Immer wieder wird den Klimakämpfern rund um Greta Thunberg ein mangelndes Demokratieverständnis vorgeworfen. Demokratie stehe bei Fridays for Future nicht hoch im Kurs, titelte die Welt zuletzt 2019. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier warnte die Aktivisten gar vor einem Schlechtreden der Demokratie. Hat die Bewegung also ein Demokratieproblem? "Nein", sagt die Mitorganisatorin der Klimastreiks Carla Reemtsma (22) im Interview mit der Initiative Gesichter der Demokratie und erklärt, warum Klimaschutz intakte Demokratien braucht und wieso das, was Joe Biden vorschlägt, nicht ausreicht.
Initiative Gesichter der Demokratie: Liebe Carla, bei uns dreht sich logischerweise alles um Demokratie, daher unsere erste Frage an Dich: Was bedeuten Demokratie und demokratische Werte für Dich ganz persönlich?
Carla Reemtsma: Demokratie bedeutet für mich die Gleichberechtigung aller Bürgerinnen und Bürger. Demokratie bedeutet, dass jeder Mensch die Freiheit hat, so zu leben, wie sie oder er es möchte. Sie ermöglicht die Teilhabe aller an sämtlichen Formen des gesellschaftlichen Lebens. Für mich sind gleiche Rechte, Chancen und Zugänge das Wichtigste in einer Demokratie.
Lass uns über Klimaschutz reden. Das arktische Meereis schmilzt rasant wie nie, im Amazonas wüteten 2020 mehr Waldbrände als im Katastrophenjahr zuvor. Ist das 1,5-Grad-Ziel noch zu schaffen? Was muss jetzt passieren?
Die Einhaltung des 1,5-Grad-Zieles wird eine gigantische menschliche Herausforderung – das war aber bereits beim Abschluss des Pariser Klimaabkommens 2015 klar. Was wir jetzt tun müssen, ist nicht nur Klimaziele zu formulieren, sondern endlich Maßnahmen zur Emissionsreduktion zu ergreifen. Die Politik muss endlich den gesetzlichen Rahmen hierfür schaffen. Wir brauchen jetzt Maßnahmen wie einen schnelleren Kohleausstieg, den Ausbau der erneuerbaren Energien, die Reduktion des Autoverkehrs und Investitionen in eine "echte" Verkehrs- und Agrarwende. Diese Transformation muss jetzt beginnen – das ist ganz wichtig!
Aber meinst Du, wenn wir jetzt damit beginnen, wäre das 1,5-Grad-Ziel noch zu schaffen, oder ist das ohnehin schon illusorisch?
Natürlich wird es eine immense Herausforderung – das steht außer Frage. Aber die technische Machbarkeit ist wissenschaftlich bestätigt. Dafür müssen aber jetzt die genannten Transformationsprozesse angestoßen werden. Hinter jedem Zehntel Grad Erderwärmung stehen am Ende menschliche Existenzen. Es ist Unsinn zu sagen: "Wenn wir das 1,5-Grad-Ziel nicht schaffen, dann kämpfen wir jetzt eben um 2 Grad." Denn eine 1,6 Grad heißere Welt ist immer noch eine bessere, als eine 2 Grad heißere und schützt mehr Menschenleben.
Joe Biden wird neuer US-Präsident und folgt damit auf den "Paris-Aussteiger" Donald Trump. Wie hast Du vom Wahlsieg Bidens erfahren und was genau bedeutet dieser für den Klimaschutz?
Erfahren habe ich davon über Berichte in den Medien – das Ganze hat sich ja ziemlich hingezogen. Den Klimaschutz betreffend hatten die Amerikaner die Wahl zwischen einem Kandidaten, der aktiv gegen den Klimaschutz arbeitet und einem, der sich zumindest dazu bekennt. Auf jemanden, der erkannt hat, dass Klimaschutz im Zusammenspiel mit sozialer Gerechtigkeit sehr gut "funktionieren" kann, lässt sich aufbauen. Zumindest deutlich besser als auf jemanden, der den Klimawandel leugnet. Von daher ist der Wahlsieg von Joe Biden auf jeden Fall ein Fortschritt. Klar ist aber auch: Das, was Joe Biden vorschlägt, reicht nicht aus!
