Interview mit Helmut Ortner in der portugiesischen Tageszeitung "Diário de Notícias"

"Der Staat darf nicht zum Henker werden"

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Helmut Ortner
Helmut Ortner

Helmut Ortner hat ein Buch über die Geschichte der Todesstrafe geschrieben. Ein kenntnisreiches, aufklärendes Buch über eine globale Wirklichkeit, die keineswegs der Vergangenheit angehört. Das Buch erschien jüngst in portugiesischer Übersetzung. Anlässlich dessen führte die portugiesische Wochenzeitung Diário de Notícias ein Interview mit dem Autor, das der hpd hier nachveröffentlicht.

Herr Ortner, Sie schreiben in Ihrem Buch, dass es keine Argumente für die Todesstrafe gibt. Dennoch gibt es selbst in Europa immer wieder Forderungen nach der Todesstrafe. Wie erklären Sie sich das?

Helmut Ortner: Nach spektakulären Verbrechen wird immer wieder der Ruf nach der Todesstrafe laut. Es entlädt sich gewissermaßen der Volkszorn. Dabei handelt es sich um einen Rachereflex, verbunden mit dem Glauben, das Böse damit aus der Welt schaffen zu können... Unsere Rechtskultur ist immun gegen solche populistischen Forderungen. Die Todesstrafe ist in EU-Ländern abgeschafft. Ihre Wiedereinführung steht nicht zu erwarten.

Wüssten Sie irgendein Argument zu nennen, das die Todesstrafe rechtfertigen könnte?

Nein, es gibt keine Rechtfertigung, aber gute Gründe, sie abzulehnen: Die Todesstrafe ist eine unmenschliche Form der Bestrafung. Die Wirksamkeit ihrer Abschreckung ist nicht nachgewiesen. Und sie wird von fehlbaren Menschen verhängt. Fehlurteile sind nicht auszuschließen, was bedeuten kann, dass unschuldige Menschen hingerichtet werden. Ein Staat kann einen Mord nicht ahnden, indem er selbst zum Mörder wird.

Sie dokumentieren eindringlich in ihrem Buch, mit welchen humanitären Ansprüchen die Geschichte hindurch nach immer neuen Tötungsmethoden gesucht wurde. Meinten die Betreffenden wirklich, im Dienst der Humanität zu handeln?

Der Glaube, etwas "Humanes" zu tun, war die bestimmende Motivation jeder neuen Entwicklung. Erste Überlegungen zur "Humanisierung" der Todesstrafe gab es Ende des 18. Jahrhunderts. Als der Arzt Joseph-Ignace Guillotin der französischen Nationalversammlung ein Fallbeil – "die Guillotine" – vorschlug, die in Frankreich als Hinrichtungsmethode festgelegt wurde, betrachtete man das als eine "Humanisierung" der Todesstrafe. Das Prinzip der "Gleichheit vor dem Tode" und die zuverlässige Tötung galten als humaner Fortschritt. So ist die Geschichte staatlichen Tötens immer auch eine – wenn auch ambivalente – gesellschaftliche Reformgeschichte. Vom Steinigen über den Galgen, vom Erschießen bis hin zur heutigen Giftspritze.

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In den USA wird der Vollzug der Todesstrafe durch eine Giftspritze als "saubere" und also "humane" Hinrichtungsart angesehen. Eine zweifelhafte "Humanität"…

Die Technologie des 21. Jahrhunderts hat Hinrichtungen "effizienter" und "hygienischer" gemacht. Schlichte, funktionale Hinrichtungsräume – verwaltungsmäßig geplant und betrieben. Die Hände derjenigen, die den Schalter umlegen, damit die Falltür sich öffnet oder das tödliche Gift in die Venen fließt, bleiben sauber. Die biblische Losung "Auge um Auge, Zahn um Zahn" wird nicht wie in primitiven Stammeskulturen schmerzvoll, stinkend und laut, sondern durch eine Distanz-Technologie anonym, steril und lautlos umgesetzt. Im Januar wurde im US-Bundesstaat ein zum Tode verurteilter Mensch erstmals mit Stickstoff exekutiert. Bei der Prozedur bekommt der Betroffene über eine Gesichtsmaske Stickstoff zugeführt – die Folge ist der Tod durch Sauerstoffmangel. Alle Versuche der Anwälte des Mannes, die Exekution aufzuhalten, waren erfolglos.

In den USA wird die Todesstrafe bisher vor allem mit der Giftspritze vollzogen… Sie schreiben in ihrem Buch von einem "stillschweigenden Einverständnis der Mehrheit der Bürger mit dem System des staatlichen Tötens".

