Rezension

Heiner Geißler und Martin Luther

STUTTGART. (hpd) Über Luther, das schreibt Heiner Geißler zu Beginn, gibt es "Tausende dicke Bücher mit theologischen Inhalten, die kein normaler Mensch begreifen kann". Wohl wahr, und von dieser Sorte wollte er offenbar keinesfalls ein weiteres verfassen.

Lieber hält es der einstige CDU-Generalsekretär mit dem Konkreten und kommt dem Leser zur Einstimmung mit seiner Oma Theresia, die den Knaben Heiner in den 1930er Jahren in Oberndorf am Neckar dem katholischen Stadtpfarrer regelmäßig Geld überbringen ließ - in der vom Empfänger genährten Überzeugung, so lasse sich post mortem die Verweildauer im Fegefeuer verkürzen. Ablasshandel in der Moderne? Aber ja, das Erbe des Reformators ist eben teilweise da und dort ausgeschlagen worden.

Das meiste aber nicht. Und unsere Theologen, unsere Religionslehrer, unsere Medienschaffenden und das gewöhnliche breite Publikum, das Luther bei einer Umfrage vor einigen Jahren als zweitgrößten Deutschen nach Adenauer benannte - sie alle sorgen dafür, dass Luther wie eh und je ein prima Image genießt. Vor bald einem halben Jahrtausend hat er ja schließlich seine berühmten 95 Thesen ans Portal der Wittenberger Schlosskirche genagelt (wahrscheinlich falsch), er hat todesmutig Papst und Kaiser die Stirn geboten, mit dem Tintenfass nach dem Teufel geworfen (höchst unwahrscheinlich), den Deutschen eine Bibelübersetzung und populäre Kirchenlieder geschenkt und so aufmunternde Sprüche wie den vom Apfelbaum hinterlassen, den er noch am Vorabend des Weltuntergangs pflanzen werde (auch falsch).

Margot Käßmann und unzählige andere sehen im Vater des Protestantismus einen Pionier von Gedankenfreiheit und Aufklärung, kurzum: der Neuzeit. Dergleichen passt ins Bild. Was haben Luther und die Bibel gemeinsam? Die meisten Leute haben von beiden nahezu keine Ahnung, aber eine gute Meinung. Dazu passt auch, dass die ganz schlimmen Dinge, die Luther über die Juden schrieb und gegen die Bauern, üblicherweise wenn überhaupt nur kurz erwähnt werden. Und dann beiseite geschoben, um die üblichen Lobgesänge anstimmen zu können, die im Jubiläumsjahr 2017 noch einmal mächtig anschwellen werden.

Bei denen macht Geißler aber nicht mit, und das zeichnet sein Buch aus. Er, der Nichttheologe, der nach dem Abitur ein zweijähriges Noviziat bei den Jesuiten absolvierte und mit 23 den Orden verließ, weil er nicht keusch leben konnte und wollte, beschämt die Mainstream-Theologie und kommt gleich zu Beginn mit Verve auf das zu sprechen, was die so gern im Dunkeln lässt und was ihm aber offenbar schwer zu schaffen macht: Luthers abgründiges Bild von Gott und Mensch. Der eine ein Willkürwesen, das mit seinen angeblichen Geschöpfen nach Lust und Laune verfährt, mit dem die aber nicht rechten dürfen, wie Luther aus dem unsäglichen Paulusbrief an die römische Christengemeinde gelernt hat. Und der andere eine nichtswürdige Kreatur, die ihr Erdendasein als fortwährende Buße verstehen soll und ganz und gar auf göttliche Gnade angewiesen ist. Dass dies der deprimierende Hintergrund der Lutherschen Lehre ist, wonach es nicht auf Werke ankommt, sondern auf den Glauben, und auch der nur unverdientes Geschenk Gottes ist, das er dem einen gewährt und dem nächsten verwehrt -, das ist außerhalb von Fachkreisen so gut wie unbekannt. Und wäre, wenn es sich herumspräche, ein Anlass zu kollektiver Meuterei der Christenheit.

Die nimmt Geißler mit seinem Frontalangriff auf Luthers "Sündentheologie" schon mal vorweg. So selbstbewusst wie naiv schreibt er: "Das Reformationsjahr 2017 läuft Gefahr zu scheitern, wenn die beiden Kirchen nicht die Behauptung der Rechtfertigungslehre aus der Welt schaffen, das jeder Mensch von Sokrates über Mozart bis Albert Schweitzer ein Haufen Sündendreck (ein Ausdruck Luthers, P.H.) sei, der ihm durch den Geschlechtsverkehr seiner Eltern vererbt worden ist, und er ausschließlich und allein durch die Gnade gerettet werden könne."

Gleich danach nimmt sich Geißler im nämlichen Klartext Luthers Theodizee vor. "Eine völlig unbrauchbare Antwort" ist für ihn dessen Überzeugung, Leid sei Strafe für begangene Missetaten und im Übrigen Sühne für die Erbsünde. Geißler hält erbittert dagegen: "Luther war um kein Haar besser", schreibt er, nachdem er die haarsträubenden Reaktionen amerikanischer Fundamentalisten auf Katastrophen wie Tsunami, Fukushima oder den Hurrikan "Kathrina" in Erinnerung gerufen hat. In so etwas sieht Geißler eine gotteslästerliche Vorstellung.

"Was müsste Luther heute sagen?" ist der Titel des erfrischenden und informativen Buchs. Ein misslungener, vermutlich verlegerischem Kalkül entsprungener Kunstgriff. Denn überwiegend ist es eine kritische Auseinandersetzung mit dem historischen Reformator, nur garniert mit Einschüben, in denen der gelernte Politiker Geißler dem toten Gottesmann Einsichten und Appelle auf vielen, auch kirchenpolitischen Feldern der Gegenwart abverlangt.

Unser Autor, mittlerweile übrigens 85 Jahre alt und glücklicherweise noch kein bisschen leise, hätte aber solch seltsamen Umwege gar nicht nötig: Was Geißler für richtig hält, könnte er ja auch unzähligen anderen Größen der Vergangenheit in den Mund legen. Zumal gerade Luther, der rebellische Reaktionär, der überall den Satan am Werke sah und von ihm beherrschte Menschen, etliche Ansichten des progressiven, aber immer auf Verständigung zielenden Humanisten Geißler schwerlich teilen würde.

Seltsam auch dies: Ob Geißler, dem Willy Brandt vor Jahrzehnten mit der Klassifizierung "schlimmster Hetzer seit Goebbels" Unrecht tat, bei allen seinen Einwänden überhaupt noch im Lager der Gläubigen steht, verschweigt das Buch. Formulierungen wie "Gäbe es Gott …" wecken Zweifel, mehr jedoch nicht. Hier, bei der Gretchenfrage, sieht es so aus, als verließe den Mutigen der Mut.


Heiner Geißler: "Was müsste Luther heute sagen?" Ullstein, 280 Seiten, 20,00 Euro, ISBN–13 9783550080456