Vortrag von Ulla Bonnekoh in Düsseldorf

Suizidhilfe in Deutschland

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Ulla Bonnekoh
Ulla Bonnekoh

Das Bundesverfassungsgericht erklärte am 26. Februar 2020 in einem wegweisenden Urteil den Strafrechtsparagraphen 217 für nichtig. Dieser hatte die Suizidhilfe hierzulande seit 2015 unter Strafe gestellt. Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben schließe "die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen", so der Präsident des Verfassungsgerichts Andreas Voßkuhle in der Urteilsbegründung. Obwohl seit 2020 die Suizidhilfe in Deutschland wieder legal ist, gibt es vielerorts nach wie vor Unklarheit darüber, was erlaubt ist und was nicht.

Ulla Bonnekoh, stellvertretende Vorsitzende des Zentralrats der Konfessionsfreien und Präsidiumsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben e.V. (DGHS), war der Einladung des Arbeitskreises der säkularen Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in Düsseldorf gefolgt, zum Thema "Suizidhilfe in Deutschland" zu referieren und den Status Quo vier Jahre nach dem Karlsruher Urteil zu beleuchten.

Bereits seit den 1990er Jahren beschäftigt sich Bonnekoh mit Patientenverfügungen, seit 15 Jahren intensiv mit dem Thema Sterbebegleitung und war sowohl bei der Verhandlung als auch bei der Urteilsverkündung in Karlsruhe vor Ort dabei.

Thorben Peping, der erste Beauftragte für "Säkularität und Humanismus" im Vorstand der NRW-SPD, erhielt die Gelegenheit sich vorzustellen, bevor es thematisch in medias res ging. Er verstehe sich als "Sprachrohr" der Säkularen innerhalb des NRW-SPD-Parteivorstandes. Dort wolle er künftig säkulare Interessen und Anliegen vertreten und auch die weitere Vernetzung der Arbeits- und Gesprächskreise in NRW unterstützen, um Kräfte zu bündeln und die politische Sichtbarkeit und Schlagkraft zu erhöhen.

Das Recht darauf, selbstbestimmt seinem Leben ein Ende zu setzen und dafür Hilfe anzunehmen, besteht in jeder Phase menschlicher Existenz

Den eigentlichen Vortrag läutete Ulla Bonnekoh im Anschluss mit einem Rückblick auf das Karlsruher Urteil von 2020 ein: Dieses Urteil sei etwas ganz "Besonderes". Es komme nicht häufig vor, dass ein Strafgesetz nicht nur für verfassungswidrig, sondern für "nichtig" erklärt werde. Für Bonnekoh eine glatte Ohrfeige für alle Parlamentarier, die dieses Gesetz mehrheitlich 2015 verabschiedet hatten: Karlsruhe hatte in seinem Urteil vom 26. Februar 2020 festgestellt, dass es ein Recht gebe, selbstbestimmt über sein Leben zu verfügen und dass dieses Recht in jeder Phase der Existenz bestehe.

Dieses Urteil und der Status Quo seien weltweit einmalig, so Bonnekoh: Jeder einzelne könne über sein Ende entscheiden, nach seinen persönlichen Wertmaßstäben und seinem Verständnis von Lebensqualität. Es gibt keine Beschränkungen auf bestimmte Krankheiten oder mit Blick auf das Lebensalter. Dies, so die Referentin, mache den Korridor für eine Neuregelung relativ schmal. Es sei allerdings keine schrankenlose Freiheit, betonte sie, denn die Freiverantwortlichkeit der Entscheidung der Betroffenen stelle hier eine deutliche Begrenzung dar.

In der Presserklärung des Bundesverfassungsgerichts wird festgehalten, dass es nicht um die "Bewertung anhand allgemeiner Wertvorstellungen, religiöser Gebote, gesellschaftlicher Leitbilder (…), den Umgang mit Leben und Tod oder Überlegungen objektiver Vernünftigkeit (…), einer weiteren Begründung oder Rechtfertigung (…)" gehe.

Es war die Frage nach einer möglichen Verletzung von Freiheitsrechten durch Paragraph 217 StGB, die im Mittelpunkt stand, so Bonnekoh.

Vor allem die Kirchen, insbesondere die katholischen Bischöfe, zeigten sich dann auch wenig erfreut über das Urteil. Eine Ausweitung der Angebote für Suizidbeihilfe, wie sie das Urteil des Bundesverfassungsgerichts nahelegt, sei für sie mit den Grundüberzeugungen der Kirche "nicht in Einklang zu bringen".

Die Möglichkeit, Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen, ist – egal wo man hinschaut – in anderen Ländern in der Regel an ein schweres Leiden gebunden, aus dem sich das Mitgefühl für die Schwerkranken ergebe. In Ländern wie den Niederlanden, Italien, Neuseeland, Australien, Kanada oder Spanien beschränkt sich die Möglichkeit der Freitodbegleitung auf Schwerkranke und/oder Menschen mit geringer Lebenserwartung.

Deutschland ist mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts einen anderen Weg gegangen, der einen Paradigmenwechsel markiert: Die Urteilsbegründung stellt die Autonomie des einzelnen in den Mittelpunkt.

