Wir brauchen eine säkulare Ordnung!

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Jürgen Roth
Jürgen Roth

BERLIN. (hpd) Jürgen Roth ist Mitglied des Bundesweiten Arbeitskreises "Säkulare Grüne" und deren Sprecher in Berlin. Zudem ist er Mitglied der grünen Vorstandskommission "Weltanschauungen, Religionsgemeinschaften und Staat" und hat in dieser Funktion auf dem Religionspolitischen Kongress von Bündnis 90/Die Grünen am 17. Januar 2015 eine Rede gehalten, die der hpd hier ausführlich dokumentiert.

Religion gehört nun mal dazu

Die im Grundgesetz verankerte Glaubensfreiheit garantiert mit dem Recht auf Religionsausübung und Bekenntnisfreiheit auch den Zugang zur öffentlichen Sphäre. Glaubensfreiheit bedeutet eben nicht, vom Glauben anderer Menschen nichts mitzubekommen. Das wäre mit der Vielgestaltigkeit unserer Gesellschaft nicht vereinbar, ebenso wenig mit der national und völkerrechtlich geschützten Glaubensfreiheit. Das gleiche gilt auch für andere Grundrechte wie die Meinung- und Demonstrationsfreiheit andere, die wir auch ertragen müssen.

Aus säkularer Sicht sollten wir diese Rechtslage nicht beklagen. Was wir heute mit Frohlocken unliebsamen Gruppen als Grundrecht nehmen, wird uns morgen selbst fehlen!

Es wäre auch politisch verfehlt, Religion aus dem öffentlichen Leben verdrängen zu wollen. Der Islam wird nicht aufgeklärter, wenn er irgendwo in einer Halle im Industriegebiet stattfindet. Ein aufgeklärter europäischer Islam muss - im übertragenen Sinne und auch wörtlich - in der Mitte unserer Städte, im Zentrum unserer Gesellschaft seinen Platz bekommen.

Das altliberale Ideal eines Staates, der sich in allen Weltanschauungsfragen zurückhält, hilft bei der Gestaltung einer Gesellschaft der Vielfalt nicht weiter. Die entsteht nicht von selbst; der Staat hat hier eine aktive und gestaltende Rolle, so bei der Ausgestaltung eines - je nach Verfassungslage des Bundeslandes unterschiedlichen - Islamunterrichts und der Auswahl und Unterstützung geeigneter aufgeklärter Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer.

Dennoch ist die Glaubensfreiheit kein übergeordnetes Hegemonialgrundrecht mit einer höheren staatlichen Weihe als andere Grundrechte. Sie darf sogar beschnitten werden, wenn Grundrechte anderer berührt sind; jedes Grundrecht endet an der Menschenwürde! Diese "praktische Konkordanz" ist ausnahmsweise nicht durch Konkordat geregelt, sondern eine Aufgabe der Rechtsprechung, insbesondere des Bundesverfassungsgerichts.

Glauben ist nicht wertvoller als es sein zu lassen

Leider sind jedoch die Väter und Mütter des Grundgesetzes den Einflüsterungen erlegen, 1949 die Regelungen des Weimarer Staatskirchenrechts zusätzlich noch ins Grundgesetz aufzunehmen. Diese "Inkorporation" hat – mit – dazu geführt, der Glaubensfreiheit eine über die Systematik der Grundrechte hinausgehende Sonderrolle zukommen zu lassen, die erst nach und nach in der gesellschaftlichen Debatte als Problem erkannt wird. Das von loyalen Kirchenvertretern seit Jahrzehnten komplett dominierte Staatskirchenrecht hat die Überblähung der Glaubensfreiheit und der Kirchenrechte mit auf die Spitze getrieben.

Nüchtern betrachtet reicht zum Schutz der Menschenwürde das Grundrecht auf Glaubensfreiheit, d.h. das Recht, ohne staatliche Beschränkung dem eigenen Glauben nachzugehen, völlig aus.

Es ist das verfassungsmäßige Recht jedes Menschen, sich der Einbindung in die Gesellschaft zu entziehen und sich ausschließlich im privaten Raum oder in seiner Religionsgemeinschaft der Ausübung seines Glaubens zu widmen. Warum ist das aber rechtlich schutzwürdiger, als soziale Arbeit, die Arbeit in einer Partei oder das Engagement für den Sport? Für eine Übergrundrecht Glaubensfreiheit ist kein Platz.

Symbolisch deutlich wird die - auch mit Multi-Kulti-Argumenten - zäh verteidigte künstliche Sonderstellung der Glaubensfreiheit am Kopftuch- und Kruzifixstreit. Das gerichtliche Gewürge der Einordnung religiöser Bekleidung im Unterricht nimmt kein Ende. Die Rechtswidrigkeit der Verwendung politischer Symbole im Schulunterricht durch das Lehrpersonal ist dem gegenüber allgemein anerkannt.

Niemand käme heute ernsthaft auf die Idee, die Verwendung von Parteisymbolen durch Amtsträger innerhalb von Amtsräumen, Gerichten oder Schulen als Ausdruck der verfassungsmäßig garantierten Meinungsfreiheit hinzunehmen. Wer jedoch eine Schule ohne Kreuz für seine Kinder haben will, muss erst ein umständliches Verfahren einleiten, damit das christliche Symbol - wenigstens für die Dauer des Unterrichts - abgehängt wird. Warum dieses unterschiedliche Maß?