Du bist Mitorganisatorin und prominentes Gesicht der "jungen" Klimaschutzbewegung Fridays for Future. Wie politisch ist Deutschlands Jugend und wie viel Protest braucht eine Demokratie?
Deutschlands Jugend ist - entgegen der landläufigen Meinung - erstaunlich politisch. Wir sehen die starke politische Beteiligung in Jugendorganisationen oder auch in Form von Protestbewegungen wie Fridays for Future. Protest ist für eine Demokratie in vielerlei Hinsicht wichtig und notwendig. Protest ist immer auch ein Korrektiv für diejenigen, die in einem parteipolitischen System oder in Institutionen nicht vertreten sind. Protest ist ein Minderheitenschutz und - so wie Journalismus auch - ein ganz relevantes Korrektiv für die Institutionen, die natürlich auch durch Gewaltenteilung ihre eigenen Korrekturmechanismen haben.
In einem Interview sagtest Du: "Kompromisse funktionieren in der Klimakrise nicht." Können Demokratien den Klimawandel dann überhaupt effektiv bewältigen oder sind autoritäre Regime hier im Vorteil?
Das Zitat muss im Kontext betrachtet werden. Das Pariser Klimaabkommen und somit die Einigung auf das 1,5-Grad-Ziel ist ja bereits ein Kompromiss. Ein gigantischer Kompromiss der Menschheit mit sich selber. Es ist ein Kompromiss zwischen den Verursacherländern im globalen Norden und den Ländern im globalen Süden – also denjenigen, die unter den Folgen der Klimakrise leiden. Schlussendlich ist es ein Kompromiss, der über nichts geringeres als unsere Lebensgrundlage entscheidet. Was wir nicht machen dürfen – und darauf bezog sich mein Zitat aus Ihrer Frage – ist, mit dem Pariser Klimaabkommen selbst wieder Kompromisse einzugehen. So nach dem Motto: Wir würden doch lieber ein Ziel von 3 Grad Erwärmung anstreben, 1,5 Grad waren festgeschrieben, machen wir halt 2 Grad daraus. Das darf nicht passieren.
Autoritäre Regime sind aber keine Option, um die Klimakrise zu bekämpfen. Für Klimaschutz brauchen wir intakte Demokratien. Fridays for Future ist demokratisch, wir denken und handeln demokratisch – das gilt ebenso für mich persönlich. Die USA unter Donald Trump aber auch Brasilien unter Jair Bolsonaro sind gute Beispiele dafür, dass populistische und autoritär regierende Regime im Zweifelsfall den Klimaschutz als allererstes abschreiben. Deswegen: Wir brauchen Demokratien, wir brauchen Zivilgesellschaft. Wir brauchen das Demonstrationsrecht und die Möglichkeit des Protests – damit unsere Forderungen nach Klimagerechtigkeit gehört werden können.
Das Corona-Jahr 2020 war auch für Fridays for Future herausfordernd. Klimastreiks: Nicht möglich. Inwieweit können digitale Proteste das "Wir-Gefühl" der Straße ersetzen? Wie soll’s weitergehen?
Digitale Proteste sind natürlich nicht mit denen auf der Straße vergleichbar. Das ist ein ganz anderes Gefühl. Aber wir befinden uns inmitten in einer Pandemie – und da ist eigentlich so gut wie alles irgendwie anders. Dennoch erleben wir, dass insbesondere in Zeiten, in denen wir persönliche Kontakte vermeiden, auch digitale Proteste ein "Wir-Gefühl" erzeugen. Ein Gefühl, nicht alleine zu sein im Kampf für mehr Klimagerechtigkeit. Ein Gefühl, trotz Corona eine geeinte Bewegung zu sein, die zusammensteht und weiterkämpft.
