Ehemalige Heimkinder sorgten für Überraschung

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Norbert Lammert, Antje Vollmer / Foto © DBT(Andreas Hill)

BERLIN. (hpd) „19.01.2011, 9.30 Uhr: Der Runde Tisch Heimerziehung stellt Abschlussbericht vor“, so stand es geschrieben und die Überraschung lag auf dem Tisch. Neben dem von Frau Dr. Antje Vollmer am 10. Dezember 2010 unterzeichneten Abschlussbericht erhielt der Bundestagspräsident ein weiteres Dokument.

Vier der sechs ehemaligen Heimkinder, die am Runden Tisch Heimerziehung (R.T.H.) die Anzahl von ca. 750.000 bis 800.000 Kinder und Jugendlichen zu vertreten hatten, schlossen sich erneut zusammen.

Ihre Forderung ist erneut und wie in der letzten Sitzung R.T.H. gestellt: Pauschaler Folgenausgleich in Höhe einer monatlichen Rente von 300,- Euro, die anrechungsfrei auf alle anderen sozialen Leistungen sein muss, oder wahlweise eine Einmalzahlung von 54 000,- Euro.

Am 19. Januar 2011 wandten sich die ehemaligen Heimkinder direkt an den Bundestagspräsidenten, die Abgeordneten und allen Anwesenden mit der Bitte, einen finanziellen Ausgleich ernst zu nehmen und umzusetzen. Ihr Brief:

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Berlin, 19. Januar 2011

Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident,

sehr geehrte Abgeordnete des Bundestages,

sehr geehrte Damen und Herren,

Frau Eleonore Fleth und ich, als zwei der drei ehemaligen Heimkinder am Runden Tisch Heimerziehung (R.T.H.), sowie Herr Jürgen Beverförden und Herr Rolf Breitfeld, als zwei der drei Stellvertreter, appellieren an Sie, Herr Bundestagspräsident und die anwesenden Abgeordneten dieses hohen Hauses, unsere finanziellen Entschädigungsvorschläge, wie sie im Abschlussbericht des R.T.H. stehen, bei der parlamentarischen Umsetzung zu berücksichtigen.

Wir, die Opfer der Heimerziehung haben dem R.T.H. diese Vorschläge vorgelegt, sie sind jedoch von den übrigen Mitgliedern des R.T.H. im Abschlussbericht nicht empfohlen worden.

Hintergrund unserer Entschädigungsforderung ist das von Staat veranlasste Unrecht der damaligen Fürsorgeerziehung in Deutschland und die daraus gewalttätige Zerstörung von Lebenschancen der ehemaligen Heimkinder.

Man sagt ganz grundsätzlich und ohne Einschränkung im Abschlussbericht, dass man den ehemaligen Heimkindern „glaube“. Und dann sollte man uns auch glauben:

Die ehemaligen Heimkinder wurden in ihrer Kindheit und Jugendzeit ihrer Lebenschancen beraubt, sie bekamen nichts mit auf den Weg, weder Schulbildung noch Ausbildung. Sie wurden weggesperrt, sie waren recht- und wertlos und waren deshalb schutzlos ausgeliefert, wenn sie von den (kirchlichen) Erziehungsberechtigten in den Heimen schwer misshandelt, gedemütigt, missbraucht wurden.

Sie litten damals unter dieser rigiden Heimerziehung und leiden auch heute noch unter dem „Albtraum-Heimerziehung“, wobei auch Säuglinge und behinderte Menschen nicht ausgeschlossen werden dürfen.

Die „Fürsorgezöglinge“ leisteten (nicht erziehungsbedingte) verbotene Kinder- und übermäßige Zwangsarbeit in den Erziehungsanstalten und Kinderheimen und wurden nicht für diese Arbeit entlohnt.

Sie wurden wirtschaftlich ausgebeutet und mussten für die Heime, sowie auch für externe Betriebe und Landwirtschaft schwer arbeiten.

In vielen Köpfen, der damals für uns „zuständigen“ Personen, außerhalb und innerhalb der Erziehungsheime, herrschte immer noch, bis spät in die 60er Jahre, vieles von dem Gedankengut der NS Zeit. Zucht und Ordnung sollten Kindern und Jugendlichen beigebracht werden, egal um welchen Preis.

