Die Ausstellung "Haut ab! Haltungen zur rituellen Beschneidung"

Traurige Allianzen

Verstümmelung als Perfektion des Körpers

Auch Dr. Thomas Lentes, Historiker und Theologe an der Universität Münster und Mitglied des dortigen “Exzellenzclusters Religion und Politik”, reiht sich nahtlos in den undifferenzierten Rechtfertigungskanon ein. In einem Interview mit dem Deutschlandfunk zur Berliner Ausstellung bezeichnet dieser Kritik an kulturellen und religiösen Markierungsriten als uralt und in erster Linie von Ressentiments und Überheblichkeit motiviert, welches es bereits bei den alten Griechen und Römern gegeben habe. Daraufhin spricht er ihr die Objektivität ab - was erstaunt, wo doch alle kulturellen Argumente für eine Beschneidung ebenso alt sind.

Erschreckend ist an diese Stelle die völlige Wahlfreiheit des Dr. Lentes - so erwähnt er in diesem Zusammenhang neben Bemalungen und Tätowierungen auch das Binden der Füße (der sogenannte Lotosfuß), wie es im Kaiserreich China praktiziert wurde. Bei dieser Praxis wurden kleinen Mädchen wiederholt die Fußknochen gebrochen und eng bandagiert, um das Wachstum zu hemmen und einen Klumpfuß zu formen. Diese - heutzutage nicht mehr praktizierte - kulturelle Körpermarkierung sieht er anscheinend als simplen kulturellen Unterschied an, ohne die Folgen für die Mädchen in die Überlegung mit einfließen zu lassen.

Ähnlich äußerte er sich bereits im Juli 2012 in der Frankfurter Rundschau: “Erst durch die kulturelle und religiöse Überformung – durch Bekleidung, Tätowierung, Mutilation [Verstümmelungen, Anm. d. Autoren] – wird seine Humanität und die Integration in die kulturelle und religiöse Gruppe vollzogen.”… “Wie beim Binden der Füße in asiatischen Kulturen, dem des Kopfes in manchen afrikanischen, der kulturellen Manipulation der Ohren und dem Stechen von Tätowierungen in vielen Kulturen wird auch bei der Beschneidung eines angestrebt: die kulturell-religiöse Perfektionierung des Körpers, und keineswegs dessen Verstümmelung!”

Die Verstümmelung muss also seiner Ansicht nach ausschließlich aus der Perspektive und den Absichten der Erwachsenen heraus beurteilt werden, nicht am Eingriff selbst und dem Leid der betroffenen Kinder. Die Ausnutzung des Machtgefälles zwischen Erwachsenen und Kindern wird hier als probates Mittel der Durchsetzung patriarchalischer Strukturen offensichtlich unhinterfragt hingenommen.

“Bei allem Respekt vor Glaube und Religion, die Ausstellung macht eines deutlich, Beschneidung dient lediglich der Unterwerfung. Schade, mehr Fragen als Antworten.” (Zitat aus dem Gästebuch der Ausstellung)

Nicht zu übersehen und äußerst bedauerlich ist auch der in den Aussagen der Veranstalter und an mehreren Stellen im Ausstellungskatalog deutlich werdende hilflos wirkende Versuch, der gesellschaftlichen Debatte in Deutschland um eine Legalisierung nicht-therapeutischer Vorhautamputationen im Jahre 2012 nachträglich einen zu großen Teilen antisemitisch motivierten Charakter zu geben. Vermutlich soll auf diese Weise die andauernde Aufklärungsarbeit vieler Kinder-, Frauen- und Menschenrechtler sowie aller pädiatrischer Fachgesellschaften diskreditiert werden. Angesichts der vom Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte genannten unverändert häufig anzutreffenden Komplikationen und der stetig wachsenden Zahl negativ betroffener Männer, die sich trotz gesetzlich festgelegter Empathieverweigerung trauen, über ihr Leid öffentlich zu berichten, lässt diese Strategie schon realitätsverweigernde Tendenzen erkennen.

Ebenso fehlt eine angemessene Erläuterung alternativer Rituale wie der sich in einigen jüdischen Gemeinden stetig größerer Beliebtheit erfreuenden Brit Shalom, die ohne chirurgischen Eingriff auskommen. Weiterhin wird verschwiegen, dass es im Islam überhaupt keine Verpflichtung im religiösen Sinne zur Vorhautamputation an Minderjährigen gibt, sondern dieses lediglich eine Empfehlung darstellt. Diese Information zumindest hätte man von einer Ausstellung erwarten dürfen, die sich einen religiösen Schwerpunkt auf die Fahnen schreibt. Stattdessen bemüht Ilkılıç den faktisch nicht haltbaren Mythos der Beschneidung als “elementare, unverzichtbare und unersetzliche Pflicht” im Islam. Zumindest in dieser Pauschalität Unwahres wird nicht wahrer, wenn man es mantraartig wiederholt.

Die zu dem Thema in der Zwischenzeit erschienenen kritischen wissenschaftlichen Publikationen bleiben unbehandelt. Eine kinderrechtliche Perspektive findet überhaupt keinen Platz in einer Sammlung über einen Übergriff, der Kindern zugemutet wird. Ihre Schmerzen und ihre Leiden haben in der Welt von Erwachsenen und deren Rechtfertigungskonstrukten keinen Platz.

Wegschauen und Schweigen als Unterrichtsinhalt?

Dass vom Museum auf diesem Grundkonzept aufbauende Schülerworkshops und Lehrerseminare angeboten werden ist bedenklich. Vor dem Hintergrund dessen, was das Museum den Besuchern anbietet, ist davon auszugehen, dass diese einseitig rituelle und ansonsten völlig unreflektierte Sichtweise ungefiltert in die Schulen getragen werden soll. Zudem ist angesichts der hohen medizinischen, psychologischen, rechtlichen und insbesondere individuell-sexuellen Komplexität der Thematik fraglich, ob eine “Für & Wider”-Abwägung im Schulalter überhaupt schon umfassend möglich ist.

Den Kindern wird dadurch verweigert, eine Sicht auf das Ritual zu entwickeln, welche ein Leiden an dessen Folgen nicht unterdrücken muss. Kritik an der Praxis und Empathie mit den Betroffenen wird frühzeitig mit Schuldgefühlen gegenüber den beschneidenden Communities belegt, fehlendes Mitgefühl, Wegschauen und Schweigen bei dieser Kinderrechtsverletzung nahezu anerzogen.

“Liebes Museum, leider wurde die Ausstellung nur sehr einseitig dargestellt. (…) Mir persönlich fehlt der Bezug zur sexuellen Selbstbestimmung und zur gelebten Sexualität. Welche Auswirkungen hat eine Beschneidung auf das sexuelle Empfinden des Mannes, sowie der Frau.” (Zitat aus dem Gästebuch der Ausstellung)

Die Ausstellung wolle “um Akzeptanz für das religiöse und kulturelle Ritual der Beschneidung werben”, so die Kuratorin. Ist es nicht etwas zu simpel gedacht zu glauben, dieses Ziel durch Ausschluss aller dies potentiell gefährdenden Perspektiven und der persönlichen Belange der negativ betroffenen Kinder, deren Körper und Rechte auf Selbstbestimmung verletzt werden, erreichen zu können?