Neue Hitler-Biographie

Der Diktator als zentraler Machtfaktor

BONN. (hpd) Der Historiker Peter Longerich legt mit “Hitler. Biographie” eine neue voluminöse Darstellung zu dem Diktator vor, wobei er dessen Bedeutung als Zentrum der Geschichte des Nationalsozialismus betont. Es handelt sich um eine imposante Forschungsleistung, wobei die Deutung in der Abgrenzung zu manchen anderen Ansätzen lediglich in Nuancierung besteht, aber in besonderer Schärfe betont wird.

Über keine andere historische Figur dürfte es so viele Bücher geben wie über Adolf Hitler. Dazu gehören nicht nur Biographien unterschiedlichsten Umfangs, sondern auch Monographien zu Detailfragen wie etwa seinem Gesundheitszustand. Der britische Historiker Ian Kershaw legte 1998 und 2000 eine detailreiche zweibändige Biographie des Diktators von über 2.000 Seiten vor. Wenn daher noch neue Lebensbeschreibungen erscheinen, stehen sie vor einem gewissen Rechtfertigungsdruck: Was können sie noch an neuen Erkenntnissen bringen? Wenn es nicht einzelne Fakten sind, dann muss es die Interpretation sein. So ist es auch bei Peter Longerichs über 1.000 Seiten starkem Buch “Hitler. Biographie”.

Der als Professor für moderne Geschichte am Royal Holloway College der Universität London lehrende Historiker bemerkt denn auch bereits in der Einleitung als Kritik an anderen Interpretationen: “Hitler war in wesentlich größerem Umfang in den verschiedensten Politikbereichen aktiv tätig, als dies bisher vielfach angenommen wurde” (S. 10).

Seine Lebensbeschreibung des Diktators ist historisch-chronologisch aufgebaut, wobei die Entwicklung Hitlers von einem “Niemand” (S. 15) über die Hinwendung zur Politik mit der Machterlangung als erstem Höhepunkt bis zum Ende im “Führerbunker” mit der Verantwortung für Millionen von Toten nachgezeichnet wird. Dabei schiebt Longerich immer wieder Einschätzungen in die Schilderungen, um seine Hauptthese zu belegen. Sie spitzt er gegen Ende noch einmal in folgender Formulierung zu: “Im Mittelpunkt des Dritten Reiches stand ein entschlossener Diktator, der diesen Prozess auf allen Ebenen formte, sämtliche Energien auf seine Person ausrichtete und sich eine Machtfülle erarbeitete, die ihm einen beispiellosen Handlungsraum eröffnete” (S. 997).

Mit dieser Deutung stellt sich Longerich gegen zwei konkurrierende Sichtweisen, wobei die gemeinten Historiker im Haupttext jeweils nur einmal namentlich genannt werden. Hans Mommsen hatte angesichts des Ämter- und Entscheidungschaoses in Hitler einen “schwachen Diktator” gesehen.

Während eine solche Auffassung in der Tat nicht mehr haltbar ist, steht es um die von Kershaw vertretene Deutung von Hitlers “charismatischer Herrschaft” anders. Dagegen formuliert Longerich: “De facto beruhte Hitlers Position … nicht auf einem vermeintlichen Charisma, so sehr das Regime dies auch propagierte, sondern sie fußte auf den Machtmitteln der Diktatur: auf der Beherrschung der Öffentlichkeit, die einer kollektiven Meinungsbildung außerhalb des vom Regime gesetzten Rahmens keinen Raum ließ, auf einem gut organisierten, eine Aura des Schreckens verbreitenden Repressionsapparat sowie auf der kleinräumigen Kontrolle der ‘Volksgenossen’ durch den weit verzweigten Apparat der NSDAP und ihrer Unterorganisationen” (S. 1008f.). Indessen stellt sich hier die Frage, ob die eine Deutung die andere zwingend ausschließen muss. Positiv formuliert darf man sagen, dass Longerich eine Nuancierung vornimmt. Kritischer gewendet könnte die Abgrenzung von Kershaw auf den Anspruch auf eine eigene Position zurück geführt werden.

Unabhängig davon, wie dieser Gesichtspunkt eingeschätzt wird, verdient die Arbeitsleistung bei der Erstellung der Biographie höchste Anerkennung. Darüber hinaus ist Longerich eine nüchtern und sachliche Darstellung geglückt, was bei Abhandlungen über einen Menschheitsverbrecher nicht immer leicht fällt. In der Danksagung erwähnt der Biograph Gespräche mit Psychotherapeuten und Psychoanalytikern. Kurioserweise sind deren Ergebnisse nicht näher in die Darstellung eingeflossen, sieht man einmal von kurzen Anmerkungen zu Persönlichkeitsmerkmalen (vgl. S. 998) ab. Überhaupt ist die Biographie mehr eine Beschreibung eines Politikers und weniger die Erörterung zu einer Person. Mitunter schildert Longerich ausführlich besondere Entwicklungsphasen der deutschen Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dabei gerät ihm die Persönlichkeit Hitlers aber gelegentlich aus dem Blick. Möglicherweise wäre eine kürzere Darstellung mit der Konzentration auf den handelnden Politiker hier naheliegender gewesen.

Peter Longerich, Hitler. Biographie, München 2015 (Siedler-Verlag), 1296 S., ISBN: 978–3–8275–0060–1, 39,99 Euro