Der Anteil der US-Bevölkerung, der die Todesstrafe befürwortet, ist zwar seit Jahren konstant rückläufig. Immerhin 37 der 50 Bundesstaaten haben die Todesstrafe inzwischen abgeschafft oder diese seit mehr als zehn Jahren nicht mehr vollzogen. Doch vor allem in den südlichen US-Staaten kann niemand Gouverneur werden, der öffentlich die Abschaffung der Todesstrafe fordert. Auch die Mehrheit der Republikaner ist nach wie vor glühender Verfechter der Todesstrafe.

"Ein Staat kann einen Mord nicht ahnden, indem er selbst zum Mörder wird."

Sie verweisen darauf, dass die Todesstrafe weltweit vorwiegend in Prozessen verhängt wird, die nicht internationalen Rechtsstandards entsprechen. Ist die Todesstrafe auch ein Indiz für eine zweifelhafte Rechtsprechung?

In Diktaturen und Autokratien ist sie häufig Bestandteil der Strafjustiz. Nicht nur in Mordfällen kommt die Todesstrafe zur Anwendung, auch politische Oppositionelle, ja "Gotteslästerer" und Ungläubige werden hingerichtet. In China, Saudi-Arabien, im Iran und Pakistan – in allen diesen Ländern wird die Todesstrafe vollzogen. Doch auch Demokratie und Todesstrafe schließen einander nicht aus. Neben den USA wird in Japan und Indien die Todesstrafe vollstreckt.

Albert Camus verwies in seinen "Betrachtungen zur Todesstrafe" auf den Spruch, den das Schwert des Scharfrichters von Fribourg trug: "Herr Jesus, du bist der Richter." Wie sehen Sie den Zusammenhang zwischen Religion und Todesstrafe?

Jahrhundertelang wurde in höherem Auftrag "von Gottes Hand" gefoltert und getötet. Religiöse Eiferer vollstreckten auf Weisung ihrer Führer die grausamsten Urteile. Denken Sie an die Inquisitionsprozesse und die Hexenverbrennungen. In beinahe allen Religionen gab es für Nichtgläubige und Abtrünnige drakonische Strafen bis hin zu rituellen Tötungen. In der muslimischen Welt gibt es bis heute die Scharia – und es werden Menschen hingerichtet im Namen Allahs.

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Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International glaubt, in keinem Land der Welt wird häufiger die Todesstrafe vollstreckt als in China. Wie schätzen Sie die Lage dort ein?

Angaben zur Todesstrafe werden dort als Staatsgeheimnis behandelt. Tatsache ist: in China werden mehr Menschen hingerichtet als im Rest der Welt zusammen. Es gibt keinerlei rechtsstaatliche Verfahren. Keineswegs nur in China, auch in zahlreichen Ländern, dem Irak, dem Iran, in Nordkorea und Saudi-Arabien – also in jenen Ländern, in denen die meisten Hinrichtungen stattfinden. Tatsache ist auch: Die meisten Exekutionen im Nahen Osten und in der Region Nordafrika werden explizit mit "staatsfeindlichen Verbrechen" begründet. Einige Staaten haben ihren Strafkatalog für Straftaten im "terroristischen, staatsfeindlichen" Kontext erweitert, was die Todesstrafe bedeuten kann. Selbst jugendliche Straftäterinnen und Straftäter unter 18 Jahren können angeklagt und verurteilt werden. Der Staat wird zum Henker.

Geht der weltweite Trend in Richtung Abschaffung der Todesstrafe? Gibt es Hoffnung?

Der globale Trend zur Abschaffung der Todesstrafe setzt sich fort. Immerhin haben 112 Länder die Todesstrafe für alle Straftaten aus ihrem Recht getilgt. Hinzu kommen weitere neun Länder, die Todesstrafen nur noch bei "besonderen Staatsverbrechen", nicht aber mehr bei gewöhnlichen Verbrechen vollstrecken. Andererseits – und das zeigen die Hinrichtungen etwa in den USA: "das Böse" gerichtet und hingerichtet zu wissen, befriedigt noch immer eine Melange aus Rache und Sühnebedürfnis. Nicht nur in den USA, sondern weltweit.

Helmut Ortner, Ohne Gnade – Eine Geschichte der Todesstrafe, Nomen Verlag, 230 Seiten, 22 Euro

Nachdruck mit freundlicher Genehmigung von Helmut Ortner.

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