Der zensierte Luther

Umgang der EKD mit dem Erbe Luthers

Wie gehen nun die EKD und die evangelischen Christen mit diesem Teil ihrer eigenen Geschichte um? Wie argumentieren sie und wie schätzen sie die Wirkung Luthers auf den Nationalsozialismus ein? Dass es diesen Einfluss gegeben hat, kann nicht geleugnet werden, wie den vielen Zitaten „Deutscher Christen“ und Nazi-Schergen, ja Hitlers selbst, zu entnehmen ist.

Eine Linie von Luther zu Hitler zu ziehen wird in evangelischen Kreisen vehement, ja mit Empörung zurückgewiesen, liegt zwischen beiden ja eine zeitliche Distanz von 400 Jahren. Der bekannte deutsche Philosoph Karl Jaspers (7) sieht das anders, wenn er mit Anspielung auf Luthers „treuen Rat“ von „Luthers ... Ratschläge gegen die Juden (die Hitler genau ausgeführt hat)“ schreibt. Auch wenn diese Aussage in Klammern steht, ist sie dennoch so klar und unmissverständlich, wie es Luthers Ratschläge selbst sind.

Mit Empörung zurückgewiesen wird auch der Versuch, Luther mit der nationalsozialistischen Rassenideologie in Verbindung zu bringen. Es wird darauf hingewiesen, dass Luther die Juden primär nicht umbringen oder vertreiben, sondern durch Bekehrung zum Christentum assimilieren wollte, wofür es mehrere schriftliche Belege gibt. Luther selbst versieht dies in seiner Ambivalenz jedoch mit einem Fragezeichen, wenn er schreibt: „Wenn ich könnte, so würde ich ihn [den Juden] niederstrecken und in meinem Zorn mit dem Schwert durchbohren“. Selbst seinen Wunsch, die Juden zum Christentum bekehren zu wollen, konterkariert er in einer Tischrede (Nr. 1795): „Wenn ich einen Juden taufe, will ich ihn an die Elbbrücke führen, einen Stein um seinen Hals hängen und ihn hinab stoßen und sagen: Ich taufe dich im Namen Abrahams“.

Es würde sicherlich zu weit gehen, Luther einen Rassismus im Sinne der nationalsozialistischen Rassenideologie zu unterstellen. Luther sah die Juden nicht als minderwertige „Untermenschen“ aber im theologischen Sinne schon als (von Gott) „verdammtes Volk“. Das Insistieren auf der Einschätzung, Luthers Judenfeindschaft sei nicht rassistisch, sondern theologisch begründet, ist dann aber umso schlimmer für die Theologie.

Haben Nazis den „späten Luther“ missbraucht?

Haben Nazis die Schriften des „späten Luther“ missbraucht, wie es von evangelischer Seite behauptet wird? Wenn Missbrauch im Sinne von „falsch gebrauchen“ verwendet wird, muss dem ganz eindeutig widersprochen werden: Luthers treuer Rat wurde von den Nationalsozialisten nicht missbraucht, sondern de facto eins zu eins umgesetzt, im Sinne Luthers also „richtig gebraucht“. Während der Nürnberger Prozesse gegen die NS-Kriegsverbrecher 1946, bemerkte der Herausgeber des antisemitischen Hetzblattes „Der Stürmer“, Julius Streicher: „Dr. Martin Luther säße heute sicher an meiner Stelle auf der Anklagebank, wenn dieses Buch [Von den Jüden und iren Lügen] in Betracht gezogen würde.“ Man gibt einem Nazi-Schergen wie Julius Streicher nur widerwillig recht, aber virtuell war Martin Luther bei den Nürnberger Prozessen sicherlich nicht völlig abwesend.

