Handbuch "Humanismus:Grundbegriffe" vorgestellt

Was ist Humanismus?

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Marie Schubenz
Marie Schubenz

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Die Herausgeber: Horst Groschopp, Hubert Cancik, Frieder Otto Wolf
Die Herausgeber

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Dr. Hubert Cancik, Mitglied im Kuratorium des Humanistischen Verbandes Berlin-Brandenburg, emeritierter Professor für klassische Philologie und Geschichte der antiken Religionen
Hubert Cancik

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Dr. Horst Groschopp
Dr. Horst Groschopp

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Prof. Dr. Frieder Otto Wolf, Präsident der Humanistischen Akademie
Prof. Dr. Frieder Otto Wolf

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Marie Schubenz
Marie Schubenz

BERLIN. (hpd) Die Humanistische Akademie Berlin-Brandenburg lud gestern zur Präsentation des Handbuches "Humanismus: Grundbegriffe" ein. Die drei Herausgeber, Hubert Cancik, Horst Groschopp und Frieder Otto Wolf sowie einige der Autoren waren anwesend. Marie Schubenz ist eine der AutorInnen und redaktionelle Mitarbeiterin und gab einen Bericht über die Entstehung des Buches. Der hpd veröffentlicht diesen Beitrag leicht gekürzt.

Eine meiner Lieblingsschriftstellerinnen und übrigens auch eine große Humanistin – die DDR Autorin Irmtraud Morgner – hat im zweiten Band ihrer Roman-Triologie über das Leben der Trobadora Beatriz de Dia die elfte Feuerbachthese von Marx dahingehend aktualisiert, dass sie feststellt: "Die Philosophen haben die Welt bisher nur männlich interpretiert. Es kommt aber darauf an, sie auch weiblich zu interpretieren, um sie menschlich verändern zu können." (Amanda, S. 312)

Auch wenn das schon wieder ein paar Jahrzehnte her ist und das "weiblich" heute wiederum mit einem Sternchen versehen werden müsste, trifft es immer noch einen wichtigen Punkt.

Auch in diesem Handbuch sind die vier Autorinnen, von denen ich eine bin, in der Minderheit. Ähnlich ergeht es wohl den historischen Humanistinnen und ihrer Bedeutung – sicherlich eines der Forschungsdesiderata der erst am Anfang stehenden Humanismus-Forschung.

Über das Kolloquium an der Freien Universität (FU), das Frieder Otto Wolf und Hubert Cancik seit einigen Jahren dieser Humanismus-Forschung widmen, bin ich auch zu der Arbeit an dem Handbuch gestoßen. Die Herausforderung einen lexikalischen Artikel zu verfassen, hätte ich vermutlich ohne dieses produktive und herzliche Arbeitsumfeld, so nicht angenommen. Aber der gemeinsame Austausch in diesem kleinen Kreis, der ganz anders als sonst heute im neoliberalen Universitätsbetrieb üblich, einen Denk-Raum öffnet, um auf eine kooperative Weise "durch entsprechende Forschungen die Voraussetzungen und Grundlagen eines zeitgenössischen Humanismus zu klären", wie es in der schlichten Ankündigung heißt. Diese unaufgeregte, ernsthafte und beharrliche Form die sich wenig schert um Rankings und Selbst-Darstellungen, sondern Fragen auslotet, Stränge verfolgt, Bezüge herstellt und gemeinsam versucht diese zu vermitteln, hat mich sehr beeindruckt. Ein geistiges und soziales Umfeld das in der Akademie als Unternehmen so kaum mehr zu finden ist.

Auf diese Art konnte ich in die Arbeit an dem Handbuch sprichwörtlich hineinwachsen. Ich erinnere mich noch gut an die ersten Schreib-Werkstätten im Club-Haus der FU in Dahlem. Ein sehr schönes Format für die Arbeit an den Artikeln. Leider nicht einfach umzusetzen, da solche Entstehungsprozesse immer mit allerlei Ungleichzeitigkeiten zu kämpfen haben.

Von heute aus betrachtet würde ich sagen, die Werkstatt-Wochenenden hätten wir noch intensiver bestreiten können. Aber mit der Zeit im Nacken und den Abgabeterminen, die unzählige Male verschoben wurden taucht ein weiterer wichtiger Widerspruch auf.