Das Grundgesetz, das 1949 in Kraft trat, sollte für alle Menschen gelten, für uns traf das jedoch nicht zu, zu keiner Zeit. Die „Menschenrechte“ wurden 1948 auch von Deutschland anerkannt, nur für uns galten sie nicht.

Insbesondere deshalb war die damalige Heimerziehung ein Unrechtssystem (das verfassungswidrige besondere Gewaltverhältnis, übermäßige Züchtigungen, Zwangsarbeit, umfassende im Abschlussbericht dokumentierte Grundrechtsverletzungen von Kindern und Jugendlichen), dieses Unrechtssystem der Heimerziehung muss endlich auch als ein solches anerkannt werden.
Das „Trauma Heim“ ist bei uns, den ehem. Heimkindern, immer noch gegenwärtig.

Viele von uns sind heute schwer krank an Leib und Seele.

Viele der Opfer der Heimerziehung leben heute am Existenzminimum, von Hartz IV oder der Grundsicherung oder beziehen nur eine geringe Rente.
Sie konnten sich nach der Entlassung aus den Heimen in dieser Gesellschaft nicht einfügen oder anpassen. Sie bekamen nichts mit auf den Weg, keine Schulbildung, meistens auch keine Ausbildung, keine Aufklärung und Vorbereitung auf das Leben draußen.

Somit waren viele von Anfang an zum Scheitern verurteilt.

Die BRD hat sich eines schweren Vergehens schuldig gemacht, sowie auch die Länder und die beiden großen Kirchen. (Hinweis auf die Verantwortungskette).
Der Staat, sowie auch die Länder haben bis heute nicht anerkannt, dass uns großes Unrecht in diesem „Rechtsstaat Deutschland“ zugefügt wurde.
Dieses Unrecht muss uneingeschränkt anerkannt werden, von Staat, Ländern und auch den Kirchen.

Diese unselige Zeit ist ein dunkler, ja sogar „schwarzer Fleck“ in der Geschichte der BRD. Man kann diesen Fleck nicht mit 120 Millionen weiß waschen, dazu bedarf es schon sehr viel mehr als das.

Die 120 Millionen, werden hoffentlich als Soforthilfe den schwer bedürftigen
ehem. Heimkindern zukommen.

Eine finanzielle Entschädigung für die ehem. Heimkinder ist aber in dieser Summe nicht enthalten.

Deshalb sagen wir: Wir wollen nicht nur für die Folgeschäden sozialarbeiterische Hilfen (die sicherlich gut und wichtig für viele ehemaligen Heimkinder sind), wir wollen umfassender rehabilitiert werden und dazu gehört eine finanzielle Entschädigung (zumindest symbolisch gemeint) für alle von uns, die sich melden werden.

Im Abschlussbericht steht deshalb von uns, den ehemaligen Heimkindern, das wir (auch wegen der erlittenen Folgeschäden), einen pauschalen Folgenausgleich in Rente fordern und zwar in Höhe einer monatlichen Rente von 300,- Euro, die anrechungsfrei auf alle anderen sozialen Leistungen sein muss, oder wahlweise eine Einmalzahlung von 54 000,- Euro.

Was die Höhe der Entschädigungsforderung betrifft, so haben wir uns an anderen Ländern orientiert, in denen bereits Entschädigungen an ehem. Heimkinder ausgezahlt wurden.

Die Hoffnung von allen „Opfern der Heimerziehung“ liegt nun in Ihren Händen.
Ich bitte Sie inständig, unsere Entschädigungsforderung für das große Unrecht und Leid, das uns zugefügt wurde, zu akzeptieren.

Es gab seit der Zeit des Nationalsozialismus keine andere Opfergruppe, die so rechtlos war wie wir, die „Opfer der Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren“.

Man kann uns gegenüber die Anerkennung dieser schweren Grundrechts- und Menschenrechtsverletzungen und des bis heute noch fortdauernden Leides nur glaubhaft machen, in dem der Staat und die Länder sowie die Kirchen und alle beteiligten Trägerorganisationen allen Opfern der Heimerziehung finanzielle Entschädigung zukommen lassen, die das beantragen werden.

