Ingo Schulzes Erzählung "Einübung ins Paradies"

Realsozialistisches Paradies oder Zoopolis?

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Tierpark Berlin, Haupteingang
Tierpark Berlin, Haupteingang

Ingo Schulze hat eine in mehr als einer Hinsicht traumhafte Erzählung über den Berliner Tierpark geschrieben. Hier konnte sie stattfinden: Die Versöhnung zwischen Traum und Phantasie einerseits und realer Vergangenheit andererseits. Wir erfahren Überraschendes von menschlichen und tierischen Parallelwelten, die in Wirklichkeit weit entfernt davon sind, sich zu begegnen, nicht jedoch in der Welt der Phantasie.

Wo fängt die wirkliche Welt an? Wo hört der Traum auf? "… wir unter unseresgleichen, Manatis, Tschaja, Sunda-Gavial, Kiang, Nacht für Nacht, Takin, Takin, Tak, Tak, na …." Worte, ausgerechnet Namen entführen in eine Welt des Traums, denn sie allein schon sind phantastisch.

Eigentlich mochte die Frau in den Fünfzigern mit Ost-Biographie Zoos nicht, eingestellt, wie es sein soll, wollte sie keine eingesperrten Tiere sehen, ebenso wenig wie Boxkämpfe, Parteitage oder Gottesdienste. Aber Anschauungen sind durchlässig wie Zäune. Abends kann im Tierpark eigentlich niemand so genau kontrollieren, ob alle das Areal verlassen, erfährt sie von Pawel. Man könnte bleiben. Unter den Vögeln mit den seltsamen Namen. Unter denen mit den didaktischen Namensschildchen und denen, so erfährt sie, etwa 5.000 Vögel, die freiwillig hier leben, vor allem überwintern, aber auch nisten, weil sie im Berliner Tierpark hinter den Zäunen einen geschützten Raum finden. Wenn das Ingo Schulz schreibt, dann wittert man gleich eine Allegorie auf die DDR-Zäune und -Mauern.

Cover

Seine Erzählung "Einübung ins Paradies" sucht nach dem Blick auf das Tier aus sozialistischer Sicht. Seine Protagonistin findet es vor allem in den Skulpturen. Diese Tiere sind "alle mehr oder minder zahm, bis auf den Säbelzahntiger, aber der ist ja auch ausgestorben".

Sie selbst will eigentlich Schutz vor Joggern und Radfahrern, stillen Raum, den die Parks längst nicht mehr bieten. Wenn sie fast im Affekt eine Jahreskarte kauft, weil in ihr noch die Erinnerung lebendig ist, dass den Tierpark einst viele freiwillige Hände entstehen halfen und er deshalb allen gehört. Dort trifft sie auf Pawel – dessen Söhnchen fällt ihr nach missglückter Klettertour fast in die Arme – und Pawel weiß alles über den Tierpark.

Unschuld ist nirgendwo. Auch auf diesem Gelände hat es ein Zwangsarbeiterlager gegeben, reportiert er. Auch sein Gründungsdirektor Dr. Dr. Dathe war einst in der NSDAP gewesen. Aber er hatte mit dem Tierpark auch den größten Landschaftszoo Europas geschaffen und ihn vor der Abwicklung gerettet. Hier verbrachten Familien ihre Wochenenden, hier gingen sie auch einfach spazieren. Es war ihr Zoo.

Pawel kennt jenen seltsamen Vieraugenfisch, zwei, um über, und zwei, um unter Wasser zu sehen. Und damit beginnt die Melange der Perspektiven, mit dem realen Surrealismus der Natur. Und Pawel weiß um die Lücken im Zaun.

Es sind diese Lücken, die auch die Denkbarrieren durchlässig machen: Mensch und Tier aus ihren Parallelwelten herausholen, jedenfalls für Momente vorstellbar machen. Wo es keine Herrschaft gibt, wirkt und webt die Phantasie – oder ist es umgekehrt? Da mögen einst wirklich Hirsch und Löwe, Mensch und Bär friedlich unter dem Sternenhimmel liegen und träumen. Zoopolis oder realsozialistisches Paradies? Oder wächst so etwas Neues, das wir erst erfinden müssen?

Ingo Schulze: "Einübung ins Paradies", Mit Originalholzschnitten von augen:falter, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2018, 62 S., 20 S., 20,00 Euro