In der individuellen Lebensgestaltung gehe es aber nicht nur darum, dem beliebigen nächsten Genusserlebnis nachzujagen, vielmehr muss die Vernunft hier die „Dienerin der Leidenschaften“ sein (David Hume). Durch eine Folgenabschätzung seines Handelns muss der Hedonist sich auch bemühen, künftiges Leid zu vermeiden und versuchen, sein Erleben zu optimieren.
Als den zentralen Unterschied zwischen Aristioppos‘ und Epikurs Lehren zeigte der Referent auf, wie Ersterer die konkrete sinnliche Lust fokussierte, Epikur aber eher Schmerzlosigkeit und Gemütsruhe anstrebte. Letzteres wurde als „Moral für lebende Leichen“ kritisiert.
Ich vermute, die Unterschiede zwischen diesen beiden Philosophen sind durch Unterschiede im Temperament und gesundheitlicher Verfassung bedingt. Epikur war offenkundig von beiden der kränklichere.
Aristippos hinterfragte auch die Vorstellung des sexuellen Privateigentums, wie sein freimütiges Verhältnis zur Hetäre Lais‘ zeigt. In seinem Manifest hat Professor Kanitscheider sogar die Frage aufgeworfen, ob die Aufteilung des Sexuallebens beider Partner auf eine gemeinsame Hauptbeziehung und gelegentliche koexistierende Seiten- und Nebenbeziehungen nicht eher den biologischen Engrammen des Menschen entspricht?
Nach einem Schattendasein in christlich-mittelalterlicher Zeit sind in der Neuzeit wieder hedonistische Denkansätze formuliert worden. Beispiele hierfür sind unter anderem die Utilitaristen und Bertrand Russel. Und natürlich Schmidt-Salomon und Kanitscheider selbst.
In der Frage danach, welche Empfehlungen man als Hedonist einem Menschen geben könne, der durch Krankheit oder Gefangenschaft unter elendsten Bedingungen existieren muss, ohne dass Aussicht auf Besserung besteht, verneinte der Referent die Möglichkeit hedonistischer Empfehlungen.
Hier muss ich widersprechen: Da zum Hedonismus auch die Minimierung von Schmerz gehört, ist in aussichtsloser Lage notfalls der Freitod die plausible Alternative. Kanitscheider sprach während des Vortrags auch von dieser Option. Einem Menschen, der widerrechtlich seiner Freiheit beraubt ist und „nichts zu verlieren hat als seine Ketten“ (Marx), kann man immer noch empfehlen, notfalls äußerstes Risiko einzugehen, um sich die Freiheit zu erkämpfen. Und nicht selten ist es auch hedonistisch befriedigend, hierbei zu helfen. Dies haben sicher nicht wenige west-alliierte Soldaten 1944/45 in den befreiten Ländern Westeuropas so empfunden?
Die Stärke von Kanitscheiders Persönlichkeit zeigte sich bei den Fragen aus dem Publikum. Sicher, bisher hatten alle Referenten hierbei ihr Stehvermögen bewiesen. Diesmal erinnerte der Referent ausgerechnet den gewohnheitsmäßig schwierigsten Fragensteller daran, seine vorher angekündigte offenkundig vergessene zweite Frage zu stellen! Dies verursachte so manches Schmunzeln.
Am Ende erhielt der Gießener Philosoph noch ein wunderschönes Statement von einem sehr jungen Besucher: „Ich möchte nichts fragen, sondern mich nur bedanken. Ich bin in einer christlich-fundamentalistischen Sekte aufgewachsen. Dort war „Hedonismus“ nur ein Schimpfwort. Ich habe heute richtig viel gelernt und dafür sage ich: Vielen Dank!“
Während der anschließenden geselligen Runde berichtete der Professor unter anderem von seiner Prägung durch die analytische Philosophie und seiner Begegnung mit Karl Popper. In Bezug auf die religiöse Erziehung ihrer Kinder hielt es die Familie Kanitscheider so, dass diese zwar den Religionsunterricht erhielten, aber auch die Gegenlektüre zur Verfügung gestellt bekamen. Von besonderer Bedeutung war hierbei Bertrand Russells (1872-1970) Warum ich kein Christ bin.
Nächstes Monatstreffen der Säkularen Humanisten Rhein-Main: 08.12.2011 - 19.00 Uhr - im Restaurant des Saalbau Bornheim (Pilsstube). Interessierte sind jederzeit willkommen. Weiteres unter www.saekulare-humanisten.de.