Kommentar

"Woran liegt es, dass wir noch immer Barbaren sind?"

"Es gibt nichts Reales, auf das sich eine nationale Identität beziehen kann. Nationen existieren nur in Köpfen derjenigen, die an sie glauben. Nationale Identität ist ein Hirngespinst", schreibt Markus C. Schulte von Drach. Für ihn ist sie ein identitätsstiftendes Programm der Gegenaufklärung: "Die Vorstellung der Gegenaufklärer von einer Nation bot gerade auch den durch Aufklärung und revolutionäre Bewegungen bedrohten Herrscherhäusern eine großartige Gelegenheit: Sie definierten ihre Reiche zu Nationen im Sinne historisch legitimierter Schicksalsgemeinschaften um und richteten einen 'offiziellen Nationalismus' ein, etwa über die Einführung von Landessprachen." So verständlich das Bedürfnis nach einer nationalen Identität auch sei, über ihre Gefährlichkeit dürfe man nicht hinwegsehen: "Sie enthält klare und wertende Abgrenzungen anderen gegenüber, was heute etwa Flüchtlinge in Europa zu spüren bekommen, auch in Deutschland. Und sie birgt das Risiko, dass Menschen sich in einen Wahn hineinsteigen, in dem sie eine Nation, ein Vaterland, Blut und Boden oder eine Überlieferung für heilig halten. Auf diesem fruchtbaren Boden konnten und können Verführer wie Adolf Hitler ihre Saat aufgehen lassen", so Schulte von Drach treffend.

Denk- und Handlungsräume der Aufklärung 

Der Aufklärung mangelte es nie an guten Argumenten. Ihr Wahlspruch, "Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!", ist bis heute ungebrochen. Dennoch besitzen gegenaufklärerische Projekte auch in diesen Tagen eine verführende Anziehungskraft. 

Die Gründe dafür sind vielschichtig. So ist die Welt in der wir leben, eine komplexe, ungerechte Welt im stetigen Wandel. Ihren Anforderungen gerecht zu werden, ist ein Unterfangen, dem sich jede Generation auf ihre Weise zu stellen hat. Religionen und Ideologien bieten eine Möglichkeit, sich dieser Verantwortung zu entziehen. Sie verkaufen sich als Inseln der Geborgenheit in einem Meer der Unübersichtlichkeit. Der anstrengende Prozess der Aufklärung erscheint dagegen weitaus weniger attraktiv. Er kommt aufgrund seiner kritischen Rationalität niemals zur Ruhe. Denn die Aufklärung ist eine permanente Gratwanderung zwischen Fundamentalismus und Beliebigkeit. Um diese zu meistern, erfordert es Bescheidenheit und zugleich aufrechten Gang. 

Nicht zuletzt fehlte es lange Zeit an Bildern, Geschichten und Tönen, welche die Vorstellungen und Überzeugungen der Aufklärungsbewegung sinnlich zugänglich machten. Es war Friedrich Schiller, der sich dieser Problematik bewusst wurde und dem Ästhetischen eine wesentliche Bedeutung für das Politische zusprach. Das Wagnis der Aufklärung würden die Menschen nämlich nur eingehen, wenn sie charakterlich veredelt seien. In seinen Briefen "Über die Ästhetische Erziehung des Menschen" kam Schiller zu folgendem Schluss:

"Nicht genug also, daß alle Aufklärung des Verstandes nur insoferne Achtung verdient, als sie auf den Charakter zurückfließt; sie geht auch gewissermaßen von dem Charakter aus, weil der Weg zu dem Kopf durch das Herz muß geöffnet werden. Ausbildung des Empfindungsvermögens ist also das dringendere Bedürfnis der Zeit, nicht bloß weil sie ein Mittel wird, die verbesserte Einsicht für das Leben wirksam zu machen, sondern selbst darum, weil sie zu Verbesserung der Einsicht erweckt."

Schillers Gedanken haben nichts an Aktualität verloren. Die Kunst kann dazu beitragen, Gewohnheiten und traditionelle Wahrnehmungsmuster zu durchbrechen. Mit ihr werden neue Denk- und Handlungsräume geöffnet. Dies ist der Grund, warum von Künstlern wie Pjotr Pawlenski oder Aktionskunstgruppen wie "Pussy Riot" und dem "Zentrum für politische Schönheit" eine gewaltige Provokation ausgeht. Sie halten der Gesellschaft den Spiegel vor und zwingen sie zum Handeln.