Interview zum gegenwärtigen Nahost-Konflikt

"Man muss sich immer wieder im Klaren darüber sein, dass zur DNA der Hamas die beabsichtigte Vernichtung von Israel gehört."

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Kämpfer mit palästinenstischer Flagge.

Aufgrund des brutalen Massakers der Hamas an der jüdischen Bevölkerung Israels Anfang Oktober ist der Nahost-Konflikt eskaliert. hpd-Redakteurin Daniela Wakonigg sprach mit Politikwissenschaftler und Extremismusforscher Armin Pfahl-Traughber über die Hamas und ihre Ziele, über Antisemitismus unter Muslimen, das Verhalten der westlichen Linken, das Versagen von Medien im Erkennen von Hamas-Propaganda und über die Möglichkeit von Friedensgesprächen in der aktuellen Situation.

hpd: Am 7. Oktober drangen Hamas-Kämpfer in Israel ein und töteten auf – wie wir inzwischen wissen – unfassbar brutale Weise jüdische Männer, Frauen und Kinder. Was motivierte die Hamas zu diesem Massaker, Herr Prof. Pfahl-Traughber?

Pfahl-Traughber: Eine gut belegbare Antwort auf diese Frage kann man gegenwärtig noch nicht geben, dazu fehlt das gesicherte Wissen. Ich möchte aber eine Hypothese formulieren: Es handelte sich ja nicht nur um besonders brutale Morde, die Täter filmten ihre Untaten und verbreiteten die Aufnahmen über das Internet. Beides war offenkundig bewusst von der Hamas-Führung geplant, womit sich zu dieser Besonderheit die Frage stellt: Warum? Ansonsten bemühen sich brutale Mörder und die politisch Verantwortlichen doch darum, das Ausmaß möglichst nicht der medialen Öffentlichkeit bekannt zu machen. Und damit stellt sich noch genauer die Frage: Welche Funktion sollte dieses Vorgehen haben? Allein damit wäre die von der Hamas-Führung angestrebte Vernichtung von Israel nicht möglich. Bei terroristischen Akteuren geht es aber auch häufig um die psychischen Folgen ihrer Taten, man will mitunter eine Falle stellen und den Staat zu einer Überreaktion motivieren, welche dann letztendlich zu dem gewünschten Ziel führt.

Armin Pfahl-Traughber,  Prof. Dr. Dipl.-Pol., Dipl.-Soz. Armin Pfahl-Traughber, Jg. 1963, ist hauptamtlich Lehrender an der Fachhochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung in Brühl, Lehrbeauftragter an der Universität Bonn und Herausgeber des "Jahrbuchs für Extremismus- und Terrorismusforschung". Seine Arbeitsschwerpunkte sind Antisemitismus, Extremismus, Ideengeschichte, Religion, Terrorismus und Totalitarismus. Er ist Mitglied im Beirat des Bündnisses für Demokratie und Toleranz und gehörte beiden "Unabhängigen Arbeitskreisen Antisemitismus" des Deutschen Bundestags an.

Meine Hypothese lautet hier, dass die Hamas die israelische Regierung zu einer schnellen Gegenoffensive mit Bodentruppen provozieren wollte. Dies hätte erstens binnen weniger Tage zu vielen zivilen Opfern geführt, was dann die öffentliche Stimmung in vielen Ländern zu Ungunsten von Israel hätte kippen lassen. Und zweitens wäre die israelische Armee nicht ausreichend auf die besondere Situation vorbereitet gewesen. Denn die Hamas hat komplexe unterirdische Tunnelanlagen aufgebaut, worin man als Kenner der Ortschaften gut aus dem Hintergrund agieren und sich ebenso gut verstecken kann. Eine damit einhergehende militärische Auseinandersetzung hätte zu hohen Todesopfern auch auf israelischer Seite geführt. Gleiches würde für die "Hamas-Kämpfer" – ich mag die Bezeichnung übrigens nicht, mir fällt aber auch keine bessere Formulierung ein – gelten und auch für viele palästinensische Zivilisten. Der Hamas ist aber deren Leben relativ egal. Sie hätte damit indessen einen großen Propaganda-Erfolg erzielen können. Die anfängliche Zurückhaltung der israelischen Streitkräfte war von daher eine angemessene Reaktion. Gleichwohl dürfte der militärische Konflikt noch weiter eskalieren und auch in anderen Ländern öffentliche Meinungsumschwünge auslösen, wie bereits jetzt erkennbar, zuungunsten von Israel. Die Hamas setzt damit längerfristig auf eine Täter-Opfer-Umkehr zu ihren Gunsten.