Wir möchten an dieser Stelle noch einmal an Sie, sehr geehrter Herr Bundestagspräsident Lammert und die Abgeordneten aller Fraktionen im Bundestag appellieren, uns, den Opfern der Heimerziehung eine finanzielle Entschädigung, wie vorgeschlagen, zukommen zu lassen.

Sonja Djurovic
Eleonore Fleth
Jürgen Beverförden
Rolf Breitfeld

Ehemalige Heimkinder und Mitglieder des R.T.H.

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Rechtsverletzungen, Straftaten, Duldung von schweren körperlichen Übergriffen etc. wurden in dem Abschlussbericht R.T.H. klaglos aufgelistet.

Mit einem Rückgriff in das Jahr 1963 geben Protokolle, Aktennotizen, Briefe sowie ein kurzes Resümee Einblick in die Situation eines damals 14-jährigen Jungen, der von seiner Mutter weggenommen und als Fürsorgezögling in Freistatt zu leben und zu arbeiten hatte.

Heiner Conrad, geboren 1948, wurde mit 14 Jahren am 5. April 1963 in das Aufnahmeheim Eckehardt in Eckardtsheim bei Bielefeld gebracht. Den Beschluss dafür erließ das Jugendamt Bochum einen Tag zuvor am 4. April 1963. Die Mutter von Heiner, der nach dem Tod des Vaters "...das Sorgerecht über ihre Kinder aufgetragen wurde" war mit einer Einweisung von Heiner nicht einverstanden. Das Jugendamt schrieb dazu: "Frau Conrad ...stellt sich doch immer wieder auf die Seite ihres Jungen und ist nicht in der Lage, Heiner die notwendige straffe Erziehung zu geben. .... Weil aber Gefahr im Verzuge ist, ist die Anordnung der vorläufigen Fürsorgeerziehung von Nöten." Der "Beobachtungsbogen" (1. Scan, 2. Abschrift, Teil 2 und 3) vom 4. 4. 1963 gibt Auskunft.

Heiner Conrad war Heimkind in 'Eckardsheim", "Moorstadt" und "Freistatt Moorhort". Diese und weitere Heime gehören zu "Bethel v. Bodelschwinghsche Stiftungen Bethel".

In Stellungnahmen, Briefen, Protokollen der Anstaltsleitung und der Mutter wird das damalige Geschehen deutlich. Entlassen wurde Heiner Conrad mit 16 Jahren im Oktober 1964.

Der "Beobachtungsbogen":

 

Beobachtungsbogen

Des Aufnahmeheims E c k e h a r d t in Eckardtsheim b. Bielefeld

1. Personalien (siehe Original-Scan)

2. Familie

Familien-, Wohnungs-, Berufs- und Lebensverhältnisse der Angehörigen:
Vater – Mutter Geschwister (Zahl, Alter) – Großeltern Stiefeltern – Vormund?
Beruf und Einkommen der Angehörigen? Wohngegend – Art der Wohnung – Zimmerzahl – Bettenzahl? Zustand und Zusammenleben der Familie? Ordnung – Sauberkeit – Wirtschaftlichkeit? Sittlicher Leumund? Religiöses Leben? Erbliche Belastung in der Familie? Krankheiten? Trunksucht? Gerichtliche Bestrafungen in der Familie?

Heiner C o n r a d ist der Jüngste von 4 Kindern der Eheleute Georg Conrad und seiner Frau Meta geb. Anton. Im Jahre 1950 wurde die in Bochum geschlossene Ehe der Eltern in Polle geschieden. Die Schuld daran trägt der Ehemann. Im Juni 1956 kehrte Frau Conrad, die während des Krieges nach Polle evakuiert war, nach Bochum zurück. Nachdem die zweite Ehe des Ehemannes geschieden war, gingen die Eheleute Georg und Meta Conrad erneut die Ehe ein (November 1956). Herr Conrad verstarb im Dezember 19XX. Von seinen Arbeitgebern wurde Herr C. als wenig arbeitsfreudig beurteilt. Wegen Unterhaltsentziehung musste er eine Gefängnisstrafe verbüßen.
Der älteste Sohn der Familie, Hans-Jürgen, wurde wegen Erziehungsschwierigkeiten durch Urteil des Jugendgerichts in Bochum vom 4.10.1950 unter Schutzaufsicht gestellt während Helmut vom Amtsgericht Bad Pyrmont der Fürsorgeerziehung überwiesen wurde und bis Juni 1959 im Erziehungsheim Bischborn untergebracht war. Die Schwester leidet infolge von Kinderlähmung an Geistesschwäche und ist weder arbeits- noch erwerbsfähig. Der Mutter ist das Sorgerecht über ihre Kinder aufgetragen.

