Der IS und der Westen

Nicolas Hénins provokative Thesen

BONN. (hpd) Der Journalist Nicoals Hénin, der selbst vom IS entführt worden war, formuliert in seinem Buch "Der IS und die Fehler des Westens. Warum wir den Terror militärisch nicht besiegen können" bezüglich Europas und der USA provokative Thesen zu deren Verantwortung. Es handelt sich mehr um eine essayistische Betrachtung, weniger um eine systematische Erörterung – wobei die mitunter allzu leichtfertig dahingeworfenen Reflexionen sehr wohl inhaltliche Relevanz beanspruchen können.

Der Journalist Nicolas Hénin hat lange Zeit im Irak und Syrien gelebt und von dort aus über die politischen Entwicklungen berichtet. Auch den Aufstieg des "Islamischen Staates" (IS) erlebte er hauptnah – und zwar im doppelten Sinne des Wortes - mit. Denn 2013 entführten Djihadisten Hénin und hielten ihn zehn Monate lang mit anderen westlichen Geiseln in einer Zelle fest.

Bewacht wurde er auch von "Dschihadi John" und gefoltert von Mehdi Nemmouche. Bei dem Letztgenannten handelt es sich um den Attentäter von Brüssel, der 2014 im dortigen Jüdischen Museum vier Menschen erschoss.

Im gleichen Jahr kam Hénin frei und schrieb danach das Buch "Der IS und die Fehler des Westens. Warum wir den Terror militärisch nicht besiegen können". Es handelt sich nicht um einen erwartbaren Bericht über seine Gefangenzeit. Die persönlichen Erfahrungen kommen im Text gar nicht vor. Denn der Autor präsentiert zehn bzw. elf Thesen, die eine Einschätzung zur Entwicklung im Irak und Syrien und zur Verantwortung des Westens vornehmen.

Bereits zu Beginn heißt es: "Das syrische Regime ist nicht laizistisch. Es ist auf Zersplitterung in rivalisierende religiöse Gemeinschaften gegründet. Sein angebliches Ziel, Minderheiten zu verteidigen, ist ein Mythos" (S. 13). Damit macht Hénin auf die Fehlwahrnehmung aufmerksam, wonach nicht-islamische und säkulare Systeme per se weniger problematisch seien.

Deutlich erinnert er daran, dass Menschenrechtsverletzungen der Assad-Diktatur bekannt waren und der Westen drauf nicht genügend reagierte. Der Autor betont danach, dass es bezogen auf die angeblichen Hauptkonfliktparteien gar kein so gespanntes Verhältnis geben würde: "Das syrische Regime hat den Islamischen Staat hervorgebracht. Es bekämpft ihn nicht. Der Islamische Staat bekämpft das syrische Regime ebenso wenig" (S. 27). Darüber hinaus müsse der Blick bezogen auf die Konfliktursachen auch stärker auf ökonomische und soziale Interessen gelenkt werden. Erdölgeschäfte machten beide Seiten. Eine einschlägige und konsequente Politik dagegen vermieden Europa wie die USA als der Westen.

Da heißt es denn auch bezogen auf einen anderen Fall: "Das Nichthandeln, das am meisten Schuld auf sich geladen hatte, war jenes nach dem Chemiewaffenangriff auf Ghouta im August 2013, mit einer Bilanz von 1400 Toten" (S. 73). Hénin erinnert darüber hinaus daran, dass die meisten IS-Opfer eben nicht Europäer, sondern andere Muslime seien.

Das Bemühen um Christen als Minderheit dort, lasse die Folgen für die Mehrheitsgesellschaft aus der Wahrnehmung verschwinden. Der Autor beklagt aber nicht nur Doppelmoral und Versagen westlicher Politik. Er entwickelt auch Ansätze für Handlungsoptionen fern vom Krieg: "Man muss das Vertrauen der Bevölkerungen zurückgewinnen. Der Schutz der Zivilbevölkerung muss Vorrang haben. Lokal denken. Die Wirtschaft nicht vernachlässigen. Das Regierungssystem reformieren" (S. 153). Denn da der Erfolg des IS auch eine Folge der Fehler des Westens sei, komme ihm große Bedeutung für die Überwindung der Widrigkeiten zu. Eine militärische Eskalation wäre weitgehend unproduktiv.

Hénins Betrachtungen sind weder systematisch noch widerspruchsfrei. Er schiebt allzu eilfertig, aber auch nicht unberechtigt den "Schwarzen Peter" dem Westen zu und die von ihm vorgeschlagenen Gegenmaßnahmen sind viel zu allgemein, um daraus direkt ein stringentes Konzept zu entwickeln. Gleichwohl legt der Autor häufig den Finger in die Wunde. Auch wenn er allzu leichtfertig und locker daher reflektiert, hat seine Problemsicht vieles für sich.

Genau dies macht das Buch, das 2015 mit dem "Prix des Géopolitiques de Nantes" ausgezeichnet wurde, lesenswert. Es handelt sich eher um eine essayistische Betrachtung, keinesfalls um eine strukturierte Erörterung. Die berechtigte Forderung nach einer "Stärkung der Sicherheit" (S. 198) ist schnell formuliert, doch in der Gemengelage des Konfliktes nicht einfach so umsetzbar. Beachtenswert sind noch die Ausführungen zu den Flüchtlingen, Hénins macht deutlich, dass deren Diskriminierung in Europa im IS-Strategiekalkül liege. Das hätte er noch deutlicher veranschaulichen können.

Nicolas Hénin, Der IS und die Fehler des Westens. Warum wir den Terror militärisch nicht besiegen können, Zürich 2016 (Orell Füssli), 214 S., ISBN 978-3-280-05628-8, 17,95 Euro