Wenn man Bilder der bewaffneten Hamas-Kämpfer und den noch immer andauernden Beschuss Israels aus dem Gaza-Streifen sieht, fragt man sich, wie die Hamas ein solches Waffenarsenal aufbauen konnte. Wer steht hinter der Hamas?

Bekanntlich hat die Hamas von verschiedener Seite hohe finanzielle Zuwendungen bekommen. Da wäre erstens der Iran zu nennen, der trotz des eigentlich auch im Islamismus bestehenden Konflikts zwischen sunnitischen und schiitischen Protagonisten die Hamas massiv unterstützt, hat man doch ein gemeinsames Feindbild, eben den Staat Israel, den die Hamas wie der Iran vernichten wollen. Dann kam zweitens Geld aus Katar, was ebenfalls kein Geheimnis ist. Bekanntlich fördert die Elite dieses doch eher kleinen Landes massiv islamistische Strömungen weltweit, was wiederum die westliche Politik nicht genügend kritisch kommentiert. Eine Anspielung auf die vergangene Fußballweltmeisterschaft erspare ich mir mal in diesem Zusammenhang. Und dann flossen drittens viele humanitäre Hilfsgelder für Palästinenser in den Gazastreifen. Doch nutzte sie die dortige Hamas-Regierung eben nicht breiter, um der Bevölkerung soziale Unterstützung zukommen zu lassen. Vielmehr flossen die Gelder in die militärische Aufrüstung, um einen kriegerischen Konflikt mit Israel führen zu können. Auch über diese Geldströme gibt es ein öffentliches Wissen, man versäumte eine Kontrolle von deren Verwendung.

"Auch die westlichen Medien fallen immer wieder auf diese Propagandaaktivitäten [der Hamas] herein, womit sie ein einseitiges bis falsches Bild von den Ereignissen vermitteln."

Was genau ist die Hamas eigentlich und was ist ihr Ziel?

Sie ist auch, aber nicht nur eine terroristische agierende Organisation. Aber zunächst zurück zu ihrer Gründung, welche aus palästinensischen Anhängern der Muslimbruderschaft heraus 1988 erfolgte. Dies wird übrigens in ihrer Gründungscharta offen eingeräumt. Man zitiert dort auch Hasan al-Banna, der für den Dschihad bis hin zum Tode warb. In der Charta wird ebenso von der Errichtung eines islamischen Staates in Palästina gesprochen. Und man ergeht sich durchgängig in der Beschwörung antisemitischen Konspirationsvorstellungen. Zunächst beschränkte sich die Hamas aber auf "Sozialarbeit", wobei ich die Formulierung bewusst in Anführungszeichen lesen möchte. Im Alltagsleben wollte man mit sozialen Serviceangeboten präsent sein. Man gründete etwa unterschiedliche Sozial- und Wohlfahrtseinrichtungen, etwa zu Frauenarbeit, Gesundheitsfragen oder Jugendarbeit. Die dahinter stehende Absicht mag auch humanitäre Gründe gehabt haben, die islamistische Durchdringung der Gesellschaft bildete aber das eigentliche Ziel. Die Hamas erwarb sich so einen positiven Ruf in der palästinensischen Gesellschaft und erhob zunächst kaum politische Forderungen. Daher unterließen es auch die israelischen Behörden oder Sicherheitskräfte, gegen die Hamas und ihre Unterstützer gezielter vorzugehen. Für eine gelegentlich behauptete direkte Förderung gibt es übrigens keine Belege, man sah aber in der Hamas einen innerpalästinensischen Konkurrenten der Fatah und der PLO und ließ sie von daher um einer erhofften Spaltungswirkung willen gewähren.

Im Laufe der Jahre entstand eine komplexe Organisationsstruktur, welche aus idealtypischer Blickrichtung in drei Teile unterschieden werden kann: Erstens die politische Partei, die auch im Gazastreifen regiert und bei der einzigen Wahl 2006 dort über vierzig Prozent der Stimmen erhielt, danach aber nie wieder eine Wahl durchführte. Zweitens die islamischen Sozialeinrichtungen, die sich etwa um Frauen oder Kinder als sozial betroffene Palästinenser kümmert. Und drittens den bewaffneten Arm, der militärische und terroristische Aktionen durchführt. Dazu gehören auch kontinuierliche Raketenangriffe auf Israel, wovon man in den westlichen Medien aber nur selten etwas lesen konnte. Auch die früheren Selbstmordattentate wurden in diesen Zusammenhängen organisiert.