 

3. Entwicklung v o r Überweisung zur Fürsorgeerziehung

Bisheriger Lebenslauf: Genaue Zeitangaben von der Geburt bis zur Überweisung zur Fürsorgeerziehung: im Elternhaus? In Pflege-, Lehr- und Arbeitsstellen? Wo? Wie lange? Warum gewechselt? – Körperliche Entwicklung: Pflege? Ernährung? Gesundheitszustand? Sportliche Betätigung? Körperfehler? Misshandlungen? Entwicklungsstörungen? Periode? Geschlechtsverkehr? Geburten? – Geistige Entwicklung: Schulzeit? Schulart? Lernerfolge: Wissensbildung? Charakterliche Entwicklung: Sittliches und soziales Verhalten? Religiöses Leben? Arbeitsantrieb? – Ausdauer? Haltlosigkeit? Triebartige Neigungen? Gemütszustand? Reifezeit? Sexualleben? Psychopathische – krankhafte Züge? Auffallende Empfindlichkeit oder Reizbarkeit? Neigung zu Gewalttätigkeiten und Rohheit? Gemeinschaftsfähigkeit?

Heiner C o n r a d lebte im Haushalt seiner Mutter. Er besuchte die Volksschule und wurde Ostern 1962 aus der 6. Klasse entlassen. Als Kind häufig krank und stand eine Zeitlang wegen Hylusdrüsentbc (?) in der Betreuung des Gesundheitsamtes. In der Schule fiel der Junge nicht unangenehm auf. Im Dezember 1961 machte sich Heiner laut Mitteilung des Amtsgerichtes eines Diebstahls schuldig. Hierauf setzt die jugendamtliche Betreuung der Familie wieder ein. Die Mutter, die Heiner als ihren Jüngsten wahrscheinlich sehr verwöhnt hat aber keine Unehrlichkeit duldete, versprach, Heiner besonders gut zu beaufsichtigen. Er wurde außerdem noch von der Fürsorgerin verwarnt und ermahnt. Bis Juni 1962 traten dann keine Schwierigkeiten mit dem Jungen auf. Er konnte im April 1962 als Lehrling bei einem Tankwart vermittelt werden. Im November musste Heiner sich wegen Diebstahls verantworten und wurde vom Jugendrichter mit einem Freizeitarrest belegt. Im gleichen Monat wurde des Lehrverhältnis mit beiderseitigem Einverständnis gelöst. Heiner fühlte sich dort nicht gut behandelt und war auch den geistigen und körperlichen Anforderungen nicht gewachsen. (...)
Heiner Conrad ist labil und leicht zu beeinflussen. Nach Angaben der Mutter soll er viel Umgang mit älteren und schlecht beleumundeten jungen Leuten gehabt haben.
Frau Conrad ist ihrem Jungen nicht mehr gewachsen und da sie selbst auch sehr labil (?) veranlagt ist, stellt sie sich immer wieder auf die Seite ihres Jungen und ist nicht in der Lage, Heiner die notwendige straffe Erziehung zu geben.
Für den Jungen wäre eine energische und straffe Heimerziehung notwendig und würde ihn wieder auf den rechen Weg bringen. Die Mutter ist aber nicht bereit, dem Auftrag der freiw. Erziehungshilfe zuzustimmen. Weil aber Gefahr im Verzuge ist, ist die Anordnung der vorläufigen Fürsorgeerziehung von Nöten.

Brief vom 08.05.1963 von "Haus "Eckehardt" an Frau Meta Conrad, die Mutter:

Brief vom 22.05.1963 von "Haus Eckehardt" an Frau Meta Conrad, die Mutter:

 

Brief vom 01.08.1963 von der Anstaltsleitung an das Landesjugendamt Münster:

 

 

 

Brief Abschrift/Auszug – im Original 2 Seiten

Absender Meta Conrad (Mutter von Heiner Conrad)
Eingangsstempel Landesjugendamt am 5.8.1963

G.Z. 50 51 C 119 G Bochum den 1.8.1963

Möchte dem Landesjugendamt Münster mitteilen, das mein Sohn Heinz bei mir ist und zwar von Freistatt.

