OBERWESEL. (hpd) Einer breiten Öffentlichkeit wurde Hamed Abdel-Samad schon durch sein Buch „Abschied vom Himmel“ bekannt und mit Henryk M. Broder drehte er die ARD-Fernsehserie Entweder Broder. In der ersten Veranstaltung am neuen Sitz der Giordano-Bruno-Stiftung referierte der ägyptische Politikwissenschaftler am vergangenen Sonntag emotional, sachlich und überaus kompetent über „Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens“.
Bevor er begann, eine der drängendsten Fragen der heutigen Zeit zu thematisieren, wies Abdel-Samad die zahlreichen Zuhörer darauf hin, dass sie an so einem schönen Tag auch lieber am Rhein hätten spazieren gehen können, "als einem Ägypter zuzuhören, der Ihnen etwas vorlabert über Revolution“.
Die zahlreichen Zuhörer zogen es vor, zu bleiben und dem „Gelaber“ des sympathischen Redners zu lauschen.
Die "globale Tektonik" sei in Bewegung, die Zeiten sehr bewegt. In der Tat seien die globalen Erschütterungen mit jenen der Jahre 1968 und 1989 zu vergleichen und 2011 würde vielleicht als das Jahr (nicht nur als der Frühlings) der arabischen Revolution in die Geschichte eingehen.
Vor 16 Jahren verließ Abdel-Samad Ägypten, weil er Freiheit wollte, die Uniformierung, die allgegenwärtige Präsenz des Militärs nicht ertrug. Im Januar 2011 erhielt er eine Einladung auf Facebook: „Nimm an der Revolution teil!“ Und so flog er nach Kairo und erwartete vielleicht 2000 bis 3000 Leute, die sich austauschen würden, bis die Polizei sie auseinanderprügelt. Stattdessen erlebte er die größte Umwälzung in der Geschichte des Landes.
Der 39-Jährige erlebte, wie eine junge Frau am Tahrir-Platz besonderen Mut zeigte und, als die anderen (Männer) zurückwichen, allein nach vorne ging: „Leute, es gibt nicht für uns alle Kugeln.“ Er erlebte allerdings auch, wie eine CBS-Reporterin auf demselben Tahrir-Platz brutal vergewaltigt wurde.
Neu ist die Politisierung
Eine junge Generation wächst heran, die anders leben will, aber keine Strukturen vorfindet, wie man anders leben kann. Der Grund sind nicht nur Armut und Unterdrückung, eher im Gegenteil. Die jungen Menschen haben mehr Geld als ihre Eltern. Neu ist ihre Politisierung: früher erlebte man die Misere als Willen Gottes. Heute erleben junge Menschen ihr Schicksal als Ungerechtigkeit und wehren sich.
Drei Jahrhunderte lang verhinderte die arabische Welt den Buchdruck – aus Angst, der Koran könne falsch wiedergegeben werden. Die Angst, dass die Mythen zerfallen, ist sehr groß. Heute ist es das Internet, das für junge Menschen in der arabischen Welt neue Fenster eröffnet. Er, Hamed Abdel-Samad, sei mit 39 Jahren „alt“. Die Mehrheit der Ägypter ist unter 30. Sie nutzen die neuen Medien. Das Internet hat das Wissensmonopol gebrochen: Auf YouTube gucken sich junge Leute Videos aus anderen Ländern an. Das Wissen um die Möglichkeit, wie in anderen Ländern einen Präsidenten zu wählen und abzuwählen, wie beispielsweise Obama in den USA, statt wie in Ägypten 30 Jahre denselben Präsidenten zu haben, bringt die Leute zum Denken.
Jetzt herrscht viel Chaos und Gewalt, und damit die klassische Phase der Konterrevolution, während der sich die alten Kräfte an die Macht klammern. Revolutionen verlaufen nicht überall positiv: 1989/90 stellten sich in Usbekistan und in Weißrussland irgendwann die alten Strukturen wieder ein.
Wie etabliert man eine Demokratie?
In Kairo ging es während einer Diskussion darum, wie man eine Demokratie etablieren könne. Welche Rolle sollte Religion in einer Demokratie spielen? Der Konsens war, dass Religion mitgestalten sollte – für Hamed Abdel-Samad stellt das ein Problem dar. Denn Freiheit und Demokratie mussten in der Regel gegen Religion erkämpft werden. Aus einer Position der Macht heraus lässt eine Religion keine Demokratie zu. Die Scharia ist ein trojanisches Pferd, das den gesamten Prozess unterwandern kann.