Die persönliche Situation verstehen und über Alternativen sprechen

Auch in die Praxis der DGHS, die – anders als Dignitas oder der Verein Sterbehilfe – keine Sterbehilfegesellschaft, sondern eine Bürgerrechts- und Patientenschutzorganisation ist, erhielten die Teilnehmer Einsicht: Die DGHS vermittelt Ärzte und Juristen an ihre Mitglieder, führt selber aber keine Freitodbegleitungen durch.

Vor einer solchen Freitodbegleitung durch Vereine muss eine Mitgliedschaft bestehen, für die ein schriftlicher Antrag nötig ist. Die DGHS fordert Arztberichte und Befunde an, wenn Krankheit der Grund ist. Der ausdrückliche Wunsch, Sterbehilfebegleitung in Anspruch nehmen zu wollen, wird ebenfalls schriftlich fixiert. Durch verschiedene Instanzen werden die Anträge geprüft: Bei der DGHS prüfen festangestellte Psychologen, ob es Zweifel an der Freiverantwortlichkeit gibt, wobei weitreichende Sorgfalts- und Sicherheitskriterien greifen. Ein DGHS-Kriterium ist in der Regel eine mindestens sechsmonatige Mitgliedschaft.

Nach sorgfältiger Prüfung werden Anträge seitens der DGHS an ein externes Team weitergeleitet. Und an dieser Stelle endet die Tätigkeit der DGHS, da nun ein Team aus Ärzten und Juristen übernimmt. Im Rahmen des Vier-Augen-Prinzips führen unabhängig voneinander jeweils ein Arzt und ein Jurist Vorgespräche mit den Antragsstellern, die schriftlich protokolliert werden. Das erste Gespräch findet mit dem Juristen, das zweite mit dem Arzt statt. Es geht darum, die persönliche Situation zu verstehen und über Alternativen zu sprechen.

Auch für die Feststellung der Freiverantwortlichkeit gilt ein strenger Kriterienkatalog der DGHS. Der oft von Gegnern der Sterbehilfe zitierte "Druck durch Dritte" sei eine Tatsache, so die Referentin. Allerdings weniger, um die Menschen in einen Suizid zu treiben, als vielmehr, um sie davon abzuhalten – mit zum Teil fragwürdigen Mitteln wie Zwangseinweisungen in psychiatrische Einrichtungen.

Ein Blick auf die Zahlenentwicklung verschiedener Organisationen zeigt, dass die Zahlen der Freitodbegleitungen in den letzten Jahren gestiegen sind und auch weiter steigen werden. Es wird deutlich: Die Menschen nehmen ihr Recht in Anspruch, sofern sie von der Möglichkeit hierzulande überhaupt wissen.

Die zahlenmäßig größte Gruppe dabei sind die 80- bis 89-Jährigen (37 Prozent) und diejenigen mit multiplem Krankheitsbild (25,99 Prozent).

Verunsicherung durch Medienberichte

Ulla Bonnekoh nutzte die Gelegenheit, mit einem Irrglauben aufzuräumen: Das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetzgeber keineswegs vorgeschrieben, eine neue gesetzliche Regelung zu verabschieden. Dies kann und darf geschehen, muss aber nicht. Und wenn doch, dann stets innerhalb der durch Karlsruhe aufgezeigten Grenzen.

Im Juli 2023 wurde im Bundestag über zwei fraktionsübergreifende Gesetzentwürfe zur Regelung der Sterbehilfe abgestimmt, die jedoch keine Mehrheit fanden. Für überflüssige Verunsicherung nach der Abstimmung im Bundestag sorgte eine zum Teil falsche oder unzureichende Berichterstattung.

Überschriften wie "Gescheitert: Sterbehilfe weiter in der rechtlichen Grauzone" oder "Wer sterben will, wird alleingelassen" haben den Status Quo verzerrt oder schlichtweg falsch wiedergegeben.

Eine gesetzliche Neuregelung ist nicht zwingend und wird zum Beispiel von der DGHS oder dem Zentralrat der Konfessionsfreien als unnötig angesehen.

Es gibt nach wie vor noch viele Hürden für die Betroffenen. Hürden stellen die Zugangs- und Bewertungskriterien dar, genauso wie die Tatsache, dass die beteiligten Mediziner oftmals den Zeitpunkt (mit)bestimmen wollen. Auch sei es schwierig, überhaupt bereitwillige Ärzte zu finden. Zuletzt ist eine weitere Einschränkung, dass das Recht auf Freitodbegleitung in Hospizen und Pflegeheimen in kirchlicher Trägerschaft zumeist unter Berufung auf die "Gewissensfreiheit" ausgeschlossen ist.

"Aus dem Grundgesetz ergibt sich ein Anspruch", führte die Referentin weiter aus: "Sein Leben selbstbestimmt zu beenden, ist ein Grundrecht. Hilfe dafür zu suchen und anzunehmen, ist ein Recht. Es gibt das Recht, beim Freitod zu helfen, aber keine Pflicht zur Hilfeleistung. Jeder darf, keiner muss. Es gibt keinen Anspruch auf Hilfe von einer konkreten Person. Aber es gibt ein Recht auf Absicherung der Grundrechtsausübung."

In einer spannenden Frage- und Diskussionsrunde im Anschluss an den Vortrag wurden noch weitere Aspekte rund um das Thema beleuchtet.

Eines scheint klar: Die Diskussion zur Suizidhilfe ist noch lange nicht abgeschlossen. Zu hoffen bleibt, dass Karlsruhe das letzte Wort behält.

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