Wie stark steht die palästinensische Bevölkerung hinter der Hamas und ihren Taten?

Dazu lassen sich keine genauen Angaben machen. Bei der einzigen Wahl erhielt die Hamas über 40 Prozent der Stimmen. Indessen erklärte sich der damalige Erfolg auch dadurch, dass viele Palästinenser von der korrupten Fatah enttäuscht waren und aus Frust für die Hamas stimmten. Da diese, als sie an der Regierung war, aber viele soziale Probleme nicht lösen konnte, wuchs immer wieder der Unmut vieler Palästinenser gegen sie. Auffällig ist, dass die Hamas dann häufig Konflikte mit Israel provozierte. Schickte deren Armee als Folge von Raketenangriffen auf ihr Territorium dann Raketen in den Gazastreifen zurück, suggerierte man in der einschlägigen Propaganda, dass eben Israel für die schlimme Lage der Palästinenser verantwortlich sei. Gegen Demonstrationen und Proteste wurde auch regelmäßig mit Gewalt und Repressionen vorgegangen. Bürgerfreiheiten und Grundrechte haben die Palästinenser demnach im Gazastreifen nicht. Gleichwohl konnte die Hamas immer wieder ihre Macht stabilisieren, gelingt es ihr doch mit dem propagierten Feindbild Israel öffentliche Unterstützung für sich zu mobilisieren.

Die Hamas errichtet militärisch relevante Bereiche wie Munitionslager, Abschussrampen etc. bekanntlich gern in der Nähe von Schulen, Krankenhäusern usw. Was will die Hamas damit erreichen?

Dieses Agieren steht bei der Hamas für einen besonderen Zynismus, denn es stellt bei Gegenangriffen Israel vor ein Dilemma. Erfolgen die Angriffe auf Israel von einer Schule aus, so müssen deren Streitkräfte entscheiden: Schicken wir dorthin Raketen, dann können dabei Kinder ums Leben kommen. Genau dies kalkuliert die Hamas aber ein, erscheinen dann doch diese Kinder als unschuldige Opfer von Israel, wenngleich dafür eigentlich die Hamas selbst die Verantwortung trägt. Auch die westlichen Medien fallen immer wieder auf diese Propagandaaktivitäten herein, womit sie ein einseitiges bis falsches Bild von den Ereignissen vermitteln. Würde man indessen auf einen militärischen Gegenschlag verzichten, dann würden sich von dort Raketenangriffe auf Israel weiter ungehindert fortsetzen.

Natürlich gibt es zum aktuellen Konflikt eine lange und komplizierte Vorgeschichte. Aber das Massaker vom 7. Oktober sollte eigentlich deutlich zeigen, wer gegenwärtig der Aggressor ist, nämlich die Hamas. Trotzdem – so scheint es mir – wird auf der weltweiten politischen Bühne Israel als Aggressor dargestellt und nun bei seinem Gegenschlag zur Mäßigung aufgefordert. Auch in eigentlich qualitativ hochwertigen Medien wird teilweise Hamas-Propaganda unhinterfragt und uneingeschränkt übernommen. Teilen Sie meine Einschätzung? Und – falls ja – wo sehen Sie die Ursache hierfür?

Ja, ein Musterbeispiel dafür ist die Darstellung eines angeblichen jüngeren israelischen Angriffs auf ein Krankenhaus in Gaza, wobei es zu einer hohen Opferzahl gekommen sei. Die Angaben zu den Opfern stammten von der Hamas selbst und wurden von westlichen Medien ungeprüft übernommen. Es gab noch nicht einmal einen Einschlag in das Krankenhaus, sondern auf einen in der Nähe befindlichen Parkplatz. Und schließlich handelte es sich auch nicht um eine israelische Rakete, sondern um eine fehlgeleitete palästinensische Rakete. Meiner Erinnerung nach haben sich viele Medien eben nicht für ihre falsche Berichterstattung entschuldigt, war es ihnen doch womöglich unangenehm, hier auf Hamas-Propaganda hereingefallen zu sein.

