflektiert.

Den Einstieg gibt der Historiker Johannes Dillinger mit “Wahrnehmung, Wille und Fremdkontrolle in der [christlichen; SRK] Hexenlehre” mit den Stichworten Hexerei und Dämonologie; der Teufel und der freie Wille sowie dem Teufelspakt als freiwilliger Vereinbarung.

Um die Deutungen des Phänomens der “Trance um 1900” geht es in dem Beitrag der Psychologin und Medizinethikerin Barbara Wolf-Braun “Die kulturelle Wahrnehmung der Hypnose als Beeinflussungstechnik”.

Der Soziologe Andreas Anton beleuchtet danach ein höchst kriminelles und vor allem antihumanes Kapitel US-amerikanischer und bundesdeutscher “Wissenschaftsgeschichte”, wenn er sehr detailliert, sofern es die weitgehend geschredderte Aktenlage zulässt, über die “Mind-Control-Experimente der Nachkriegszeit” schreibt. Insbesondere geht es da um die geheimen und sogar illegalen CIA-Experimente im Rahmen des sogenannten MKULTRA-Projektes. Leider übernimmt der Autor hier viele US-amerikanische Behauptungen, wenn er absolut unkritisch u.a. solches über die Gründe für das CIA-Projekt schreibt: Durch “das Bekanntwerden verschiedener Folter- und Gedankenkontrolltechniken, die mutmaßlich von militärischen und geheimdienstlichen Stellen der UdSSR, Chinas und Nordkoreas im Koreakrieg gegen amerikanische Kriegsgefangene eingesetzt wurden. (…) Denn ”den kommunistischen Gegnern schien es mithilfe spezieller Psychotechniken und dem Einsatz von Drogen gelungen zu sein, die Persönlichkeit bzw. das Bewußtsein der amerikanischen Soldaten zu beeinflussen." (S. 63)

Zum Glück relativiert Anton solche Behauptungen, wenn er auf tatsächlich belegte Praktiken der MKULTRA-Leute und auch auf das Schicksal von kritischen Mitwissern eingeht. Er verschweigt auch nicht die Rolle von deutschen KZ-Ärzten in US-Diensten. In diesem Zusammenhang resümiert er, dass die stets unbewiesenen Begründungen der USA für deren Experimente und Praktiken immer dieselben seien: “Der Feind tut es auch – oder er KÖNNTE es zumindest auch tun.” (S. 72)

Abschließend schreibt Anton: "Angesichts von [behaupteten; SRK] inneren und äußeren Feinden tragen Demokratien immer schon den Kern des Antidemokratischen in sich. Die Mind-Control-Experimente in den USA liefern hierfür ein erschreckendes Beispiel." (S. 73)

Das Thema MKULTRA, seine bis in die Gegenwart reichenden Nachwirkungen in der Bundesrepublik sowie der Umgang mit Mitwissern, Kritikern und Ermittlern wird übrigens auch in einem aktuellen Roman von V.S. Gerling “Das Programm” behandelt.

Mediale Spiele mit dem Publikum

Der zweite Abschnitt “Fiktionalisierungen” beleuchtet das mediale Spiel mit Ängsten und Allmachtsphantasien des Publikums.

Frei nach der BORG-Devise aus der Enterprise-Serie sowie dem Facebook-Irrglauben hat der Wissenssoziologe Martin Engelbrecht seinen Artikel über die Fremdkontrolle in der utopischen SF-Literatur so überschrieben: “Ich bin verbunden, also bin ich”. Trotz aller Befürchtungen und negativer Beispiele kommt er auf einen auch vorhandenen und positiv-verbindenden Gedanken vieler SF-Geschichten zu sprechen: “Sie sind Utopien der Solidarität.” (S. 89)

Fremdkontrolle und Ich-Verlust im Spielfilm der Weimarer Republik betrachtet der Film- und Literaturwissenschaftler Matthias Hurst in seinem Aufsatz “Im kinematographischen Kabinett des Dr. Caligari”. Er geht auf die Überschneidungen von technologischen, psychologischen und phantastischen Elementen in Filmen nach dem Caligari-Muster ein und resümiert mit Blick auf das Hier und Heute: “Gerade diese ineinander verschränkte Mehrdimensionalität und Multikausalität machen das Bedrückende und Bedrohliche der Fremdkontrolle als Phänomen der Moderne aus.” (S. 106)