Andererseits wäre die Regierungsbildung durch Islamisten eine Falle für diese, weil ihre Widersprüche so deutlich würden. Auf der Wahlliste der Salafisten gab es acht Männer und eine Frau. Die Männer waren mit Foto auf der Liste, anstelle eines Fotos der Frau war jedoch lediglich eine Blume abgebildet. - Nicht einmal ihr Name stand dort, sondern der Name ihres Ehemannes. Sie hätte im Parlament (von französisch parler, reden!) auch nicht reden dürfen, weil Frauen bekanntermaßen in der islamischen Öffentlichkeit nicht sprechen dürfen. Darüber lachen die Ägypter und fallen nicht mehr darauf herein.
Es gibt allerdings keine Alternativen, die Diktatur hat das verhindert. Die meisten Oppositionellen sind im Exil. Die Islamisten durften im Land bleiben und scheinen somit die einzige Alternative zu sein. Sechzig Prozent der Wähler haben aber nicht die Islamisten gewählt – und viele, die sie wählten, sind selbst keine, sahen aber keine Alternative.
Moderaten Islamismus gibt es nicht. Ein Islamist glaubt, dass Gott die Gesetze macht. Eine Demokratie geht aber davon aus, dass Gesetze unter gleichberechtigten Menschen ausgehandelt werden.
Elf Monate nach Ausbruch der Revolution kann man nicht davon ausgehen, dass der Prozess abgeschlossen ist. Die Demokratisierung hat in Europa auch 500 Jahre gebraucht. Europa hat wegen der Finanzkrise und anderer eigener Probleme jetzt keine Zeit, sich um Nordafrika zu kümmern. Über kurz oder lang werden aber Umweltprobleme Nordafrika zu schaffen machen. Es gibt zu wenig Wasser und zu wenig Essen für alle Menschen.
Gemeinsame Interessen bringen Völker zusammen
Problematisch sind die Erdölländer. Saudi-Arabien ist eines der gefährlichsten Länder der Erde. Saudi-Arabien finanziert die Salafisten in Ägypten, die mit dem Geld von armen Ägyptern Stimmen kaufen, für jeweils 50 Pfund (acht Euro). Leider gilt Brechts: „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“, selbst wenn sich die Ärmsten mit der Stimmabgabe letztlich ins eigene Fleisch schneiden.
Bei Anflügen von Hoffnungslosigkeit denkt Abdel-Samad an die fröhlichen Gesichter der mutigen Frauen und Männer auf dem Tahrir-Platz. Vielleicht kehrt doch Vernunft ein. Dazu bedarf es aber einer radikalen Veränderung im Denken gegenüber der Religion. Es braucht Mut, gegen die Geisteshaltung vorzugehen, die die Diktatur ermöglichte, sie aus den Köpfen, aus den Schulbüchern, aus den Familienstrukturen zu entfernen.
Es ist "wie bei Mülltonnen, die über Jahrzehnte geschlossen waren – wenn man sie jetzt öffnet, darf man sich nicht wundern, wenn es stinkt." Das muss man aushalten. Man dürfe nicht die "neuen Häuser auf den Trümmern der alten bauen": Demokratie bedeute, eine neue Basis zu schaffen. Dabei wird viel Zeit vergehen. Es werden viele Opfer fallen, das ist nicht zu vermeiden. Der Umbruch bietet Chancen, kann aber auch zum Zusammenbruch führen, mit fatalen Konsequenzen, auch für Europa.
In der anschließenden Diskussion erklärte der Redner, weshalb er selbst nicht in die Politik zu gehen gedenkt, obwohl er bereits mehrere Anfragen erhielt. Die Islamisten sollten zuerst regieren, um sich so in Widersprüche zu verstricken, die für alle deutlich werden. Der Islam besteht aus Sexualfeindlichkeit. Da Ägypten und Tunesien im Gegensatz zum Iran etwa auf Tourismus angewiesen sind, müssen sie ihre Sexualfeindlichkeit aber beiseite legen, um Touristen ins Land locken zu können. Das ist eine Falle, in die eine solche Regierung gehen muss.
Das, was die Völker zusammengebracht hat, beispielsweise Deutschland und Frankreich, waren nicht die abrahamitischen Religionen, sondern gemeinsame Interessen. Europa und die arabischen Länder sollten sich aufeinander zu bewegen, voneinander lernen. Israel und die arabischen Länder ebenfalls.
Fiona Lorenz