Rezension

Den Glauben an die Menschheit wach halten

"Wir erzählen manchmal mit gutem Ausgang, manchmal mit tragischem. Und so ergibt sich, ganz nebenbei, auch ein Porträt des 20. Jahrhunderts". "Sternstunden der Menschheit" nannte Stefan Zweig seine Sammlung historischer Miniaturen. Ein knappes Jahrhundert später publiziert die Wochenzeitung Die Zeit in Kolumnen neue Sternstunden, aus denen das vorliegende Buch hervorgeht.

Fünfzehn Essays, große und kleine, dramatische und unspektakuläre, berichten von besonderen Momenten im Leben von Frauen und Männern, die aus eigener Initiative oder durch Zufall Ideenträger beziehungsweise handelnde Personen weltgeschichtlich bedeutender Ereignisse wurden.

"Das Nichtstun kann genauso bedeutend sein wie das Tun. So ist das in existenziellen Zeiten. Was auch immer man tut – es zählt. Davon erzählen wir auf den folgenden Seiten."

Bezugnehmend auf Putins Krieg gegen die Ukraine, beginnend mit der provokanten Frage beziehungsweise Feststellung "Warum auch ein Krieg eine Sternstunde sein kann", vermitteln die Herausgeberin und 14 weitere Autorinnen und Autoren historische Momentaufnahmen, die unser Menschsein in positivem Sinne repräsentieren. Dazu ein paar Beispiele:

Cover

Am 16. März 1968 riskiert der amerikanische Hubschrauberpilot Hugh Thompson sein Leben und seine Karriere, als er im Massaker von My Lai in Vietnam Menschenleben rettet.

Am 28. April 1947 verabschieden hunderte Zuschauer an der Kaimauer der peruanischen Küstenstadt Callao den Norweger Thor Heyerdahl, der sich mit Begleitern aufmacht, auf seinem Balsaholz-Floß KonTiki den Pazifik zu durchqueren. Nach 101 Tagen werden sie am Raroia-Atoll an Land gespült und Heyerdahl kann damit seine These, indigene Völker seien von Südamerika aus auf die Südseeinseln gelangt, beweisen.

Wie kam das World Wide Web in die Welt? Sieben kluge und ein wenig seltsame Männer wollten vor über 30 Jahren ein Telefonbuch erfinden und veränderten damit die Welt. Die Geschichte davon ist spannend und unterhaltsam.

Im Herbst 1945 wird in Nürnberg etwas gänzlich Neues versucht: die Nazi-Verbrecher zur Rechenschaft zu ziehen. Der Bericht über den Prozess und die Angeklagten, frei jeglicher Reue, lässt in Abgründe blicken und weckt gleichzeitig Hoffnungen auf eine gerechtere Welt; am 1. Oktober 1946 werden elf Todesurteile verkündet.

1962 erscheint Rachel Carsons Buch "Silent Spring", das eine weltweite Umweltbewegung begründet. Ungeachtet persönlicher Probleme und Krisen schafft es die Autorin, Bewusstsein für die Netzwerke sowie die Verletzlichkeit der Natur zu wecken und damit auch nach und nach neue Gesetze und ökologische Verhaltensweisen zu etablieren.

Am 10. Dezember 1948 erfolgt die Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte als vielleicht größte Errungenschaft des 20. Jahrhunderts. Die Beschreibung der dabei zu überwindenden Schwierigkeiten, Hürden und Widerstände sowie die Vorgeschichte dieser internationalen Friedensordnung gleichen einem Kriminalroman, in dem die Präsidentenwitwe Eleanor Roosevelt eine überaus wichtige Rolle spielt.

Wie ein Thriller liest sich auch der letzte Tag des sowjetischen Imperiums. Am 25. Dezember 1999 wickelt Boris Jelzin eines der mächtigsten Regime der Weltgeschichte geräuschlos ab – und demütigt dabei seinen Vorgänger Michail Gorbatschow.

Die Geschichte der Forscherin Rosalind Franklin, die sehr Wesentliches zu der wissenschaftlichen Entdeckung des 20. Jahrhunderts – der Entschlüsselung der DNA – beigetragen hatte, ist exemplarisch für Konkurrenzdenken im Wissenschaftsbetrieb. Als Watson, Crick und Wilkins 1962 den Nobelpreis entgegennehmen, wird ihr Name – sie war fünf Jahre zuvor verstorben – nicht erwähnt.

Am 23. März 1933 greift Adolf Hitler nach unbegrenzter Macht. Nur eine Partei im Parlament stemmt sich gegen ein Gesetz, das dem Reichskanzler unbeschränkte Verfügungsgewalt und der Regierung das Recht einräumt, selbst Gesetze zu erlassen; auch wenn sie der Verfassung widersprechen. Der Bericht über die damit verbundenen Vorgänge kann als Lehrbeispiel dafür dienen, wie Demokratie ausgehöhlt und letztendlich durch parlamentarischen Suizid beseitigt werden kann. Einzig die sich in Minderheit befindenden Sozialdemokraten votieren gegen das Ermächtigungsgesetz; mit den historisch gewordenen Worten ihres Vorsitzenden Otto Wels: "Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht."

"Das Nichtstun kann genauso bedeutend sein wie das Tun" – wenn Max Brod das Testament seines Freundes Franz Kafka erfüllt hätte, wäre die Literaturgeschichte anders verlaufen, ärmer geblieben. Als Franz Kafka am 3. Juni 1924 vierzigjährig stirbt, steht sein Testamentsvollstrecker und Freund vor der testamentarisch verfügten Forderung, tausende Seiten handschriftlicher Unikate "restlos und ausnahmslos zu verbrennen und dies möglichst bald". Mit der Nichtbefolgung des letzten Willens seines besten Freundes erwies Max Brod der Welt einen großen Dienst.

Afrikas kurze Hoffnung: "Am 30. Juni 1960 erlangt der Kongo die Unabhängigkeit. Patrice Lumumba, erster Premierminister des neuen Staates, wird mit einer zwölfminütigen Rede zum politischen Star – und zur Gefahr für Länder des Westens. Sieben Monate später ist er tot". Die Geschichte vom Aufbruch und Niedergang eines großen Staates in einer wichtigen Weltregion ist die Erzählung eines blutigen Dramas ohne Happy End.

In "Und plötzlich ist die Welt eine andere" vereint Die Zeit – spannend, kenntnisreich, unterhaltsam – außergewöhnliche Momente des Zeitgeschehens in einem Buch. In stilistisch großer Bandbreite, ergänzt mit Fotos, erzählt es von großen und kleinen Begebenheiten – öffentlichen und intimen –, die als Sternstunden der Menschheit bezeichnet werden können. Dem Text des Buchcovers ist aus Sicht des Rezensenten nur eine Lese-Empfehlung hinzuzufügen:

"Klimakrise, Pandemie, Krieg – düster klingt die Melodie unserer Zeit. Doch es gab und gibt sie, die Sternstunden, die den Glauben an die Menschheit wach halten, so selbstzerstörerisch, fehlerbehaftet und unzulänglich sie auch sein mag".

Tanja Stelzer (Hrsg.), Und plötzlich ist die Welt eine andere – Sternstunden der Menschheit, C. H. Beck Verlag, München 2023, 240 Seiten, 18 Euro, ISBN 978-3-406-80736-7

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