Zum ersten Ausschlag an den Füssen so das schon Löcher am Knöchel entstanden sind bis oben ans Knie, die gute Schuhe fast keine Absätze und Sohlen dran und drunter, die langen Haare in der Hitze. Habe ihm zuerst die Haare schneiden lassen müssen.

Zweitens ist mir erzählt worden, das es dort in Freistatt das schlimmste Heim ist und alle anderen Jungs und zwar solche, die Banküberfälle gemacht haben. Sowie die dort dem Heinz erzählt haben hat sich dort ein Junge schon aufgehängt. Dorthin haben Sie meinen Sohn verlegt. Dort machen Sie einen Verbrecher aus ihm. Und so was nennt sich Erziehung von Jugendlichen.
Dort müssen die älteren Jungs um 4 Uhr aufstehen, Torf stechen und im Laufschritt das Essen einnehmen. Dann die, die schon länger dort sind, haben das Recht, die Jüngeren schon zu schlagen und zu treten.
Aber ich lasse mir von dem behandelnden Arzt eine Bestätigung geben, so geht das doch nicht.
Ich bin doch noch die Mutter und hiermit bin ich nicht einverstanden.

 Brief vom 12.08.1963 von der Anstaltsleitung an das Jugendamt Bochum:

Brief vom 19.11.1963 von der Anstaltsleitung, Pastor Lähnemann, an das Landesjugendamt:

 

 

46 Jahre nach der Entlassung

Im Januar 2011 schreibt Heiner Conrad Satz "... und nach jahrelangen Nachforschungen erhielt ich eine Kopie meiner Heimakte". Seine Akte erhielt er aus Freistatt.

Auf Nachfrage erfuhr der hpd von dort: Die Gesamtzahl der von den
"v. Bodelschwinghsche Stiftungen Bethel" für eine Fürsorgeerziehung in Obhut genommenen Kindern und Jugendlichen wird mit ca. 7.000 angenommen. Pro Woche wird durchschnittlich eine Akten-Anfrage gestellt, ca. 1.000 Akten in Form von Fotokopien sind an Betroffene aufgrund derer Anfragen versandt worden.
Vier Jahre sei bei Fürsorgezöglingen die durchschnittliche Verweildauer in den Heimen gewesen.

Heiner Conrad ist inzwischen 62 Jahre alt, als der Runde Tisch Heimerziehung in seinem Abschluss-Bericht schreibt: Es habe Erkenntnisse in der Aufarbeitung gegeben und Punkte der Erziehungspraxis in den Heimen als "Regel- und Rechtsverstöße in der Heimerziehung" zusammengefasst auf den Seiten 35 ff. aufgeführt.

Schlicht heißt es: „Bei Arbeits- und/oder Ausbildungsverhältnissen seien keine Sozialbeiträge eingezahlt worden." Wie diese dürren Worte nicht nur bei einzelnen Menschen das Verständnis übersteigen lässt sich vorstellen.

Heiner Conrad schreibt dazu am 11. 1. 2011 über seine Zeit in Freistatt:

Das Leben, wenn man es als solches bezeichnen kann, war in Freistatt die sprichwörtliche Hölle. Von früh bis spät Arbeiten. Aufstehen. Betten machen. Anziehen. Frühstücken. Umziehen. Kartoffeln schälen, Arbeitszeug anziehen. Draußen zum Appell antreten. Dann gab es schon die ersten Prügel z. B. weil an sich nicht ordentlich gekämmt hatte oder irgendwo ein Knopf fehlte. Dann „abzählen“. Einteilung für die Moorkolonnen. Mit einer Pump-Lore raus ins Moor. Ca. 4 bis 6 km. Arbeit bis zu Mittag, dann wurde das Essen (was man auch immer darunter verstehen sollte) gebracht. Essen – Zigaretten-Pause – weiter arbeiten und ca. 17 Uhr: Feierabend. Wieder auf die Lore und zurück zum Heim. Kalt Duschen. Umziehen. Keller aufräumen. Abendbrot. 2 Stunden Freizeit – ab in Bett. Das habe ich 5 Monate gemacht. Dann wurde ich zum Bauern in der Umgebung ‚entliehen’. In der Erntezeit 12 bis 14 Stunden Arbeit.
Wenn der Herbst kam – wieder ins Moor zum Torf stechen. Dann an anderen Tagen Kuh-, -Schweine- und Schafställe ausmisten. Unsägliche Knochenarbeit. Oder man kam in die Sandgrube und musste für die umliegenden Baufirmen Sand ranschaffen.

