Interview

"Seit Jahren dominieren 'Gesinnungsdiskurse'"

In Diskussionen geht es heute oft überhaupt nicht mehr um die Sache, sondern primär um die Verortung des Gesprächspartners in einem politischen Lager. Hat man das Gegenüber wahlweise als links oder rechts identifiziert, muss man auf Argumente in der Sache nicht mehr eingehen. Doch was ist eigentlich links und was rechts – und liegen diejenigen, die sich für links oder rechts halten, mit ihrer Einschätzung immer richtig? Ein Interview über die babylonische Richtungsverwirrung führte hpd-Redakteurin Daniela Wakonigg mit Politikwissenschaftler Armin Pfahl-Traughber. 

hpd: Wenn man derzeit Diskussionen – vor allem in den Sozialen Medien – verfolgt, kann einem vor lauter Rechts-Links-Gerede ganz schwindelig werden. Die einen werfen den anderen vor, rechts zu sein, die anderen den einen, links zu sein. Diskussionen in der Sache scheinen dabei eigentlich kaum noch geführt zu werden, es scheint primär wichtig, sich selbst und den anderen in einem Lager zu verorten, um auf das, was der andere inhaltlich sagt, nicht mehr eingehen zu müssen. Teilen Sie diese Einschätzung, Herr Prof. Pfahl-Traughber?

Armin Pfahl-Traughber: Leider ja, seit Jahren dominieren "Gesinnungsdiskurse". Ich meine damit die Bekundung einer Auffassung, die eben der angeblich richtigen Gesinnung entsprechen soll. Eine differenzierte Begründung ist dabei nicht nötig, das entsprechende Etikett für den Gegner reicht dann. Eine Diskussionsform, die sich mitunter übrigens auch in den Kommentarspalten des hpd findet. Dabei erschreckt besonders, dass auch formal höher gebildete Menschen von so etwas mit geprägt sind. Und eine pro-linke Annahme, wonach eher politisch links stehende Personen so etwas nicht machen würden, war grundsätzlich und schon länger unzutreffend.

Ist das ein neues Phänomen oder war das eigentlich immer schon so und es fällt uns heute aufgrund der Verbreitung der Sozialen Medien einfach nur stärker auf?
 

Prof. Dr. Dipl.-Pol., Dipl.-Soz. Armin Pfahl-Traughber ist hauptamtlich Lehrender an der Fachhochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung in Brühl, Lehrbeauftragter an der Universität Bonn und Herausgeber des "Jahrbuchs für Extremismus- und Terrorismusforschung". Seine Arbeitsschwerpunkte sind Antisemitismus, Extremismus, Ideengeschichte, Religion, Terrorismus und Totalitarismus. Er ist Mitglied im Unabhängigen Arbeitskreis Antisemitismus des Deutschen Bundestages und im Beirat des Bündnisses für Demokratie und Toleranz.

In Ansätzen gab es ein derartiges "Diskussionsniveau", wobei ich diesen Begriff ganz bewusst in ironisierende Anführungszeichen setzen möchte, schon lange vor dem Internet. Dies blieb aber, wie man das soziologisch nennen könnte, in der "Kommunikationslatenz" stecken. Oder anders formuliert: So etwas war meist auf die private Sphäre, etwa die des politischen Stammtisches, beschränkt. Die Sozialen Medien haben derartige Einstellungen und Verhaltensweisen nicht verursacht, sie aber in ihren Wirkungsmöglichkeiten beflügelt. Jede noch so schlichte Aussage, ich formuliere hier einmal höflich, kann so potentiell von Millionen gelesen werden. Und nicht wenige Kommentatoren sind dabei gar nicht so mutig, verstecken sie sich doch hinter einem Pseudonym.

Bemerkenswert bei den Diskussionen ist, dass Leute sich häufig überhaupt nicht darüber im Klaren zu sein scheinen, was rechts und was links ist. Manche Unterstützer der AfD weisen es zum Beispiel weit von sich, rechts zu sein. Wie kann es zu einer solchen persönlichen Fehleinschätzung kommen?
 

Das ist wiederum gar nicht so neu. 1979 wurde die berühmte "SINUS-Studie" durchgeführt, welche unter anderem zu dem Ergebnis kam, dass 13 Prozent der Deutschen wieder einen "Führer" haben wollten. Weit mehr als drei Viertel des damit erfassbaren rechtsextremistischen Einstellungspotentials wählte die damaligen Volksparteien CDU/CSU und SPD und hielt sich entsprechend selbst auch für demokratisch oder sogar tendenziell links. Heute ist die Bezeichnung "rechts" allgemein negativ besetzt, da definiert man sich auch subjektiv lieber anders, etwa "konservativ" oder gar "alternativ". Übrigens trägt noch folgender Aspekt zur Irritation bei: AfD-Politiker wie Björn Höcke nutzen mitunter einen kapitalismuskritischen Diskurs, der zwar nicht dem Abstimmungsverhalten oder der Parteiprogrammatik entspricht, aber bei der besonderen Wählerschaft ankommt.

Angesichts einer gewissen babylonischen Richtungsverwirrung sollten wir vielleicht auch darüber sprechen, was überhaupt rechts und was links ist? Also: Was sind typische Merkmale und Themen einer rechten beziehungsweise linken politischen Positionierung?
 