Derartige schiefe Berichterstattungen gab es aber bereits zuvor immer wieder. Ich kann mich an eine kurze Notiz in einer Zeitung erinnern. In der großen Überschrift war davon die Rede, dass israelische Soldaten zwei junge Palästinenser erschossen hätten. Ganz am Ende des Beitrags konnte man lesen, dass diese einen Zaun überklettert hatten, um dann in der Gegend eigene Anschläge zu begehen. So etwas nahmen dann aber nur die gründlichen Leser wahr. Da so etwas recht häufig in der medialen Berichterstattung vorkommt, hat man es nicht nur mit schlechter journalistischer Arbeit zu tun. Es gibt offenbar eine ausgeprägte Aversion gegen Israel bei nicht wenigen Journalisten, wo immer auch diese Haltung herkommen mag. Eine latent antisemitische und beziehungsweise oder israelfeindliche Einstellung gehört sicherlich dazu, auch eine Sympathie für den angeblich Schwächeren darf man unterstellen. Dabei wird das mörderische Agieren der Hamas, das es ja schon vor den aktuellen Ereignissen gab, häufig ignoriert, relativiert oder verharmlost.

"Je höher die Identifizierung mit dem Islam, desto höher sind auch die antisemitischen Einstellungen verbreitet."

Besonders stark ausgeprägt ist die pro-palästinensische Haltung in Deutschland und weltweit ja unter Muslimen. Wie steht es um den Antisemitismus bei Muslimen?

Darüber informieren die Ergebnisse der empirischen Sozialforschung, die hier ein eindeutiges Bild zeichnen: In vielen Ländern nicht nur der arabischen, sondern auch der westlichen Welt lässt sich eindeutig konstatieren, dass der Anteil der Muslime bei antisemitisch Eingestellten auffällig und überdurchschnittlich hoch ist. Man schaue sich die Ergebnisse von Land zu Land an, es gibt einen gleichbleibenden Trend. In Deutschland weisen etwa zwei Gruppen auffällig hohe Antisemitismus-Werte auf: AfD-Wähler und Muslime. Blickt man auf internationalen Studien, die auch Angaben zu den sozialen Besonderheiten der Gemeinten erhoben haben, dann fällt übrigens auf, dass weder Alter noch Beruf, weder Bildung noch Geschlecht besondere Spezifika darstellen. Es ist das Ausmaß religiöser Identität bei Muslimen. Anders formuliert: Je höher die Identifizierung mit dem Islam, desto höher sind auch die antisemitischen Einstellungen verbreitet.

Derartige Aussagen lösen schnell einen "Islamophobie"- oder "antimuslimischer Rassismus"-Vorwurf aus. Dies steht indessen für eine Abwehrhaltung gegen die soziale Realität, was eben nichts mit solchen Einstellungen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit zu tun hat. Wenn ich als Sozialwissenschaftler konstatiere, dass über 90 Prozent der rechtsextremistischen Gewalttaten von Männern begangen werden, dann äußere ich mich ja auch nicht gegen Männer, sondern verweise auf Forschungsergebnisse. Gegen die erwähnte Feststellung spricht übrigens nicht, dass Muslime mit geographischer Nähe zu Israel besonders hohe Antisemitismuswerte aufweisen. Die erwähnte Differenz zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen bezüglich judenfeindlicher Vorurteile gibt es auch in Ländern, die geographisch und medial recht weit weg von Israel sind. Demnach existiert sehr wohl ein muslimischer Antisemitismus, der auch etwas mit dem Islam zu tun hat. Gleiches gilt verständlicherweise für einen christlichen Antisemitismus, der ebenso etwas mit dem Christentum zu tun hat.

Wenn man einen Blick auf die gegenwärtigen Demonstrationen wirft, gehen in Deutschland und vielen westlichen Ländern allerdings nicht nur Muslime auf die Straße. Wie steht die Linke (nicht die Partei, sondern das Spektrum) zu dem Konflikt?

Falls mit "Linke" das Spektrum links von Grünen und SPD gemeint ist, so muss man für den Großteil eine israelfeindliche Haltung konstatieren. Dabei kursiert seit Jahren ein Zerrbild von dem Staat, dem etwa "Apartheid", "Genozid", "Kolonialismus" oder "Rassismus" vorgeworfen wird. Es gibt durchaus berechtige Kritik an der israelischen Politik, etwa bezogen auf die gegenwärtigen Regierungsparteien und deren politisches Selbstverständnis, etwa bezogen auf das lange Desinteresse an einer Friedensregelung in der Regierungspolitik, etwa bezogen auf die Duldung oder gar Förderung expansiver Siedlungspolitik. Es gibt auch in der Gesellschaft eine Diskriminierung von arabischstämmigen Personen. Gleichwohl sind Bezeichnungen wie etwa "Apartheid" absurd, steht das Gemeinte doch für eine rigorose Trennung von Menschen in einer Gesellschaft durch die unterschiedlichsten Lebenssphären hindurch. In Israel gibt es indessen keine getrennten öffentlichen Toiletten für jüdische und nicht-jüdische Menschen, um anhand eines simplen Beispiels bezogen auf das frühere Südafrika den grundlegenden Unterschied zu verdeutlichen. Auch wird kein "Genozid" von Israel aus betrieben. Bekanntlich schicken die israelischen Streitkräfte vor eigenen Raketenabschüssen sogenannte Warnraketen, die den Bewohnern entsprechender Häuser zwanzig Minuten Zeit zu deren Verlassen geben, bevor dann Raketen mit Sprengstoff geschickt werden. Welche anderen Streitkräfte in der Welt gehen so vor? Insofern ist auch der "Genozid"-Vorwurf völlig falsch.

