Der Weltweite Tag der Genitalen Selbstbestimmung (WWDOGA) setze in diesem Jahr ein Zeichen dafür, dass die pandemiebedingten Einschränkungen der vergangenen zwei Jahre nicht nur kein Ende der Intaktivismus-Bewegung eingeläutet haben, sondern, dass die Entwicklung neuer Formate dem Aktionstag wesentliche Impulse zur internationalen Vernetzung sowie die Ansprache eines breiter aufgestellten Publikums eingebracht hat.
Das etwa zwölfstündige Programm mit vielfältigen Videobeiträgen wurde um die Mittagszeit für knapp zwei Stunden unterbrochen, um die Kundgebung aus Köln live zu übertragen.
Die Redner*innen kamen aus Deutschland, Dänemark, dem Vereinigten Königreich, den USA und der Schweiz. Neben der Freude über das 10-jährige Jubiläum stand sehr deutlich im Vordergrund, dass nun langsam etwas geschehen müsse. Victor Schiering (MOGiS e. V.) beispielsweise nahm die Politik in die Pflicht: "Die Zivilgesellschaft hat vorgelegt, seit nunmehr 10 Jahren – es ist an der Zeit, dass die Politik tätig wird." Die deutsche Gesetzgebung, die abhängig vom genitalen Erscheinungsbild des jeweiligen Kindes unterschiedlich starken Schutz vorsehe, sei gerade deshalb angreifbar und böte somit keinen ausreichenden Schutz, auch nicht für Mädchen.
Prof. Dr. Godula Kosack (Terre des Femmes e. V.) betonte, dass Genitalverstümmelung kein Kulturgut, sondern eine Menschenrechtsverletzung darstelle und es nicht nur unser Recht, sondern vielmehr unsere Pflicht sei, nicht nur fremde Kulturen, sondern auch unsere eigene (westliche) Kultur kritisch zu hinterfragen. Die feministische Bewegung habe hier schon viel erreicht, aber vom Ziel der körperlichen Unversehrtheit aller Kinder in der ganzen Welt sei man noch weit entfernt. Die Gesetzgebung gegen FGM (Female Genital Mutilation) etwa wirke zwar als Abschreckung, doch werde die Praktik überall, wo sie verboten sei, dennoch ausgeführt.
Lena Nyhus von Intact Denmark führte eine lange Liste mit Vorschlägen an, was jede*r Einzelne tun könne, um die Forderungen des Welttags umzusetzen. Unter dem Motto "Handeln statt Verzweifeln" machte sie sich insbesondere für Aufklärung und Forschung stark.
Ute Wellstein (BAG Säkulare Grüne) monierte die noch immer bestehenden Privilegien der Kirchen und Religionsgemeinschaften, die mit Grundrechten nicht vereinbar seien – erst recht deshalb, weil die Mehrheit in unserem Land inzwischen die Gruppe der Glaubensfreien darstelle. In unseren Gesetzen müsse sich das auch endlich niederschlagen.
David Smith (15 Square, UK) nannte das "Cologne Ruling" einen wichtigen Schritt, der die Diskussion in Gesellschaft und Medien im Vereinigten Königreich ins Rollen brachte.
Ephraim & Manasseh Seidenberg schilderten ihren persönlichen Weg von der Erkenntnis darüber, wie sehr die rituelle jüdische Beschneidung ihr Leben negativ beeinflusst habe, bis hin zur Gründung ihres eigenen Vereins (prepuce.ch). Über das eigene Genital und dessen Verletzlichkeit endlich sprechen zu können, sei für sie auch ein Aspekt genitaler Selbstbestimmung. Die Intention des 7. Mai fassten sie pointiert zusammen: "Eigentlich sollte es nicht genitale Selbstbestimmung heißen, sondern genitale Selbstverständlichkeit."
Der Stream der Kundgebung kann bei YouTube angeschaut werden.
Am Abend gab es zum Ausklang des WWDOGA eine weitere Veranstaltung vor kleinem Publikum. Das PATHOS München (Spielort für Freies Theater im Kreativquartier) hatte unter dem Titel "Ganz heißt: ALLES!" zu einem kommentierten Filmabend mit anschließender Diskussion geladen. Auf dem Programm stand der Dokumentarfilm "In Search…", in dem Beryl Magoko – als Mädchen in Kenia genitalverstümmelt – ihren Weg hin zur Entscheidung für eine Rekonstruktions-OP erzählt. Der 90-minütige Film stellte sich dabei nicht nur als eine gelungene Mischung aus Dokumentation und Kunstwerk dar, es gelingt der Regisseurin und Protagonistin gleichsam, den Fokus vom Schrecken über das unvorstellbare Leid, welches FGM bis heute auf der ganzen Welt anrichtet, hinzulenken zu den Porträts einer Reihe beeindruckender, starker Frauen.
Die Moderatorin Gislinde Nauy hatte den Abend als eine Veranstaltung aus geschlechterübergreifender Perspektive konzipiert und so wurden in der anschließenden Diskussion neben der Rekonstruktions-OP für Frauen weitere Wege der genitalen Selbstbestimmung vorgestellt. Nancy Moraa, die selbst im Film auftrat, bestätigte dabei, dass nicht nur die Möglichkeit einer OP, sondern auch der künstlerische Umgang mit diesem schwierigen Thema, wie etwa in einem Film, ein wesentlicher Schritt auf dem Weg zu Selbstbestimmung und Selbstermächtigung sein könne. "Wir müssen das Schweigen beenden und über FGM sprechen. Mit einem Film wie diesem kann man das Eis leichter brechen, als wenn man es nur mit Worten versucht."