Was bedeutet dies alles nun für eine Einschätzung des „vollständigen Luther“? Der 1938 in die USA emigrierte Literatur-Nobelpreisträger und Protestant Thomas Mann bekannte 1945 in seiner Rede „Deutschland und die Deutschen“ über „Martin Luther, eine riesenhafte Inkarnation deutschen Wesens“: „Ich liebe ihn nicht, das gestehe ich ganz offen“ und beschrieb ihn an anderer Stelle (8) als „schimpffroh, zanksüchtig, ein mächtiger Hasser, zum Blutvergießen von ganzem Herzen bereit“. Dem gegenüber steht eine bedingungslos anmutende Verehrung Luthers innerhalb der evangelischen Christen. Eine Verehrung, die bezweifeln lässt, ob diese Christen (in Deutschland gibt es zur Zeit ca. 24 Millionen Protestanten) in ihrer überwiegenden Mehrheit den „vollständigen Luther“ und nicht viel mehr nur den „zensierten Luther“ kennen.

Der „zensierte Luther“

Diese Bewunderung Luthers wird auch sichtbar in hunderten von Lutherstraßen, - plätzen, -gassen in deutschen Städten. Wenn die Grundlage dieser Verehrung nur unter Ausblendung seiner Judenfeindschaft zu verstehen ist, so kann man mit Recht von „Verblendung“ sprechen, eine Verblendung, die denjenigen anzulasten ist, die über den „späten Luther“ zwar informiert sind, ihn aber bewusst verschweigen oder verharmlosen. Ist dies überhaupt ethisch verantwortbar? Ist dies nicht eine Feigheit vor der Wahrheit?

Im Mai 2005 fanden Bürger der „Lutherstadt“ Wittenberg ein angebliches NPD-Flugblatt mit dem Titel „Luther - groszer Ideengeber für die nationale und soziale Jugend“ in ihren Briefkästen. Auch wenn sich die rechtsradikale NPD von diesem Flugblatt distanzierte, so wird an diesem Beispiel deutlich, wie der „späte Luther“ von rechtsradikalen Strömungen für deren Zwecke auch heute noch vereinnahmt werden kann. Hier lastet eine besondere Verantwortung auf der EKD. Luther hat einen tiefen Abgrund hinterlassen und die EKD versucht diesen mit einem dünnen Tuch zu verdecken, anstatt ihn mit einem soliden Geländer einzuzäunen, um der Gefahr eines Absturzes vorzubeugen.

Man kann einen Menschen nicht nur in Teilen verehren. Luther zu verehren heißt immer, ob gewollt oder ungewollt, den „vollständigen Luther“ zu bewundern und seine Judenfeindschaft als Rechtfertigungspotential für Antisemitismus aufrechtzuerhalten. Die evangelischen Christen stecken hier in einem unauflösbaren Dilemma. Aber nicht hinter vorgehaltener Hand verbergen und verdrängen ist hier angesagt, sondern offen und öffentlich verarbeiten! Der bisherige Verlauf der Lutherdekade erweckt jedoch nicht den Eindruck, dass die EKD an einer öffentlichen Verarbeitung von „Luthers beschämenden Aussagen zu den Juden“ wirklich interessiert ist.

Literatur

(1) Karl Gerhard Steck, Luther, Fischer Bücherei 1959, S. 27
(2) Thomas Hauzenberger, Luthers Antijudaismus, Ludwig-Maximilians-Universität München, Institut für Neuere und Neueste Geschichte, Proseminar WS 1993/94: Martin Luther, Werke, Abt. I, Bd. 51, Weimarer Ausgabe, 1914, S. 195
(3) Christoph Höpfner, Martin Luther – Wegbereiter des Antisemitismus?, GRIN-Verlag 2006, S. 10/11
(4) Dietrich Eckart: „Zwiegespräche zwischen Adolf Hitler und mir“, München 1924, S. 24
(5) „Als die Synagogen brannten“, Die Reichspogromnacht 1938 im Kreis Bergstaße, Arbeitskreis Zwingenberger Synagoge e.V., 2011
(6) Wikipedia: Schuldbekenntnis der EKD
(7) Karl Jaspers, Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, Piper München 1962, S. 90
(8) Bernd Hamacher, Thomas Manns letzter Werkplan „Luthers Hochzeit“, Frankfurt 1996, S. 75