Zwischendurch war ich in mehreren Etappen in der Arrestzelle, weil ich aufmüpfig war. Insgesamt war ich dort drei Wochen und das immer mit Unterbrechungen. Eben ganz, wie es den sogenannten „Brüdern“ gefiel. Ich habe Ausschlag an beiden Beinen bekommen, offene Stellen, die nicht heilen wollten und auch nicht behandelt wurden. Es hieß: Das kam von alleine, das geht auch wieder von alleine.

Den Dauerarrest bekam ich für das „Abhauen“, Diebstahl eines Fahrrades und Schwarzfahren mit der DB und Zweckentfremdung von Heimkleidung weil ich damit in der Öffentlichkeit war.

Im Oktober 1964, ich war 16 Jahre alt, wurde ich entlassen und das ohne Geld, ohne Textilien. Ich hatte nur eine Fahrkarte für Bus und Bahn bis Bochum im Wert von 16 DM und die hatte ich an das Jugendamt Bochum zurückzuzahlen.
Ich habe keine Arbeit gefunden, ein Heimkind war damals sowie wert wie ein Zuchthäusler. Ich bekam nur Absagen, kein Geld vom Staat, nix. Und das schlimmste war in meinen Augen, dass man meiner Mutter die Waisenrente wegnahm, die sie bis dahin nach Freistatt zu meiner Verfügung mit 60 DM pro Monat überwiesen hatte. Ich habe aber NIE Geld bekommen, das war wohl die Übernachtung mit Vollpension.

Dann die Beurteilung meiner Familie, unglaublich. Es hatte sich nie jemand vom Amt um uns gekümmert . Meine Schwester wurde als geisteskrank eingestuft weil sie eine Hirnhautentzündung hatte. Sie ist weder dumm gewesen noch dumm geworden.

Nach jahrelangen Nachforschungen bekam ich aus Freistatt meine Heimakte. Nur meine schlechtesten Seiten wurden darin festgehalten. Das man sch aber wie in einem Gefängnis fühlte oder schwer misshandelt wurde, davon steht nichts drin.
Verlogen und verkommen, egal ob evangelisch oder katholisch. Durch die Heimerziehung (damals die unterste Stufe) blieb ich zwei Jahre ohne Arbeit und das zur Zeit eines Wirtschaftswunders. An allen Ecken fehlten Arbeitskräfte schon alleine durch die Väter, die im Krieg geblieben waren. Und da war für ein Heimkind kein Platz und keine Arbeit? Die Freunde von früher waren plötzlich keine mehr. Man wurde gemieden wie die Pest. Wenn ich bei uns auf die Strasse ging, wurden die Freunde von früher von ihren Eltern reingerufen.

  

Brief vom 24.03.2010 aus Bethel, v. Bodelschwinghsche Stiftungen
Bescheinigung: Arbeit ohne Bezahlung und ohne Sozialversicherung

 

 

Bitten um Hilfe und Unterstützung

Heiner Conrad hat am 30. 9. 2010 an die Moderatorin Runder Tisch Heimkinder, Frau Dr. Antje Vollmer geschrieben mit der Bitte um ihre Unterstützung. Er erhielt bisher keine Antwort.

Am 14. 10. 2010 schrieb Heiner Conrad an den Präsidenten des Deutschen Bundestages, Prof. Dr. Norbert Lammert, mit der Bitte, ihn bei dem nicht zugestandenen Anspruch seiner Rente aus seiner Zeit in Freistatt zu unterstützen.
Auch von dort erhielt er bisher keine Antwort.

Evelin Frerk / Daniela Gerstner