Wie heißt es so schön in dem Gedicht von Ernst Jandl: "manche meinen/ lechts und rinks/ kann man nicht velwechsern/ werch ein illtum." Entschuldigung, aber das muss immer in einem Gespräch über dieses Thema kommen. Zurück aber zur eigentlichen Frage: Dazu gibt es in den Politikwissenschaften eine jahrzehntelange Debatte. Ich neige zu der von Norberto Bobbio entwickelten Differenzierung, der dabei die Einstellung zur Gleichheit zum zentralen Kriterium erhob. Linke plädieren demnach mehr für soziale Gleichheit, Rechte weniger für soziale Gleichheit. Er differenzierte darüber hinaus noch eine extreme und gemäßigte Linke und Rechte, wobei die Einstellung zur Freiheit für die Individuen dabei den entscheidenden Unterschied ausmachen sollte. Ich gebe aber zu, dass man damit heute nicht mehr alle politischen Akteure in Distanz zu der ebenso begrifflich unscharfen Mitte gut einsortieren kann.

Wie sind denn dann eigentlich sogenannte Identitätslinke richtungstechnisch zu betrachten?
 

Genau, das wäre dann ein solches Phänomen. Die Identitätslinke engagiert sich für Minderheiten und deren Rechte, seien es Homosexuelle oder Schwarze oder Transgenderpersonen. Beachtenswert ist dabei, dass die soziale Frage und demnach auch die soziale Gleichheit dort kaum eine Rolle spielt. Soziallinke kritisieren sogar eine indirekte Kooperation der Identitätslinken mit Großkonzernen. Möglicherweise sollte man die Allgemeinbezeichnungen auch noch einmal genauer unterteilen: Wie hier von einer Identitätslinken, könnte auch von einer Klimalinken gesprochen werden. Klassisch links an der Klimabewegung ist eigentlich nichts, denn die soziale Frage spielt dort ebenso wenig eine bedeutende Rolle. Gleichwohl dürften sich die meisten Akteure eher dem linken politischen Spektrum zurechnen, was aber weniger mit reflektierten Auffassungen und mehr mit persönlichem Habitus zu tun hat. Selbst bei den sogenannten "Querdenkern" gab es Personen, die sich irgendwie der politischen Linken zugerechnet haben. Hierzu würde ich den Kunstbegriff der "esoterischen Linken" vorschlagen wollen.

Bleiben wir kurz bei den Identitäts- und den Klimalinken. Ich bin sicher, dass Ihnen einige, die sich diesen Gruppierungen zurechnen, jetzt massiv widersprechen würden, dass die Frage nach sozialer Gleichheit bei ihnen keine Rolle spielt. Schließlich geht es ihnen doch um die gesellschaftliche Gleichstellung sozial benachteiligter Minderheiten einerseits und um Klimagerechtigkeit andererseits – also darum, dass nicht Menschen in ärmeren Ländern die Folgen des primär von reicheren Ländern verursachten Klimawandels ausbaden müssen.

Natürlich bezog sich meine Anmerkung nicht auf alle Identitäts- und Klimalinken, selbstverständlich gibt es auch innerhalb dieser Strömungen individuelle Unterschiede in den politischen Haltungen. Aber grundsätzlich kann man schon feststellen, dass zum Beispiel in den großen Organisationen der Klima-Bewegung wie "Last Generation", "Fridays for Future" oder "Extinction Rebellion" die soziale Frage nicht wirklich wichtig zu sein scheint. Deren Bedeutung wird auf Nachfrage bejaht, ist aber nicht Thema für die Ausrichtung der Aktionen. Und auch zwischen Identitäts- und Soziallinker muss es in dieser Frage theoretisch keinen Widerspruch geben, aber im praktischen Engagement wird darauf keine große Rücksicht genommen. Genau daran gibt es ja vehemente Kritik, eben auch von der Soziallinken. Man kümmert sich nicht mehr um Arbeiter und Arbeitslose, die dann jetzt mehr AfD wählen ...

Was bringen uns solche Einteilungen in rechts und links überhaupt, wenn selbst diejenigen, die sich einem Lager zugehörig fühlen, mit ihrer Selbsteinschätzung verdammt daneben liegen können?

Aus der analytischen Betrachtung der Sozialwissenschaften ist ja nicht entscheidend, was Menschen von sich selbst halten. Das kann kein Maßstab sein. Die Gesellschaft hat sich in den letzten Jahren immer mehr ausdifferenziert, was auch zu den Bemühungen führte, hier auf unterschiedlichen Ebenen einige weiterführende Unterscheidungen vorzunehmen. Mittlerweile auch klassisch ist die Differenzierung eines materialistischen und post-materialistischen Milieus. Die grobe Einteilung von links und rechts halte ich nach wie vor für angemessen, sie sollte aber mit einer gewissen inhaltlichen Unterscheidung einhergehen. Appelle an ein Differenzierungsvermögen bei Einordnungen, wie sie gleich zu Beginn angesprochen wurden, sind auch immer wichtig, wirken aber gegenwärtig gar realitätsfremd. Ich bin für mich aktuell schon froh, wenn eine von mir kritisierte Aussage zuvor auch gelesen und korrekt referiert wird.

Ganz ehrlich: Mir dreht sich der Kopf in Sachen rechts-links nach diesem Interview mindestens genauso wie vorher ...

Irritationen und Verwirrungen kann ich gut verstehen. Das liegt aber – hoffentlich – nicht an mir, sondern an der komplexen Thematik. Und leider kann ich mit gutem Gewissen auch keine runden Lösungen präsentieren. Wie gesagt: Auch in den Politikwissenschaften debattiert man schon seit Jahrzehnten über geeignete Definitionen. Die Sache mit "lechts und rinks" ist halt doch wesentlich komplizierter als sie auf den ersten Blick scheint.

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