Ergänzt werden Hursts Ausführungen durch den Beitrag “Fremdkontrolle im Comic” des Sozialwissenschaftlers und Comic-Zeichners Christian Vähling. Zur Welt der sogenannten Pulp-Comics schreibt er, dass sie gegenüber der realen Welt stark vereinfachend sei: “Sie besteht aus allgegenwärtigen Bedrohungen, Feinden sowie einer Bevölkerung, die vom Helden entweder verteidigt oder befreit werden muss.” (S. 114)

Naja, so ganz unrealistisch ist das nun doch wieder nicht, denn so sieht leider das Weltbild der sogenannten Eliten der US-Politik aus. Und solch ein Weltbild führt seit einigen Jahrzehnten immer wieder zu US- oder NATO-Kriegen “für die Durchsetzung der Menschenrechte” überall auf dem Erdball…

Psychiatrisches und Forensisches

Eine Einführung in das disziplinäre Zentrum des “Kampfes” um die freie Willensbestimmung des Menschen will der dritte Abschnitt “Psycho-Logik” geben.

“Being a Psycho-Machine” ist der Artikel des Psychiaters und Philosophen Tomas Fuchs überschrieben. Darin geht es um die Phänomenologie von “Beeinflussungsmaschinen”. Zusammenfassend schreibt er: “Wahnvorstellungen von technischen Apparaturen und Fernwirkungen, von denen sich die Betroffenen manipuliert und geschädigt fühlen, sind ein weit verbreitetes Phänomen psychotischer Erkrankungen.” (S. 127)

Dass dem tatsächlich so ist, das weist die forensische Psychiaterin Nahlah Saimeh anhand von vier Fallbeispielen in ihrem Beitrag “Beeinflussungserfahrungen als Thema in der forensischen Psychiatrie” nach. Dabei geht es um den sogenannten freien Willen und die Schuldfrage in Strafrechtsprozessen, also ob ein konkreter Täter schuldfähig ist oder nicht.

Ergänzt werden diese Ausführungen durch den Artikel “Individuelles Erleben von Beeinflussung und Fremdkontrolle”, ebenfalls mit Fallbeispielen, aus der Feder des Psychologischen Psychotherapeuten Thomas Bock und der Erzieherin und Tischlerin Gwen Schulz. Sie gehen dabei insbesondere der Frage nach, ob das psychotische Erleben von Fremdkontrolle reale biographische und gesellschaftliche Konflikte widerspiegeln würde.

Hervorzuheben ist ihre Feststellung: “Das Erleben von Beeinflussung und Fremdkontrolle kann nur durch erlebten Mangel von Selbstbestimmung und den daraus erwachsenden Wunsch nach Autonomie entstehen. Ein Mensch, der sich in seinem Empfinden frei und unzensiert entfalten kann, wird mit dem Begriff Fremdkontrolle aus eigener Erfahrung nichts anfangen können.” (S. 173)

Zwei Blicke in die Welt

Doch es geht nicht nur um “die westliche Zivilisation”, wenn man das Thema Fremdbestimmung universell untersuchen will. Dazu will der vierte Abschnitt “Kulturelle Gegenhorizonte” einen kleinen Beitrag leisten.

Hier gibt zum einen Ethnologe Werner Egli einen kleinen Einblick in das geistige und soziale Leben einer kleinen ostnepalischen Ethnie: “Fremdkontrolle und Selbstkontrolle durch Ahnengeister.” Entgegen landläufiger Vorstellungen hierzulande kommt der Wissenschaftler zu diesem verblüffenden Schluss, “dass schamanische Rituale meist nur vordergründig der Krankenheilung und letztlich der Lösung sozialer Konflikte dienen…” (…) Untersuchungen würden sogar nahe legen, “dass eine rituell herbeigeführte Fremdkontrolle durch übernatürliche Mächte erst die Selbstkontrolle ermöglicht, die zur individuellen Aushandlung sozialer Probleme notwendig ist.” (S. 193)

Einen besonders lesenswerten Aufsatz hat die Ethnologin Bettina E. Schmidt beigesteuert. In “Zombies und andere Vodou-Praktiken” – Untertitel “Zombifizierung als Horrortopos” räumt sie vor allem mit “westlichem” Unwissen, mit Vorurteilen und medialen Zerrbildern über diese haitianische Volksreligion auf. Sie stellt all dieses vom Kopf auf die Füße. Leider kann aus Platzgründen gerade dieser Artikel nicht in der notwendigen Ausführlichkeit reflektiert werden. Aber vielleicht reizt eben das ganz besonders zur Lektüre an…

