Zum 200. Todestag des Marquis de Sade

"Pornographie" als Aufklärung

STEISSLINGEN. (hpd) Wir haben uns vorgestern an den 200. Todestag des Marquis de Sade erinnert; auch Google hat das getan. Etwas ungewöhnlich mag das Folgende erscheinen, doch ich möchte eine Lanze für de Sade als einen wichtigen Aufklärer brechen – und das passt denn auch hierher.

Ich weise dabei mit dem amerikanischen Ideengeschichtler Robert Darnton auf das aufklärerisch-emanzipatorische Potential von Texten hin, bei denen so genannte sittliche Grenzüberschreitungen oft in Gesellschafts- und Religionskritik eingebettet sind.

Heuchlerische Sublimierung darf ebenso wenig wie verklemmtes Verschweigen die endgültige Antwort auf die Frage nach der Sexualtheorie der Aufklärer sein. Donatien-Alphonse-François de Sade (1740–1814) war Autor einer Aufklärung, die er als prominentester Vertreter seiner Zeit bis in den sexuellen Bereich hinein wirksam gemacht sehen wollte. Er schrieb Werke, in denen er eine atheistische, materialistische, revolutionäre Aufklärungs-Philosophie mit “sadistischer” Pornographie mischte, und führte ein als skandalös empfundenes Leben, das sogar den Rahmen dessen sprengte, was seine Zeit bei adeligen Libertins hinzunehmen bereit war.

Porträt de Sades von Van Loo (≈1761) (gemeinfrei)
Porträt de Sades von Van Loo (≈1761) (gemeinfrei)

Nicht ohne prüden Grund wird er, der zweimal zum Tod verurteilt, einmal symbolisch, in effigie, verbrannt (eine Strohpuppe ersetzt den Abwesenden), sicherungsverwahrt und psychiatrisiert, 31 Jahre seines Lebens im Gefängnis und im “Irrenhaus” gehalten wird, selbst in Standardwerken zum Jahrhundert der Aufklärung übergangen. Schon sein Name gilt als Tabu, und die Fachsprache verwendet den Begriff Sadismus für eine abartige Seelenerkrankung.

Abartig? Orgien mit Prostituierten, Auspeitschungen, Analverkehr (worauf zu Sades Zeit die Todesstrafe stand), handfester Atheismus? Der dickliche Mann, Asthmatiker, augenkrank, hat rastlos einen ganzen “Kosmos der Überschreitungen und Exzesse” (Hermann Kauß) aufgetan und sich vorgenommen, in einem einzigen Roman nicht weniger als 600 - später in einem theoretischen Konstrukt als “Perversionen” bezeichnete - sexuelle Handlungen zu beschreiben. Ein Rundumschlag gegen alles, was Jahrhunderte vor und nach ihm als “ziemlich” betrachteten.

Sades Werke beeinflussten eine Reihe von wichtigen Bewegungen in Literatur und bildender Kunst und nahmen Sigmund Freuds Prinzip von Eros und Thanatos um mehr als ein Jahrhundert vorweg. Die für Sade wichtigsten philosophischen Quellen waren d‘Holbach, de La Mettrie, Montesquieu und Voltaire. Die beiden letzteren waren persönliche Bekannte seines Vaters.

Hatte Rousseau gefordert, der Natur zu folgen, weil sie gut sei, erblickte de Sade in ihr das beste Beispiel einer permanenten und ungebrochenen Destruktion. Ihre Gleichgültigkeit gegenüber dem Tod entsprach nach seiner Meinung ihrer Grausamkeit gegenüber dem Leben. Wer von der Aufklärung als einer auf die Natur gestützten Bewegung spricht, kann an de Sade nicht vorbei gehen. “Natur” ist nicht nur Sonnenschein, nicht nur Blumen, Blüten, Bienen. Natur bedeutet auch ein täglich durchgesetztes Recht des Stärkeren und einen millionenfachen Kampf aller gegen alle.

Viele bedeutende Autoren haben sich an einer Einschätzung de Sades versucht, darunter Honoré de Balzac, Arthur Rimbaud, Charles Baudelaire, Albert Camus, Simone de Beauvoir, Roland Barthes, Erich Fromm, Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Jacques Derrida und Michel Foucault. Allein diese Tatsache straft alle Lügen, die in diesem Aufklärer nicht mehr als einen seltsam verqueren Pornographen sehen können. Und Apollinaire, dessen Roman “Die 11000 Ruten” noch 1971 in Deutschland durch die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften indiziert wurde, hat de Sade 1909 den “freiesten Menschen” genannt, “der je gelebt hat”.

De Sade: “Ich habe mich zur rechten Zeit über die Chimären der Religion hinweggesetzt, vollkommen davon überzeugt, dass die Existenz eines Schöpfers eine empörende Absurdität ist, an die selbst Kinder nicht mehr glauben.”