Gerald Kerth – der Forscher über das Sozialleben der Fledermäuse im Interview

Vampire teilen selbstlos

Fledermäuse können in Kolonien von mehr als einer Million Exemplaren leben. Nacht für Nacht fliegen sie in dichten Schwärmen aus, im Süden der USA oder in Baja California in Mexiko. Wie einigen sie sich, wohin sie fliegen? Gerald Kerth von der Universität Greifswald erforscht vor allem die heimische Bechsteinfledermaus und beobachtet an ihr ein in seiner Komplexität nur mit den Primaten und den Delphinen vergleichbares Sozialleben.

Schon als Jugendlicher verschrieb Gerald Kerth sich dem Schutz der heimischen Fledermäuse. Heute ist er Professor für Angewandte Zoologie und Naturschutz. Sein ganzes Leben widmete er den Fledertieren. Er gehört nun zu den weltweit angesehensten Erforschern dieser Tiere. Reisen und ein ausgedehntes Netzwerk erlauben es ihm, über die neuesten Erkenntnisse zu Fledermäusen informiert zu sein, wenn er nicht gerade selbst an ihnen beteiligt ist. Und da kam immer mehr Erstaunliches zutage, wie in seinem soeben erschienenen Buch "Heimlich, still und leise. Die faszinierende Welt der Fledertiere" nachzulesen ist.

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Manche Fledermausart hat sich zum Teil in einer überraschenden Symbiose mit bestimmten Pflanzen entwickelt. Denn viele vor allem tropische Fledertiere – zu denen auch die Flughunde zählen – sind nicht nur Obstesser, sondern einige Fledermäuse saugen Nektar wie die Kolibris. Eine Art nutzt die Blätter der Kannenpflanze als Zuhause und Kinderstube. Es scheint, dass sich daran sogar schon die Pflanzen angepasst haben, indem sie Strukturen entwickeln, die Echolaute besonders gut reflektieren. Profitieren tun die Pflanzen auch, indem der Kot ihnen mineralische Nährstoffe verschafft, und sie daher weniger Insekten fangen müssen.

Andere Fledermäuse haben sich an den Menschen angepasst. Ohne Schutz in unseren Dachböden zu finden, könnten viele Fledermäuse bei uns nördlich der Alpen gar nicht überleben.

Noch viel notwendiger aber ist die gegenseitige Unterstützung bei der Aufzucht der Jungtiere. Weil sie mit 20 Prozent des Gewichts der Mutter zur Welt kommen und von ihr gesäugt werden, bis sie 80 Prozent des Gewichts eines ausgewachsenen Tieres haben, ist sie kräftezehrend und aufwendig. Da die Männchen dazu wenig beitragen können, leben und jagen sie meist abseits. Lebenslange Paarbildungen wie bei den Vögeln oft sind hingegen selten.

Kerth und seine Kollegen konnten beobachten, dass die Weibchen einer Gruppe ihre Jungen gemeinsam aufziehen. So können die Mütter auf Jagd gehen, und die Jungen halten sich gegenseitig warm.

Fledermäuse verständigen sich offenbar über die Qualität von Futtergebieten, auf jeden Fall, das konnte man nachweisen, über die Wahl der Tagesquartiere. Wichtig ist ihnen, dass sie möglichst wenig zugig, nicht wackelig und am liebsten nicht zu laut sind. Über GPS-Daten, die Transponder übermitteln, war erkennbar, dass je nachdem wie akzeptabel die von den Forschern offerierten Angebote waren, sich alle Tiere einer Kolonie oder nur ein Teil von ihnen einfanden, die Tiere aber später wieder zu großen Schwärmen zusammenfanden. Sie leben in Fusion-Fission-Gruppen, gleich den Primaten. Andere Arten schwärmen so lange, bis sich alle einig sind.

Aber die Koordination kann noch weiter gehen, sogar über die Kooperation hinausgehen. Ausgerechnet bei den verfemten Vampiren, die übrigens mit drei Arten nur geschätzt drei Prozent der Fledermäuse ausmachen, wurde eine erstaunliche Beobachtung gemacht: Auch sie leben in Kolonien. Gehen bei ihren nächtlichen Jagden nach Blut einzelne Tiere leer aus, würgen andere ihre Blutbeute zum Teil wieder hervor und füttern damit ihre Gefährten. So viel Selbstlosigkeit lohnt sich offenbar für sie, können sie doch darauf erwarten, umgekehrt auch etwas abzubekommen, wenn sie selbst mit leerem Magen von der Nahrungssuche heimkehren.