Klar wünschen wir uns auch wieder Proteste auf den Straßen, wenn die Zahlen es zulassen. Mit Abstand und mit Masken. Im Herbst haben wir gezeigt, dass auch große Klimaproteste verantwortungsbewusst im Sinne der Versammlungsfreiheit durchgeführt werden können. Wann und wie es weitergeht hängt auch davon ab, wie sich die pandemische Lage 2021 entwickelt.
Liebe Carla, gerne möchten wir abschließend etwas Persönliches über Dich erfahren: Hast Du mittlerweile die Fragestellung für Deine Abschlussarbeit ausformuliert und was möchtest Du nach dem Studium tun?
Tatsächlich ist sie fast fertig. Der Titel lautet: "Mechanismen zur Verwaltung von Allmendegütern – Chancen und Herausforderungen in intergenerationalen Situationen". Allmendegüter sind begrenzte Ressourcen, auf die viele Menschen Zugriff haben. Ressourcen wie beispielsweise Fischbestände, Ölvorkommen, unsere Atmosphäre oder Biodiversität. Wir haben es hierbei mit einem komplexen Problem zu tun, für das bislang keine universelle Lösung existiert. Der schnelle Ruf nach mehr Privatisierung oder Verstaatlichung wäre jedenfalls zu kurz gedacht.
Was ich nach dem Studium machen möchte, kann ich derzeit noch nicht genau sagen. Ich kann mir gut vorstellen meinen Master zu machen. Auf alle Fälle werde ich mich weiterhin als Aktivistin engagieren.
In die Politik möchtest Du nicht?
Politik ist ein breites Feld – Parteipolitik ist jedenfalls nichts für mich!
Vielen Dank für das Interview Carla!
10 Kommentare
Kommentare
A.S. am Permanenter Link
"Für mich sind gleiche Rechte, Chancen und Zugänge das Wichtigste in einer Demokratie." - so Carla Reemtsma. Ist das nicht zu wenig? Bei Politik geht es um Macht.
Zum Klimaschutz: Keine Regierung kann im Alleingang das Klima schützen. Das 1,5°C-Ziel kann nicht mehr als eine Absichtserklärung sein, zu erfüllen von allen gemeinsam und für ein eventuelles Scheitern kann man schwerlich alle gemeinsam verantwortlich machen.
Die Streiterei um die Gradzahlen ist in mein en augen reine Symbolpolitik. Handfest wäre:
- zunächst eine gemeinsame Erklärung über die (nach bestem Wissen und Gewissen) Ursache der Klimaveränderung (nach Stand der Wissenschaft der steigende CO2-Anteil in der Atmosphäre und anderer Gase wie z.B. Methan)
- dann Vereinbarungen über die Reduktion der sogenannten Treibhausgase mit Zielfestlegungen für jeden Staat.
Wie ein jeder Staat dieses Ziel erreicht ist der lokalen Politik überlassen.
Für die jeweiligen Regierungen gibt es dann aber ein Problem: Was macht sie, wenn die eigene Bevölkerung nicht will?
Muss sie die international gemachten Zusagen gegen den Willen der eigenen Bevölkerung durchsetzen? Ist das dann noch demokratisch?
Mir erscheint, dass die demokratietheoretischen Fragen im Zusammenhang mit internationalen Vereinbarungen insgesamt (Klima, TTIP, GATT, ...) ungenügend diskutiert sind.
Hans Trutnau am Permanenter Link
Das Handfeste ist ja in etwa mit Paris 2015 festgelegt.
Aber gut gefragt, Anja Sander:
"Was macht sie ...", die Regierung?
Nix (noch).
A.S. am Permanenter Link
Allen Regierungen in dieser Welt, nicht nur der unserer, ist der Macherhalt heute wichtiger das das Klima in 20 Jahren.
Nur Kiddies aus reichen Elternhäusern, die sich um ihr Überleben in den kommenden Wochen keine Gedanken machen brauchen, machen sich Sorgen um das Weltklima.
Nicht schön, aber so ist die Welt.