Das Stichwort Zeit, das (bezeichnenderweise?) nicht unter diesen Grundbegriffen ist.

Der Soziologe Hartmut Rosa verweist unter dem Titel "Beschleunigung" auf ein gesellschaftliches Phänomen unseres jungen Jahrtausends: Die gefühlte Verknappung der Zeit, die dem tatsächlich eher konstanten Zugewinn an frei verfügbarer Zeit entgegen steht. Mit den gegenwärtigen ökonomischen, technologischen und sozialen Bewegungen scheint die Wahrnehmung verbunden zu sein, dass sich die "Poren des Alltags" schließen. Ich glaube dies kann auch als eines der Hindernisse bei der Arbeit an den Humanistischen Grundbegriffen gesehen werden. Eine solch enzyklopädische Arbeit braucht Zeit – und Ruhe, also eine bestimmte Art von Zeit. Andere Formen zusammen zu arbeiten, Kooperations- und Beratungsprozesse brauchen Zeit sich zu entfalten.

Ich selber habe eine ganze Zeit gebraucht um zu verstehen, worum es überhaupt geht.

Erst als ich im Zuge der Fertigstellung noch tiefer in die redaktionelle Mitarbeit eingestiegen bin – und eigentlich meine gesamte Zeit und Aufmerksamkeit dem gewidmet habe, hatte ich langsam das Gefühl so könnte es gehen.

Worüber sprechen wir hier aus humanistischer Perspektive? "Die Zeit als Raum menschlicher Entwicklung" (MEW 26.3, S. 252), um noch einmal Marx zu zitieren.

Sind Wörterbuchprojekte vielleicht an sich anachronistisch, könnte man nun fragen. Der Erfolg der digitalen Wiki-Enzyklopädien spricht erstmal dagegen. Und doch gibt es Warnungen, dass die Mehrzahl der Artikel bei Wikipedia zum Beispiel nur von einzelnen wenigen AutorInnen geschrieben werden, nämlich jenen die anscheinend dazu die Zeit finden.

Auf jeden Fall haben einige Nerven an der langsamen Entstehungsdauer dieses Handbuchs gelitten, nicht zuletzt die von Frau Dr. Grünkorn, die die Grundbegriffe beim De Gruyter Verlag betreut.

Aber ich denke die Mühe hat sich gelohnt.

Wir leben in einer Zeit, in der weltweit antihumane Reaktionen auf die Krisen der modernen Gesellschaft und des Kapitals zunehmen. Und ob wir nun in mehreren oder in einer Zeit leben, unabhängig von Wahrnehmung und Erfahrungen, gibt es globale soziale und ökonomische Prozesse, die zwar von Menschen gemacht sind, aber von einzelnen nicht gesteuert werden können und auch nicht von Regierungen und mit deren Entwicklung das moderne Dasein verwoben ist. Und es gibt momentan scheinbar keine Lösung für diese Widersprüche außer dem Markt.

Gerade hier ist es wichtig, diese Art von Grundlagenarbeit zu machen, ein Handbuch, um es Anderen an die Hand geben zu können, allen aber besonders auch den jüngeren und jungen Menschen. Humanismus als praktischer Kampfbegriff und das Handbuch als Instrument für eine Praxis, die in das öffentliche Bewusstsein hineinreicht. In diesem Sinne kann man ein Begriffslexikon begreifen wie einen Werkzeugkasten mit der Säge und ihren Zinken.

Aber es sind auch die Blumen des Geistes, in einem umfassenden humanistischen Verständnis, welches Bewusstsein nicht von den Gefühlen und Sinnen trennt. Mit der Schönheit als einer der stärksten menschlichen Kategorien.

Cover: "Humanismus: Grundbegriffe"
Cover: "Humanismus: Grundbegriffe"

Hier ist mit einer leichten Trauer anzumerken, dass der ursprünglich vorgesehene Bildteil des Handbuchs nicht realisiert werden konnte. Diese Bilder werden mir fehlen.