10 Jahre hpd

Dies und vieles mehr erfährt man in Kerths in elegant nüchterner Sprache verfasstem Buch und natürlich vieles, was man sich vielleicht schon immer gefragt hat: Warum Fledermäuse nachts fliegen? – Weil sie so weniger Fressfeinde haben. Warum Fledermäuse mit dem Kopf nach unten abhängen? - Weil sie an der Höhlendecke ebenfalls besser vor Feinden geschützt sind und mit weniger Aufwand abfliegen können. Warum ihnen so nicht das Blut zu Kopfe sinkt? - Weil sie ein besonders starkes Herz haben. Warum Fledermäuse so seltsame Nasen haben? - Weil sie ihre Echolotrufe durch die Nase ausstoßen. So können sie gleichzeitig zuschnappen oder fressen. Oder warum Fledermäuse Kulturfolger sind? - Weil sie als Felsbewohner in unseren Bauten einen adäquaten Ersatz finden.

Wir sollten sie schützen. Denn sie befreien uns von Mücken und anderen unliebsamen Insekten. Längst gibt es Fledermausbrutkästen wie Vogelnistkästen im Handel als Ersatz für fehlende Nischen in perfekt wärmegedämmten Häuser, welche die Feldermäuse ihres angestammten Zuhauses berauben. In den Tropen sind die Fledertiere wichtige Bestäuber von Obstpflanzen. Und nach Waldbränden tragen sie durch ihren Flugradius zu einer schnelleren Wiederaufforstung bei als es etwa die Schmetterlinge als Bestäuber täten.

Was haben Fledermäuse einander zu sagen? - Gerald Kerth gibt Auskunft

hpd: Herr Professor Gerald Kerth, Fledermäuse haben eine komplexe Sozialstruktur, aber so schlau sind sie wohl eher nicht, oder anders gesagt, ihr Gehirn ist vergleichsweise klein. So scheint es nicht zu stimmen, dass eine komplexe Sozialstruktur zu Intelligenz oder einer Vergrößerung des Gehirns führt, wie über die Primaten neuerdings angenommen.

Professor Gerald Kerth: Das kommt darauf an, was man unter Intelligenz versteht. Man muss sie ja nicht daran messen, was für uns entscheidende Kriterien sind. Es gilt schon längst nicht mehr diese hierarchische Vorstellung. Außerdem ist diese Theorie so einfach auch schon nicht mehr gültig.

Haben sich die Pflanzen, die besonders von nektarfressenden Fledertieren angesteuert werden, in der Gestalt ihrer Blüten an die Fledermäuse angepasst oder umgekehrt die Fledertiere an deren Gestalt? Wie fing die Geschichte an?

Wie es anfing, kann ich nicht sagen. Auf Blumen spezialisierte Fledermäuse haben verlängerte Schnauzen und eine spezielle Zungenbildung und dazu besondere zuckerverdauende Enzyme. Möglicherweise sind auch die extrem echolotreflektierenden Strukturen der Pflanzen bereits eine Anpassung. Aber so sicher sind wir nicht. Von Fledermäusen angesteuerte Pflanzen sind nachts offen und blühen, wie die Kakteen, an Punkten, die die Fledermäuse leicht ansteuern können, oben an der Spitze. Die von Fledermäusen, die von uns untersucht wurden, besuchte Kannenpflanzenart zeigt aber schon eine gewisse Anpassung, weil sie Reflektoren hat. Wir sprechen von einer Voranpassung oder Paraanpassung, zu einem Austausch durch Interaktion, aber keine so ganz deutlichen Anpassung.

Man hat einzelne Exemplare der Fledermäuse, die sie besuchen, im Versuch röhrenförmige Fallen herunterrutschen lassen und festgestellt, dass die Art, die in den Kannen ruht und ihre Jungen aufzieht, etwas schneller die Röhrchen hinabrutscht als andere, also dort rascher Schutz finden kann. Da mag eine gewisse Anpassung stattgefunden haben, wobei das Ganze wohl über gerollte Blätter angefangen hat.

Wenn die Ausbreitung der Fledermäuse nördlich der Alpen erst durch die Dachkonstruktionen der Menschen möglich wurde, sind dann das Vorkommen, gar Entstehen einiger Arten bis nach Skandinavien hin eine Folge der kulturellen menschlichen Entwicklung und seiner Migrationsbewegungen?