"Bei dieser gewollten politischen Blindheit vor dem Islamismus verraten auch viele Linke ihre ansonsten so häufig beschworenen Prinzipien: Aufklärung und Individualität, Frauen- und Homosexuellenrechte, Religionskritik und Vernunft."

Die sich "antiimperialistisch" gebenden Linken blenden aber all diese Gesichtspunkte aus, stören derartige Einsichten doch ihr Feindbild Israel. Sie sind von einem eindimensionalen und simplen Dualismus geprägt, frei nach dem Motto "schwach gleich gut", also "Opfer", "stark gleich böse", also "Täter". Damit positioniert man sich auf der Seite der Palästinenser und gegen die Seite der Israelis. Beklemmend sind dabei die Doppelstandards, kritisieren doch viele Linke angebliche oder tatsächliche israelische Menschenrechtsverletzungen, so werden sie bezogen auf die Fatah oder Hamas schlicht nicht zur Kenntnis genommen oder als israelische Propagandaberichte kommentiert. Es gibt auch Fälle von prominenten Linken, die Hamas und Hizb Allah als politische Freunde auf der gleichen Seite im Kampf gegen den Imperialismus bezeichneten. Man denke an Judith Butler oder Jeremy Corbyn. Entsprechend ignorieren nicht wenige Linke aktuell gar die Hamas-Massaker und wollen nur eine Palästinenser-Unterdrückung sehen. Die DDR-phile DKP wurde jüngst berechtigt von der pro-stalinistischen MLPD kritisiert, weil sie gegenüber der "faschistischen Hamas" kein Wort verliere.

Ansonsten kann man als deutscher Linker die Massaker nicht leugnen, es kommen dann aber schnell die "Ja, aber …"-Reaktionen, die es jüngst auch kritisch gemeint auf die taz-Titelseite schafften. Demnach bedauert man die Hamas-Morde, sieht sie aber als bloße Folge der vorherigen israelischen Politik an. Angesichts des Ausmaßes an Brutalität bei Folterungen, Morden und Vergewaltigungen fehlen einem hier häufig die kommentierenden Worte. Überhaupt interessiert sich ein Großteil der Linken nicht für die Gefahren des Islamismus, worin häufig genug nur ein neues Feindbild nach dem Kalten Krieg gesehen wurde und wird.

Bei dieser gewollten politischen Blindheit vor dem Islamismus verraten auch viele Linke ihre ansonsten so häufig beschworenen Prinzipien: Aufklärung und Individualität, Frauen- und Homosexuellenrechte, Religionskritik und Vernunft. Es gibt dort nur wenige Ausnahmen mit einer klaren Profilierung. Die "Jungle World" als Wochenzeitung gehört etwa dazu. Dabei handelt es sich um eines der seltenen linken Publikationsorgane, die auch kontinuierlich kritisch über den Islamismus berichten. Ansonsten dominiert die gemeinsame Feindschaft gegen den angeblichen Imperialismus. Und die führt dann auch aktuell palästinensische Hamas-Anhänger und deutsche Linke auf der Straße zusammen. Ob Letzteren klar ist, wie es ihnen in einer Gesellschaft ergehen würde, die von einem "islamischen Gottesstaat" beherrscht wäre, kann man sich schwerlich vorstellen. Wenn es eines Beleges für den teilweisen moralischen Niedergang auch in der deutschen Linken bedarf, dann schaue man sich die entsprechenden Bilder bei Demonstrationen und Protestveranstaltungen an.

Nun gibt es ja bei dem Konflikt – ähnlich wie beim Ukraine-Krieg – Menschen, die sofortige Friedensgespräche fordern. Ist das gegenwärtig überhaupt eine realistische Perspektive? Wie schätzen Sie auf beiden Seiten den Willen zum Frieden ein?