Die privilegierte Wertschätzung von Gläubigen gegenüber anderen Grundrechtsträgern führt zu merkwürdigen dogmatischen Verrenkungen wie der Begrifflichkeit "positive" und "negative" Glaubensfreiheit. Als "Normalfall" wird hier das Vorhandensein einer religiösen (ersatzweise weltanschaulichen) Überzeugung unterstellt - von der man aber ohne Sanktionen abweichen darf.

Diese Lehre stammt aber noch aus der Zeit einer Identität von Bürger und Christ mit 95 Prozent Zugehörigkeit zu den Großkirchen. Heute sind wir aber längst auf dem Weg zu den 50 Prozent Mitgliedschaft. In den Stadtstaaten und im Osten liegen die Zahlen noch deutlich niedriger. Die Zahl der Konfessionsfreien ist inzwischen höher als die der Evangelischen- oder der Katholischen Kirche. Sie legen vielfach bewusst keinerlei Wert auf eine Religion oder Weltanschauung. Der Staat und seine Verfassungsordnung sollten diese Haltung genau so respektieren wie die Bekundung von Glaubensüberzeugungen oder Weltanschauungen.

Die Kritik an der überkommenen Lehre von der positiven und negativen Glaubensfreiheit ist eine Generalkritik am Festhalten an den Bestimmungen der Weimarer Kirchenverfassung. Solange wir aber noch unter der Herrschaft dieses alten Staatskirchenrechts leben müssen, sind Säkulare solange notgedrungen darauf angewiesen, sich auf die "negative" Glaubensfreiheit zu berufen.

Keine Sonderrechte für Religionsgemeinschaften!

Grundlage für die Regelung der Beziehungen der Religionen- und Weltanschauungen zum Staat als Hüter der kulturellen Vielfalt im Land kann nur die Glaubensfreiheit selbst sein.

Das Weimarer Staatskirchenrecht ist zwar bis heute gültig – aber es muss sich der kritischen gesellschaftlichen Diskussion stellen. Zukunftsfähig ist dieser Mottenfiffi von 1919 jedenfalls nicht. Damit ist es an der Zeit, die Grenzen dessen neu zu bestimmten, was Kirchen bzw. Religionsgesellschaften für sich als Sonderrechte in Anspruch nehmen dürfen. Aus dieser gesellschaftlichen Debatte erwachsen die nötigen Reformen; wobei die Handlungsspielräume für Reformen auch unterhalb der Änderung des Grundgesetzes keinesfalls unterschützt werden sollten.

Der institutionell begründete Dominanzanspruch der beiden christlichen Großkirchen hat seinen Legitimitätsanspruch verloren. Nicht akzeptabel ist daher, wenn Religionsgemeinschaften im Gegensatz zu anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren auf Sonderrechten und Privilegien beharren, die gesellschaftlich nicht mehr verstanden werden. Das gilt beispielsweise für den gesamten Bereich der Kirchenfinanzierung durch den Staat. Hier seien nur als Stichworte Kirchensteuer, historische Staatsleistungen und Gebührenbefreiungen genannt.

Ein besonders krasses Beispiel für die nach wie vor bestehende Entrücktheit der Kirchen von der Zivilgesellschaft ist der Straftatbestand der "Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen" in § 166 Strafgesetzbuch. Hier sind wir bereits mitten in der Karikaturendebatte! Diese geltende Strafbestimmung - Nachfolgeregelung der Gotteslästerung - erhebt die Schutzwürdigkeit von Gläubigen und ihrer Kirchen über den Schutz anderer Grundrechtsträger.

Dass eine derart verquaste Bestimmung nach dem Anschlag von Paris als Zeichen für die Meinungsfreiheit sofort abgeschafft werden sollte, ist auch ein Gebot der Vernunft und ein Signal, sich weder von islamistischen Terroristen noch von irgendeinem aufgehetzten Mob einschüchtern zu lassen.

Wie kann es weitergehen?

Zukunft gestalten heißt, ideologischen Ballast abwerfen und die gesellschaftliche Vielfalt aktiv gestalten. Dem Staat kommt dabei eine aktive Rolle zu.

Glaubensfreiheit erwächst nicht daraus, die Hegemonie bestehender religiöser Institutionen zu zementieren. Wir müssen endlich die Religionsgemeinschaften als das zu begreifen was sie sind: wichtige Akteure der Zivilgesellschaft, aber kein Staat im Staate.

Das dahinsiechende Staatskirchentum wird auf die Dauer nicht mit ein paar Reförmchen am Leben bleiben. Das gilt auch für Versuche, "den Islam" als eine Art dritte Konfession mit ins morsche Boot zu ziehen. Die islamischen Gemeinschaft ist nun einmal anders organisiert als die christlichen Kirchen. Der Staat würde ihre Religionsfreiheit verletzen, würde er hier fremde Strukturen aufzwingen wollen. Eine in die Zukunft weisende Gestaltung gesellschaftlicher Vielfalt sieht anders aus.

Wir brauchen für die Zukunft eine säkulare Ordnung und eine klare Trennung von Staat und Kirchen. Nur der umsichtig agierende säkulare Staat wird in der Lage sein, die wachsende Vielgestaltigkeit unserer Gesellschaft in ein nachsichtiges Miteinander zu verwandeln und vor Angriffen und Gefährdungen zu schützen.

 


Die hier veröffentlichten Anmerkungen sind die Langfassung eines Beitrags, den der Autor auf dem "Religionspolitischen Kongress" von Bündnis 90/Die Grünen am 17. Januar 2015 in Düsseldorf gehalten hat.