Bettina E. Schmidt schließt mit der wichtigen Feststellung: “Die Zombifizierung und damit die Fremdkontrolle ist der ULTIMATIVE SCHRECKEN in Haiti, einem Land, das vor über 200 Jahren die koloniale Kontrolle besiegt hat, seither aber unter Diktatoren, Terror, Besetzung (…) leidet. (…) Haiti kämpft gerade darum, nicht ein Land der Zombies zu werden. Denn hier liegt der Kern dieser Angst vor Fremdkontrolle: die Angst vor Zombifizierung ist die Angst der Menschen, so wie ihre Vorfahren Freiheit und eigenen Willen zu verlieren, gefangen und versklavt zu werden…” (S. 207)

“Soziale” Netzwerke, Computerspiele & Co.

Spannend wird es im fünften Abschnitt, bewusst mit einem Fragezeichen versehen, “Im Bann der Technik?”, der an die Grenze zwischen realer Gegenwart und prognostizierter Zukunft führt.

Zum letzten Abschnitt haben die Herausgeber bereits in ihrem Vorwort sehr deutlich formuliert, dass sie sich fragen müssen, “was uns mehr beunruhigt bzw. gerade auch mehr beunruhigen sollte: Die sich ständig selbst überbietenden Alarmbotschaften selbsternannter Retter der Willensfreiheit oder die ganz offen formulierten Forschungs- und Entwicklungsziele renommierter Neurowissenschaftler.” (S. 25) Denn gerade in deren Wissenschaftsbereich gelte offenbar immer noch die Regel, das alles, was technisch möglich sei, auch gemacht werden sollte. Das verlange deshalb unbedingt nach notwendigen ethischen Grenzziehungen. Sie schließen mit der Frage: “Wie viel Willensfreiheit braucht der Mensch und wieviel Fremdkontrolle verträgt unser Menschenbild?” (S. 26) Eine Fragestellung, die gerade für Humanisten eine grundlegende ist! Dieser Gedanke sollte beim Lesen der vier Artikel dieses Abschnitts stets im Hinterkopf präsent sein.

Den Auftakt gibt der Erziehungswissenschaftler Ralf Vollbrecht mit dem Aufsatz “Mentale Beeinflussung durch Massenmedien und Computerspiele?” Seine Stichworte sind: Die Meinungsmacht der Massenmedien in historischer Perspektive; Wirkungsmacht der Medien; Medienmacht aus ideologiekritischer Sicht; Beeinflussung durch Werbung und Wirkungsaspekte durch Computerspielen.

Der Naturwissenschaftler und Psychologe Georg Felser geht dann dieser Frage nach “Wer kontrolliert unser Verbraucher-Verhalten?” und benennt hier zwei Formen der Verhaltenssteuerung von Konsumenten. Er bietet aber auch Antworten an, wie man sich gegen manipulative Strategien der Werbung wehren könne.

Erschaudern kann man, wenn man die Untersuchungen von Andreas Anton und dem Anthropologen Sascha Zorn liest. Sie schreiben über “Fremdkontrolle durch Computerchips” und real stattfindende Erkundungen zwischen technischen Möglichkeiten und menschlichen Ängsten. Dabei gehen sie aber auch kritisch auf verschwörungstheoretische Kontrolldiskurse bezüglich “Computerchips in Körper und Gehirn” ein. Zum Thema selbst formulieren sie sieben Thesen und schreiben abschließend, dass sie “ihren Beitrag in erster Linie auch als Plädoyer für eine offene, sachliche Debatte über die geschilderten technischen Möglichkeiten und deren Chancen, aber explizit auch über damit einhergehende Risiken und Bedenken in medizinisch-psychologischer, gesellschaftlicher, moralisch-ethischer und politischer Hinsicht sehen.” (S. 262)

Auf aktuelle Entwicklungen in den Neurowissenschaften geht daran anschließend der Psychologe Stephan Schleim im letzten Artikel, “Vom Hirnstimulator zur Gedankenkontrolle”, ein. Welche Vorwände führen Forscher für ihre Bestrebungen an? Was steckt hinter vorgeblich hehren Zielen? Wohin könnten Forschungsergebnisse führen? Wo liegen ethische Grenzen? Diese Fragen drängen sich gerade hier auf.

 


Michael Schetsche u. Renate-Berenike Schmidt (Hrsg.): Fremdkontrolle. Ängste – Mythen – Praktiken. 286 S. brosch. Springer VS. Wiesbaden 2015. 39,99 Euro. ISBN 978–3–658–02135–1