Gesellschaftskolumne

Der Phantomschmerz der Deutschen

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PARIS. (hpd) Was verbindet Fukushima, Charlie Hebdo, und den "heiligen" Bund der Ehe? Die Aufmerksamkeitsökonomie der Deutschen! In der Gesellschaftskolumne blickt Carsten Pilger vom Tellerrand hinein in die Mitte und sieht die Deutschen – zwischen Empathie und Phantomschmerz.

Das Klischeebild, das im europäischen Ausland vom Deutschen gezeichnet wird, entspricht oft nur bedingt der Wahrheit. Er soll sehr tüchtig sein, sehr korrekt, oft verschlossen, manchmal ein wenig eitel oder sogar leicht prahlerisch. Und eine gewisse Gefühlskälte soll er auch in sich tragen. Doch weit gefehlt: Der Deutsche ist auch zur Empathie fähig. Oder besser gesagt: Er möchte immer betroffen sein.

2011 löste die Nuklearkatastrophe in Japan Betroffenheit und Mitgefühl aus – aber eben nicht nur mit den Betroffenen vor Ort. Im medialen Diskurs stand schnell die Sicherheit eigener Atomkraftwerke ganz oben. Ursprünglich gab es hier bereits 2002 den beschlossenen, schrittweisen Ausstieg, der mit einer Laufzeitverlängerung der schwarz-gelben Regierung 2010 weit nach hinten verschoben wurde. Mit den Schreckensbildern aus Fukushima änderte sich nun für große Teile der Bevölkerung die gefühlte Bedrohung – und der Ausstieg aus dem Ausstieg wurde vom Bundestag beschlossen.

Im Januar 2015 erschütterten die Anschläge auf das religionskritische Satiremagazin Charlie Hebdo und einen jüdischen Supermarkt in Paris ganz Frankreich – und auch die deutschen Nachbarn. Im Land des Anschlags diskutierten Medien und Politik die Notwendigkeit schärferer Sicherheitsmaßnahmen, sowie einer Schulreform, welche zu einer besseren Vermittlung der republikanischen Werte, also auch der Trennung von Kirche und Staat, beitragen soll. Das Nachbarland wurde hingegen kaum müde, die „Grenzen der Satire“ und die Frage „Darf man sich über den Islam lustig machen?“ zu diskutieren. In Interviews mussten deutsche Satiriker die Frage beantworten, ob sie Angst vor ähnlichen Anschlägen auf ihre Redaktion haben. Oft Tim Wolff, Chefredakteur der Titanic, die in ihrer Publikationsgeschichte bereits mehrfach aufgrund religionskritischer Titelbilder verklagt wurde. Oft von der römisch-katholischen Kirche.

Ende Mai 2015 hat die Republik Irland in einem Referendum mit einer Mehrheit von 62 Prozent eine Verfassungsänderung angenommen, die gleichgeschlechtlichen Paaren die Ehe gestattet. Unter dem Hashtag „EheFuerAlle“ machten sich Twitternutzer für die Öffnung der Ehe stark – bislang lehnt das die Regierung ab. Kanzlerin Angela Merkel plagt in dieser Frage schon seit 2013 ein ominöses Bauchgefühl, welches wohl eher Koalitionspartner SPD verspüren muss, machten sich die Sozialdemokraten doch in der Vergangenheit meist für eine Öffnung der Ehe stark. Ihre französischen Kollegen, unter Präsident François Hollande in der Regierungsverantwortung, haben den Schritt als eines der ersten Großprojekte nach der Wahl 2012 vollzogen – unter heftigen Diskussionen und Gegendemonstrationen.

Dabei blieben die banalen Erkenntnisse oder Schlussfolgerungen aller drei Ereignisse für Deutschland oft ignoriert:

Die potenzielle Gefährdung, die von Atomkraftwerken und Castortransporten für Deutschland ausgeht, war vor Fukushima genauso groß wie nach Fukushima.

Die Freiheit der Satire in Deutschland war vor den Anschlägen auf die Redaktion von Charlie Hebdo so wichtig wie nach den Anschlägen.

Und zuletzt ändert auch ein Votum in Irland nicht die Gründe dafür, warum die Ehe in Deutschland nicht nur heterosexuellen Paaren erlaubt sein sollte.