Lilith Raza, die als Junge in Pakistan "beschnitten" wurde, beschrieb die Transition zur Frau und einer weiblichen Identität ebenso als einen Akt der Selbstbestimmung. Über ihre eigene Genitalverstümmelung als Kind und die damit verbundenen Gefühle konnte sie erst sprechen, nachdem sie eine Frau wurde – so tief säßen die Rollenmuster, die man aufgrund des Genitals bis heute zugewiesen bekäme. Von einem Mann würde noch immer erwartet, stark zu sein und keine Emotionen zu zeigen. Seit sie als Frau lebe, werde sie selbst von Menschen, die sie zuvor schon kannten, anders wahrgenommen und es werden ihr wesentlich mehr Gefühle zugestanden.
Muhammet Savci, Entwickler neuartiger Wiederherstellungsgeräte für Männer nach Vorhaut-Verlust, erklärte die grundlegende Technik des Restorings. Durch jahrelanges tägliches Unterdrucksetzen beziehungsweise Dehnen der verbliebenen Haut würde Zellwachstum angeregt und mit einiger Disziplin ließen sich Ergebnisse erzielen, die zumindest oberflächlich einer intakten Vorhaut ähneln. Es wurde plausibel, dass viele Männer stark unter MGM (Male Genital Mutilation) litten, da es sonst keinen Markt gäbe für Produkte, die man jahrelang täglich tragen müsse, um sich ein Stück wenigstens des äußeren Erscheinungsbildes und den Schutz durch die Vorhaut wieder zurückzugewinnen.
Insgesamt wurde ein informativer Abend geboten, der nicht zuletzt dank des respektvollen Umgangstons der Beteiligten unter- und miteinander aus Publikumssicht sehr gut aufgenommen wurde. Im Konzept der geschlechterübergreifende Perspektive wurde die Kernforderung des WWDOGA nach dem Schutz für alle Kinder (unabhängig auch vom Geschlecht) deutlich. Selbst für ein kleines Haus wie das PATHOS München war jedoch nicht zu übersehen, dass das Thema entweder kein großes Publikum anspricht oder die Kultur, insbesondere die sogenannte Freie Szene, weiterhin unter den Folgen der Corona-Pandemie leidet.
6 Kommentare
Kommentare
Ulf Dunkel am Permanenter Link
Vielen Dank für die Feststellung, dass die Beschneidungsdebatte nicht verstummt ist - im Gegenteil.
Hans Trutnau am Permanenter Link
Was heißt hienieden schon Selbstverständlichkeit? Traurig.
A.S. am Permanenter Link
Egal ob Schwangerschaftsabbruch, Organspende, Impfpflicht oder die Genitalien: Mein Körper gehört mir!
SG aus E am Permanenter Link
Ute Wellstein (BAG Säkulare Grüne): ..., weil die Mehrheit in unserem Land inzwischen die Gruppe der Glaubensfreien darstelle. In unseren Gesetzen müsse sich das auch endlich niederschlagen.
Was ist denn das für eine Begründung?! Als wollte sie die Diktatur der Mehrheit – statt offener Gesellschaft, in der Menschen nach eigener Entscheidung* leben können. Ich sehe bei einigen Aktivist/inn/en des politischen Säkularismus ein erschreckendes Maß an Ambiguitätsintoleranz – man könnte es auch ideologischen Provinzialismus nennen.
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*) "eigene Entscheidung" bezieht sich hier auf das Recht der Eltern, ihre Kinder nach ihrer Weltanschauung bzw. Religion zu erziehen.
Petra Pausch am Permanenter Link
"...die Diktatur der Mehrheit..." Das, Herr oder Frau SG, nennt man übrigens Demokratie. Schon mal davon gehört?
SG aus E am Permanenter Link
Petra Pausch: „Das [...] nennt man übrigens Demokratie.“
Oder Ochlokratie (1). Da bestimmt auch die Mehrheit. Wie im Jahr 1933, als man endlich die erforderliche Mehrheit für das lang ersehnte Schächtverbot zusammenbekam. Das hatte natürlich überhaupt nichts mit Antisemitismus zu tun – war nur Tierschutz (2).
Um eine Diktatur der Mehrheit zu verhindern, gibt es in demokratischen Staaten Verfassungen, die die Rechte der Mehrheit (!) beschränken (3). Was vielen nicht klar zu sein scheint: Geschützt wird dabei immer, was die Mehrheit nicht gut findet. Im weltanschaulich neutralen Staat weiß man eben nie genau, welche Wahrheit die richtige ist. Darum bekommen alle die Chance, nach ihren Anschauungen zu leben. Und so muss man es eben aushalten, dass die Nachbarn ihre Kinder anders erziehen als man selbst.
Wie also gemeinsam damit umgehen, wenn einigen nicht gefällt, was andere tun oder lassen?
Bei einer anderen Streitfrage, der Abtreibung, plädieren viele – ganz im Sinne unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung – gegen das Verbot und für die Freiheit: Niemand wird gezwungen abzutreiben; wer sich aber dafür entscheidet, soll es tun können. Warum also nicht der gleiche freiheitliche Ansatz auch bei den Themen, die Juden und Muslime betreffen?
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(1) https://de.wikipedia.org/wiki/Ochlokratie
(2) https://de.wikipedia.org/wiki/Tierschutz_im_Nationalsozialismus#Schlachten
(3) vgl. https://verfassungsblog.de/schweiz-diktatur-der-mehrheit/