Diese Arten sind im Prinzip Kulturfolger. Es gibt andere, die das nicht sind. Dass Arten nach der Wanderung entstanden sind, das eher wohl nicht. Sie sind mit den Eiszeiten vor und rückgewandert und haben in glazialen Refugien die Eiszeit überlebt.

Wie einigen sich Bechsteinfledermäuse auf ein gemeinsames Tagesquartier, wohin sie ihre Jungen tragen, während sie auf Jagd gehen? Und wie verständigen sie sich, was können sie einander "sagen"?

Tropische Fledermäuse, Flughunde kommunizieren definitiv über Futtergebiete. Sie tauschen sich darüber aus, wo viele Insekten sind.

Professor Gerald Kerth, Foto: © Universität Greifswald
Professor Gerald Kerth, Foto: © Universität Greifswald

Die von uns beobachtete Bechsteinfledermaus tut das nicht. Da untersuchen wir gerade, wie in den Mutter-Kind-Kolonien die Weitergabe des Wissens an die Nachkommen erfolgt. Wir vermuten, dass sie, wenn sie frisch flügge sind, ein paar mal mitfliegen. Messen kann man die Flugbewegungen dann noch nicht, weil man die ersten Flüge noch nicht mit einem Transponder verfolgen kann. Der wäre viel zu schwer und würde zu viel Schaden anrichten.

Bei Tagesquartieren ist das anders. Da konnten wir feststellen, haben die Tiere ein Interesse daran, dass möglichst viele Tiere zusammenbleiben, damit sie sich gegenseitig wärmen und die Jungtiere nicht auskühlen. Hier nehmen wir an, dass sie sich wechselseitig führen, ob durch Rufe oder durch Nachfliegen. Die Tiere hören einander ja auch durch ihre Echolotrufe.

Warum jagen die Männchen der Zweifarbenfledermaus in schlechteren Nahrungsgebieten als die Weibchen? Werden sie verjagt, sind sie "gentlemen" oder ergibt sich das automatisch dadurch, dass Männchen und Weibchen sich in getrennten Schwärmen bewegen und sich außer anlässlich der Paarung eben nichts zu sagen haben, d. h. schlicht nicht miteinander kommunizieren?

Dass sie sich vertreiben, ist unwahrscheinlich. Eher geht es zu wie an einer Supermarktkasse. Man sieht, dass die Kassen eins und zwei eine lange Schlange haben und dass die von drei und vier weniger lang ist, dann aber auch, wie schnell sich die Kassenschlangen bewegen, und entsprechend verhält man sich.

Die Fledermausweibchen sind in der Not, besonders energiereiche Nahrungsquellen aufzusuchen und nicht durch lange Wege Energie zu verlieren, denn sie müssen ja zwei, sich und das Nachwuchstier, damit ernähren. Die Männchen weichen in andere Gebiete aus. Wie das geschieht, können wir nicht so leicht beobachten wie die Ornithologen, die ja meist tagsüber arbeiten können. Es ist wahrscheinlicher, dass sie einander einfach hören und ausweichen, als dass sie sich aktiv vertreiben.

Haben die Forscher schon eine Ahnung von der Sprache, der "Grammatik", vielleicht der Echolotfrequenzen, mit der sich Fledertiere etwas über Jagdgebiete mitteilen, leer ausgegangene Vampire es erreichen, dass Koloniegenossen ihnen etwas von ihrer Blutbeute abgeben, indem sie etwas davon wieder hervorwürgen, oder wie Fledertiere darüber abstimmen, welches Gebiet der Schwarm für den nächsten Jagdzug konkret ansteuert? Oder lesen wir das allein aus den Flugbewegungen per Transponder, Lichtschranken und GPS ab? Wie können wir uns diese Verständigung vorstellen?

Darüber kann man noch relativ wenig sagen. An Flughunden beobachtete man schon komplexe Gesänge. Wir wissen aber nicht, ob Fledermäuse einander aktiv sagen können: 'Folge mir'. Es ist wahrscheinlicher, dass die Echostruktur eine Erkennung zulässt in dem Sinne: Dieses Tier gehört zur eigenen Kolonie. Vergleichbar wären dann diese Gesänge eher mit lokalen Dialekten bei den Menschen.

Herr Professor Kerth, vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Simone Guski für den hpd.

Gerald Kerth: "Heimlich, still und leise. Die faszinierende Welt der Fledermäuse." Herbig Verlag München 2016, 303 S. 22,95 Euro