Ethik aus Individualität und Freiheit

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Veranstaltungsplakat

MANNHEIM. (hpd) Am vergangenen Samstag referierte Prof. Dr. Bernulf Kanitscheider auf Einladung der Säkularen Humanisten Rhein-Neckar im Dalberghaus zum Thema: „Hedonismus – eine Ethik aus Individualität und Freiheit.“ Gleichzeitig war es eine erfolgreiche Zusammenarbeit von fünf Organisationen aus dem säkularen Spektrum in Baden-Württemberg.

Bericht von Reinhold Schlotz

Der Vortrag war die Auftaktveranstaltung der Säkularen Humanisten GBS Rhein-Neckar e.V. –Regionalgruppe des Förderkreises der Giordano Bruno Stiftung am 19. März 2011 in Zusammenarbeit mit dem Bund für Geistesfreiheit Heidelberg, Internationalem Bund der Konfessionslosen und Atheisten e.V. IBKA, Humanistischem Verband Baden-Württemberg HVD BA-WÜ und GWUP-Die Skeptiker. Dozent war Prof. Dr. Bernulf Kanitscheider, von 1974 bis 2007 Lehrstuhlinhaber am Zentrum für Philosophie und Grundlagen der Wissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen.

In einer Diskussion über die ethischen Grundlagen unserer Gesellschaft werden von konservativer, traditionalistischer Seite immer deren christlich-abendländische Wurzeln betont und als konkurrenzloses System hochmoralischer, sittlicher Normen dargestellt. In diesem Diskurs greift Prof. Kanitscheider das Thema der hedonistischen Ethik auf, die bereits vor der Ära des Christentums in der griechischen Antike entwickelt wurde und heute so „modern wie nie zuvor“ ist.

Der Begriff Hedonismus stammt vom griechischen hēdonē ab und bedeutet Freude, Vergnügen, Lust, Genuss, sinnliche Begierde, ist aber nicht auf Sexualität begrenzt.

Prof. Kanitscheider beschreibt Inhalt und Bedeutung einer hedonistischen Ethik in einem historischen Abriß von der griechischen Antike bis in unsere moderne Zeit:

Demokrit (460-370 v.d.Z.), dem Begründer des Atomismus, wird folgender Satz zugeschrieben: „Das Beste für den Menschen ist es, sich so viel wie möglich zu freuen und so wenig wie möglich zu betrüben." Dies ist noch keine Ethik, aber immerhin schon ein Hinweis, worauf sich eine Ethik entwickeln ließe. Der eigentliche Begründer der hedonistischen Strömung war dann auch nicht Demokrit, sondern Aristippos von Kyrene (435-355 v.d.Z.), von dem wir allerdings keine direkten schriftlichen Überlieferungen haben. Aristippos hat der körperlichen Lust den obersten Wert zugeschrieben, wobei das Erstrebenswerte bei ihm nicht die andauernde Glückseligkeit, sondern das momentane, punktuelle Empfinden war. Die Begründung für eine lustbezogene Haltung lieferte erstmals Eudoxos von Knidos (397-338 v.d.Z.) mit dem Hinweis darauf, dass alle Lebewesen, einschließlich der Mensch, versuchen Schmerz zu vermeiden und die Lust anzustreben. Dies ist eine anthropologische Konstante, die alleine aber noch keine Ethik begründet. Man kann dieses Faktum aber als Basis für eine Normierung verwenden, was die hedonistischen Philosophen dann auch getan haben. Den Wunsch, die angenehmen Gefühle den unangenehmen vorzuziehen, erschien Eudoxos allerdings als nicht begründungsbedürftig. Auch Platon stimmte damit überein: „und weiter zu fragen bedarf es nicht, weshalb denn der glücklich sein will, der es will, sondern die Antwort scheint vollendet zu sein“. Aristippos weist darauf hin, dass es auch Situationen gibt, in denen man um einer Empfindung willen auf etwas verzichten muss, das sonst nicht erreichbar wäre. Er erkennt auch, dass aus der Natürlichkeit des Luststrebens deren Erhebung zur normativen Leitlinie nicht ableitbar ist, aber: „Wenn man die Lust zur ethischen Norm erhebt, werden nur Verbote für lustvolle Tätigkeiten begründungsbedürftig, d.h. Restriktionen des individuellen Luststrebens sind legitimationspflichtig. Das Individuum muss weder begründen noch verteidigen, warum es nach Dingen strebt, die ihm Freude bringen. Niemand muss sich rechtfertigen, dass er ein gutes vergnügliches Leben führen will“.