"Etwas fehlt." Darin waren sich auch Brecht und Bloch einig. Doch da sind die Bilder vermutlich das kleinere Problem.

Jede enzyklopädische Anstrengung enthält vielleicht ein Moment von Verzweiflung und auch Konfusion. Man will eine Enzyklopädie machen und kann froh sein am Ende bei einer Sammlung zu landen. Aber auch Honig ist eine Sammlung – und ein Lebenselixier.

Abschließend möchte ich noch einmal auf das Thema meines Artikels zu sprechen kommen.

Anfang der 70er Jahre haben die Ton Steine Scherben gesungen:

Uns fehlt nicht die Zeit, uns fehlt nicht die Kraft
Uns fehlt nicht das Geld, uns fehlt nicht die Macht
Was wir wollen, können wir erreichen
Wenn wir wollen, stehen alle Räder still
Wir haben keine Angst zu kämpfen
Denn die Freiheit ist unser Ziel
Alles, was uns fehlt, ist die Solidarität
Uns fehlt nicht die Hoffnung, uns fehlt nicht der Mut
Uns fehlt nicht die Kraft, uns fehlt nicht die Wut
Alles, was uns fehlt, ist die Solidarität

Die Solidarität

Ein humanistischer Grundbegriff par exellence. So bin ich schon vor meiner Mitarbeit an dem Handbuch und im Kolloquium auf die von Horst Groschopp in der Humanistischen Akademie im Dezember 2010 ausgerichtete Tagung mit dem Titel: "Barmherzigkeit und Solidarität – nur säkularisierte Nächstenliebe? Sozialkulturelle Gemeinschaftsformen humanitärer Krisenbewältigung" gestoßen.

Ich selber beschäftige mich in meiner Dissertation mit dem Wandel von Formen und Praktiken der Solidarität. Und ich denke die Rückverfolgung der "langen Linien" des genuin modernen Solidaritätsbegriffs, der erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts von den Frühsozialisten geprägt wurde – über die Französische Revolution, die Freidenker, die Aufklärungsbewegungen, die christliche Brüderlichkeit, die jüdische Nächstenliebe zur antiken humanitas, misericordia und philantropia – der Menschenliebe und Barmherzigkeit – und noch weiter zurück auf die Genossenschaft der Menschen bei Odysseus und dem Mitempfinden bei Pythagoras – dies ist ein gutes Beispiel für die Arbeit an einem humanistischen Begriff. Die unterschiedlichen "Konjunkturen" des Begriffs, wie man in der ökonomisch geprägten Sprache unserer Epoche sagen würde – zeigen verschiedene gesellschaftlich wirkmächtige Aneignungsbewegungen – von unten wie durch die ArbeiterInnen- und Gewerkschaftsbewegung, aber auch z.B. eine nachträglich sakralisierende wie durch die katholische Soziallehre, die nicht zuletzt den westdeutschen Nachkriegssozialstaat maßgeblich prägte.

Auf die Frage, welcher Solidaritätsbegriff einem zeitgenössischen Humanismus entspricht, kann eine Antwort lauten Konvivialismus – die Kunst des Zusammenlebens in einer Weltzivilgesellschaft, die solidarisch verfasst sein und auf der Idee beruhen sollte, dass der jeweils andere eine Bereicherung darstellt, weil er ein Anderer ist – wie Emmanuel Levinas es formulierte. Bei den gegenwärtig durch Kriege und zunehmende Konzentration des gesamtgesellschaftlichen Reichtums auf wenige Menschen und bestimmte Regionen ausgelösten Flucht- und Migrationsbewegungen sowie Spaltungstendenzen im Inneren, gibt es hier einiges zu tun aus humanistischer Perspektive.

Aber "die Menschheit stellt sich immer nur Aufgaben, die sie auch lösen kann." (MEW 13, S. 9) Um mit einem letzten Marx-Zitat zu schließen.

Ich freue mich auf jeden Fall über die Fertigstellung dieses Handbuchs, hoffe dass es gelesen und genutzt werden wird und ich freue mich auf die weitere Zusammenarbeit an dem – unabgeschlossenen – "humanistischen Projekt" einer im besten und emphatischsten Sinne menschlichen Gestaltung der Welt.