Humanistik in Zeiten der Krise

Praxis des Humanismus

Die für mich anregendsten Beiträge des Tages kamen von der in Belgien „Humanistik“ lehrenden Prof. Dr. Gily Coene und von Ulrike Dausel vom Provinzialen Zentrum Moralischer Dienstleistungen (PCMD). Die beiden berichteten aus der Praxis. Während Prof. Dr. Coene den Schwerpunkt ihres Redebeitrages auf die Umsetzung der „Humanistik“ als universitäres Lehrfach setzte, sprach Frau Dausel über ihre Erfahrungen bei der „humanistischen Lebensberatung“ (siehe auch hier).

„Was unterscheidet eine humanistische Lebensberatung von zum Beispiel psychologischer Beratung?“

Diese Frage wurde vor allem auch noch in der Pause ausführlich diskutiert. Ich fand dabei die Antworten richtig und wichtig: Zum Einen ist es ein Unterschied, ob man psychisch erkrankt sich an einen Arzt wendet oder sich in verschiedenen Lebenssituationen an einen Lebensberater wendet. Frau Dausel sagte zudem, dass der Lebensberater den Ratsuchenden nicht versucht, zu heilen oder in irgendeine Richtung zu drängen. Sondern neben ihm steht, völlig gleich, wofür er sich entscheiden wird. Hierin unterscheidet sich die Aufgabe des Lebensberaters grundlegend von der eines Psychologen. Aber auch – aufgrund des völlig anderen Menschenbildes, das der Beratung zugrunde liegt - von den „Ratschlägen“ eines konfessionellen Beraters.

An dieser Stelle möchte ich auch noch einmal darauf hinweisen, dass auch der HVD Berlin eine ähnliche Beratung anbietet.

Praxis und Theorie

Leider sind diese Berichte aus der Praxis bei den versammelten Geisteswissenschaftlern nicht immer auf Verständnis gestoßen. Zwischen den Erfahrungen aus der täglichen Basisarbeit und der Theorie scheint es leider einen tiefen Graben zu geben. Das ist sehr zu bedauern, hat doch Frau Dausel deutlich gemacht, dass die Praxis von den Forschungsergebnissen des Humanistik-Lehrstuhles profitiert. Und umgekehrt. Möglich, dass es – um das auch in Berlin zu begreifen – erst der Einrichtung eines solchen Lehrstuhls in Deutschland nötig macht.

Womit ich bei einem der Themen des abschließenden Podiums wäre. Allerdings möchte ich noch ein paar Worte zum Beitrag von Prof. Dr. Frieder-Otto Wolf sagen. Dieser sprach – ganz im Sinne des Konferenztitels – dann auch tatsächlich über die Krisen, in denen die Welt sich derzeit befindet. Er stellte die Frage, ob man diese weltweiten Krisen auch als Chance für einen Humanismus verstehen könnte. Und er bejahte die Frage und sprach von „Humanismus als Chance für Nachhaltigkeit“. Wobei ich jedoch das Gefühl hatte, dass sein Optimismus ein eher gedämpfter ist. Mehrfach erwähnte er die Unfähigkeit der Menschheit, das Problem der Klimaerwärmung ernsthaft anzugehen. Obwohl inzwischen jedem Menschen bewusst sei, dass nur gemeinsames Handeln die Menschheit retten kann ist diese nicht in der Lage, eben dies zu tun.

Die den Tag abschließende Podiumsdiskussion stellte die Frage „Wer braucht Humanistik?“ - Die Antwort: „Alle“ habe ich nicht vernommen; dafür aber ein paar sehr interessante Anregungen. So regte Prof. Dr. Richard Faber von der FU Berlin an, Humanistik als eine Art Oberbegriff über verschiedene Wissenschaftsdisziplinen zu verstehen. Seiner Meinung nach würde Humanistik Bereiche der Soziologie genau so umfassen wie Philosophie, Geschichte und auch Pädagogik. Mit dem Hinweis, dass „jeder Lehrer humanistische Werte vermitteln kann“ sprach er sich für mein Verständnis jedoch gegen die Einrichtung eines Lehrfaches „Humanistik“ aus. Frau Prof. Dr. Anne Eusterschulte referierte darüber, ob eine humanistische Theorie Orientierung geben kann und zitierte dazu umfangreich aus Klassikern. Dr. Justus H. Ulbricht aus Jena sprach für mich viel zu wenig. Er sprach sich eher gegen die Einrichtung des Lehrstuhles aus. Aber sehr wohl für eine humanistische Ausbildung von Pädagogen.

Mir scheint, dass hierin die Crux der gesamten Diskussion lag. Auch Dr. Horst Groschopp, der die gesamte Konferenz leitete, konnte nicht genau vermitteln, worin sich ein Lehrstuhl Humanistik von einer Lehrerausbildung an der Humanistischen Akademie unterscheidet. Ich meine, dass man unterscheiden muss zwischen einem – tatsächlich interdisziplinären – Lehrstuhl Humanistik, der die von Prof. Dr. Faber benannten Fächer (und sicherlich ein paar mehr) einschließt sowie einer eher pädagogisch ausgerichteten Ausbildung für Lehrer und Lebensberater. Also: Humanistik als Forschungsfeld über Humanismus in all seinen Spielarten. Leider konnte diese Frage nicht abschließend diskutiert werden – meiner Meinung nach eben auch, weil die Praktikerinnen zu wenig gehört worden sind.

Das Studium, das die Akademie (HAB) derzeit für die Ausbildung von Lebenskundepädagogen anbietet, stellt „nur“ ein Ergänzungsstudium dar und deckt somit nur die Basics der Humanistik ab.

Frank Navissi

 

Video mit Stellungnahmen von Dr. Horst Groschopp, Prof. Dr. Gily Coene, Prof. Dr. Frieder Otto Wolf, Ulrike Meyen und Ulrike Dausel.