Vergnügen mit Besonnenheit und Zurückhaltung

Der Hedonismus ist allerdings ohne den komplementären Begriff der Phrónesis (Vernunft, Denken, Analysieren) nicht zu verstehen. „Die Folgen jeder Handlung müssen bedacht werden, da ein blindes Ausleben der Strebungen ins Unglück führen kann. Dazu hat der Mensch den Verstand, Phróneo, von der Natur mitbekommen. Damit wird der Hedonismus mit einer folgeorientierten Handlungsstrategie verbunden (Konsequenzialismus)“. Nach Aristippos vergnügt sich der lebenskluge Weise so, dass er die Besonnenheit nicht verliert.

Der wichtigste Vertreter des Hedonismus war Epikur (341-270 v.d.Z.), der den Begriff der hēdonē 50 bis 80 Jahre nach Aristippos in Richtung eines ausgeglichenen Zustands der Zufriedenheit ohne die extremen Pole von Freude und Schmerz verschiebt (katastemische Lust). Für Epikur war der eigentlich erstrebenswerte Zustand eine statische, schmerzfreie Befindlichkeit, eine Gemütsruhe, Ausgeglichenheit und Seelenruhe (Ataraxía). Epikur sah noch stärker als Aritippos ein, dass man mitunter Zurückhaltung üben muss, um den Weg zu größeren Freuden nicht zu verbauen. Es gibt so etwas wie ein „Paradoxon der Lust: Obwohl sie immer erstrebenswert ist, darf sie nicht immer angestrebt werden. Dies wird auch als „negative Hedonismus“ bezeichnet, weil der Überschwang der Gefühle gebremst und damit Aktivität und Spontaneität aus dem Lustbegriff entfernt werden“. Die negative Bestimmung des Hedonismus kann man z.B. auch als das Fehlen von Hunger, Durst, Trauer, Einsamkeit beschreiben. Dies drängt den Hedonismus in die Nähe einer asketischen Selbstgenügsamkeit. Es geht bei Epikur in Richtung auf das stoische Ideal, unempfindlich gegen Schicksalsschläge zu werden. Der griechische Theologe Clemens von Alexandria (150-215) spottete darüber: „Die katastemische Lust ist eine Beschreibung des Befindens lebendiger Leichen“.

Epikurs Philosophie hatte jedoch eine weitere wichtige ausgeprägte Komponente: den Naturalismus, den er von Demokrit übernommen hatte. Nach Epikur „ist es nicht möglich, sich von der Furcht hinsichtlich der wichtigsten Lebensfragen zu befreien, wenn man nicht Bescheid weiß über die Natur des Weltalls, sondern sich nur in Mutmaßungen mythischen Charakters bewegt“. Wichtig für die Ethik ist, „daß es nicht möglich ist, ohne Naturerkenntnis zu unverfälschten Lustempfindungen zu kommen“. Epikur plädiert für eine Demystifikation von Natur und Mensch:

  • Naturphänomene haben keine magische Dimension (z.B. Kometen)
  • Ethik setzt Wissen vom wertsetzenden Organ voraus
  • Seelische Regungen wie Lustempfindungen sind körperliche Vorgänge.

Die hedonistische Ethik gründet damit auf einem Naturalismus in der „Kenntnis vom natürlichen Ort und dem Ursprung der Wertvorstellungen“.

Mit dieser naturalistischen Sichtweise formuliert Epikur das Interaktionsargument gegen den Leib-Seele-Dualismus: „wer also die Seele für unkörperlich erklärt, der redet ins Blaue hinein. Denn wäre die Seele von dieser Art, so könnte sie überhaupt weder wirken noch leiden. Tatsächlich aber finden diese Vorgänge bei der Seele statt“. In seiner monistischen Seelenlehre sind diese Wechselwirkungen verständlich, denn psychische Systeme sind Teilsysteme des Körpers und mit ihm verbunden. Für Epikur folgt daraus ganz klar: es gibt keine unsterbliche Seele (was für die spätere christliche Lehre völlig inakzeptabel war). Ohne eine unsterbliche Seele folgt die Einmaligkeit unserer Existenz!

Keine Paranoiker als Staatslenker

Zur hedonistischen Ethik kommt ein weiteres Moment hinzu: die Selbstsorge und sorgfältige Verwaltung des eigenen Ich: Erst sorgt man für Ordnung im eigenen Haus und kann sich erst dann der Gemeinschaft (Polis) widmen. Auch Platon stimmt hiermit überein, indem er fordert: „keine verantwortliche Position im Staat für den, der mit sich selbst nicht zurecht kommt“, d.h. kein Paranoiker als Staatslenker (aktuelles Beispiel: Muammar al-Gaddafi).