Aktuell ist bei beiden Konfliktparteien keine Grundlage für Friedensgespräche erkennbar, allenfalls wäre ein Austausch der israelischen Geiseln durch gefangene Gewalttäter vorstellbar. Man muss sich immer wieder im Klaren darüber sein, dass zur DNA der Hamas die beabsichtigte Vernichtung von Israel gehört. Angesichts der schlimmen Ereignisse vom 7. Oktober – bekanntlich wurden ja an diesem Tag so viele Juden ermordet wie seit dem Holocaust nicht mehr – setzt auch die israelische Regierung auf die Vernichtung der Hamas. Beide maximalen Forderungen dürften aktuell keinen geordneten Frieden möglich machen, selbst Gespräche dazu wären eher unwahrscheinlich. Darüber hinaus bedürfte es einer starken Macht als Schiedsrichter oder Schlichter, wobei eben diese starke Macht von beiden Seiten als eine solche anerkannt werden müsste. Für Israel wäre dies die USA, wie aktuelle militärische Beschränkungen eben auf Wunsch der Biden-Regierung veranschaulicht haben. Für die Hamas gibt es eine solche starke Macht nicht, allenfalls könnte es der Iran sein, der aber auch offiziell die Vernichtung von Israel fordert. In der Gesamtschau dürften daher Gespräche aktuell nur von geringem Erfolg gekrönt sein. Gleichwohl gilt ein Churchill zugeschriebenes Motto, wonach das Reden erst einmal besser als das Schießen ist. Indessen dürfte eben das Schießen die kommende Zeit prägen.

Abschließend darf ich noch sagen, dass solche Entwicklungen wohl nicht nur Politik- und Sozialwissenschaftler zur Verzweiflung bringen. Wir Menschen haben in technischer Hinsicht unvorstellbare Leistungen erbracht, man denke bloß an das Smartphone. Vor hundert Jahren hätte man sich wohl schwerlich vorstellen können, dass wir eine damit einhergehende Kommunikation als alltäglich und normal ansehen würden. Bezüglich der Regelung von Konflikten, wie der aktuellen Auseinandersetzung im Nahen Osten, haben wir Menschen indessen wohl wenig gelernt. Dass ein derart grausames Massaker, noch dazu vor laufender Kamera und innerem Stolz der Täter, möglich ist, spricht nicht für uns Menschen. Könnten Tiere reden, könnten sie zynisch formulieren: Das ist sie also, die Krönung der Schöpfung. Eine politische Botschaft will ich indessen noch loswerden: Diese Betrachtung sollte nicht die Grenzziehung zwischen Opfern und Tätern verwischen. Das Massaker ging von der Hamas aus, die im Gazastreifen viele Palästinenser in politischer Geiselhaft hält und sie skrupellos Todesgefahren aussetzt, sofern es in ihrem Interesse ist. Ich darf daher mit einem politischen Slogan enden: "Free, free Palestine – from Hamas!".


Nachtrag:

Nach der Beendigung des Interviews mit dem hpd fragten wir Armin Pfahl-Traughber, ob nicht die Bezeichnung "Hamas-Terroristen" für einen angemesseneren Terminus stehe. Er äußerte sich dazu wie folgt:

"Die Bezeichnung nutzen gern die Medien, wobei man sich nicht an die Fachbegriffe aus der Forschung hält beziehungsweise halten muss. Dort wird bezogen auf einen durchschnittlichen Konsens folgendes unter 'Terrorismus' verstanden: 'Es handelt sich um Formen extremistisch-politisch motivierter Gewaltanwendung, die von nicht-staatlichen Akteuren eher politisch schwacher Prägung ausgehen, um mit Anschlägen und Attentaten, also hoher Gewaltintensität, längerfristig und strategisch geplant vorzugehen und damit eine psychische Wirkung auf bestimmte Zielgruppen auszulösen.' Auf die Hamas trifft das Merkmal politischer Schwäche nicht zu. Darüber hinaus ist ihr teilweises terroristisches Agieren, so kann man durchaus formulieren, nur ein Element bei den drei erwähnten Komplexen. Aus der Forschungsperspektive geht es bei derartigen Reflexionen darum, das gemeinte Phänomen hinsichtlich seiner Spezifika und deren Zusammenhang analytisch besser zu erfassen. Journalistische Berichterstattung muss sich über all dies keine genaueren Gedanken machen."

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