Wer will, dass sich mehr Menschen Sorgen machen um das Klima in 20 Jahren, muss erst einmal dafür sorgen, dass immer mehr Menschen sich keine Sorgen um ihr unmittelbares Überleben machen müssen. Erst dann haben sie überhaupt die Möglichkeit, längerfristig, über den morgigen Tag hinaus zu denken.
Hans Trutnau am Permanenter Link
"Nur Kiddies aus reichen Elternhäusern", Frau Sander? Fürchte ich nicht.
David Z am Permanenter Link
"Was macht sie ...", die Regierung?
Nix (noch)."
Die Behauptung ist nachweislich unwahr. Manche würden sogar sagen, die Regierung macht viel zu viel in der Sache.
Hans Trutnau am Permanenter Link
>Wenn in der Vergangenheit Weichen falsch gestellt wurden, dann biete die Demokratie die Möglichkeit, diese falschen Weichenstellungen zu korrigieren, rief der Bundespräsident in Erinnerung.
Kleiner geredet, Herr BuPrä Steinmeier, ja?
Dann macht das offenbar auch Schellnhuber in seinem Buch 'Selbstverbrennung' mit der Forderung nach "einer globalen sozialen Bewegung", wenn er "die vertikale Komplizenschaft der Verantwortungsverweigerung" anprangert (zit. aus: https://hpd.de/artikel/selbstverbrennung-schroff-18589)? Wohl kaum; denn:
Die derzeit herrschende Demokratie hat es bisher in keiner Weise geschafft, die "falschen Weichenstellungen zu korrigieren", weil sie sich systemimmanent intern blockiert. Sie hat es noch nicht einmal geschafft, ein simples generelles Tempolimit zu verabschieden.
Dazu benötigt es ganz offensichtlich *direkte* Demokratieformen, z.B. Demonstrationen globaler sozialer Bewegungen wie Fridays for Future.
Aber "Apokalypse lähmt", Herr BuPrä Steinmeier, ja?
Das verkennt, dass wir bereits mitten drin sind in der Apokalypse!
Was ich anmahnte (in: https://hpd.de/artikel/homo-oeconomicus-vs-oekonologische-revolution-17590), ist ja längst Fakt - der Anstieg der CO2-Konzentration der Atmosphäre geht munter weiter (vgl.: https://sioweb.ucsd.edu/programs/keelingcurve/wp-content/plugins/sio-bluemoon/graphs/mlo_two_years.png). Keine Korrektur, nix.
Wir alle werden aber alsbald merken, dass sich die jüngeren Generationen ihre Zukunft nicht weiter stehlen lassen werden. Ob wir wollen oder nicht.
Michael Schneider am Permanenter Link
Apokalypse? Monsieur belieben zu scherzen! Mal hier nachschauen: http://www.zeno.org/Brockhaus-1911/A/Kohlensäure
Es hat sich seit 1911 nahezu nichts geändert, was den CO2-Gehalt der Luft angeht. Das krampfartige Festhalten an Nachkommastellen z.B. "jetzt schon 407,5 ppm" ist unwissenschaftlich.
Wir benötigen direkte Demokratie durch das Volk, nicht durch undemokratrische NGos, z.B. aufgehetzte Schüler oder abgebrochene Studenten, um die eklatanten Fehlentwicklungen der Politik stoppen zu können. Dieses Land sähe deutlich anders aus, wenn das Volk auch außerhalb der Wahlen mitreden könnte. Genau deswegen wird dies seit Jahrzehnten hintertrieben.
Hans Trutnau am Permanenter Link
Kohlendioxyd? Seit 1911 nichts geändert?
Disqualifiziert.
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
ob wir wollen oder nicht, und das ist gut so, wenn die alten nicht in der Lage sind es zu richten, dann muss eben die Jugend ran denn diese betrifft es vehement was die alten verbockt haben.
David Z am Permanenter Link
Klingt alle sehr nett, in der Praxis sieht es dann doch nicht so demokratisch aus. Erinnert an andere Ideologien...